Archiv für die Kategorie 'Herr Leopold'

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 29. März 2016

Notizen und Aufzeichnungen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet28. August
Theophilus hat sich nach dem Unfall sehr gut erholt. Bereits heute war er munter und fidel.

30. August
Gestern ist er abgereist. Frau Elsbeth und Erwin versuchen, mich aufzuheitern. Ein netter Versuch. Ein schwacher Trost.


1. September

Die Kornkreiswiese und der Höllenwald: weg. Abgeholzt, niedergemäht. Zinnien, Korn- und Mohnblumen, Wicken, Steinklee, alles weg. Lediglich ein paar Sonnenblumen halten noch wacker die Stellung.

10. September
Ein Tag zum Mäusemelken. Es regnet ohne Ende. Die vom Sommer ermatteten und wie Papier knisternden Malvenblätter sehen aus wie schmutziges Papiermaché, das jemand an die Stängel geklebt hat.

12. November
Ich rieche den kommenden Schnee.

15. November
Ich werde ans Meer fahren. Ans richtige Meer!

***
Hier enden die Eintragungen von Herrn Leopold.

Abschließend eine editorische Notiz von Petra Öllinger

Die Serie „Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger“ versammelt Herrn Leopolds sämtliche Aufzeichnungen, die er von April bis November zu Papier brachte. Die Eintragungen erfolgten in unregelmäßigen Abständen. Täglichen Aufzeichnungen folgten Pausen von mehreren Tagen, oft sogar von ein, zwei Wochen.

Weitere Tagebücher, Notizen, Briefe, Postkarten usw. konnten in der Wohnung von Herrn Leopold nicht gefunden werden. Es ist möglich, dass sich diese Quellen an anderen Stellen befinden, die allerdings bis dato weder von Theophilus Makadamia noch von mir gefunden wurden und somit dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Die Übersetzung spezieller Begriffe aus dem Mausischen – zum Beispiel für Bierkäse – wurden dem Wörterbuch „Was sagt die Maus? Übersetzen für Fortgeschrittene“ von Professorin Doktorin Mechthild Scheiblett entnommen. Die Orthografie sowie die Interpunktion orientiert sich im übersetzten Text an der Menschensprache. Eine besondere Herausforderung boten jene Stellen, in denen Herr Leopold das Ableben vom Einäugigen Erwin schildert. Einige Zeichen waren an teilweise wichtigen Stellen (befand sich hier ein Knöllchen am Silbenästchen, war ein Silbenbogen kurz, viertel- oder halbkurz gefasst?) zerlaufen. Sie konnten jedoch anhand des übrigen Inhaltes zumindest sinngemäß erschlossen werden.

Theophilus und ich kamen nach längeren Diskussionsprozessen zu dem Entschluss, inhaltliche Leerstellen und Ungereimtheiten in Herrn Leopolds Aufzeichnungen durch Gespräche mit den Hauptnagern so weit als möglich zu klären. Eine weitere Herausforderung stellte die Suche nach dem Einäugigen Erwin dar. Weder kannten Frau Elsbeth noch Theophilus seinen Wohnort, noch fanden sich in Herrn Leopolds Notizen exakte Hinweise darauf. Unsere Vermutung, der Einäugige Erwin müsse im Bereich des ehemaligen Ratzenstadls wohnen (Herrn Leopolds Notizen deuteten dies an einer Stelle kurz an), entpuppte sich als richtig, wobei uns, zugegebenermaßen, auch „Kommissar Zufall“ zu Hilfe gekommen ist.

Der Einäugige Erwin erklärte sich sofort zur Mitarbeit bereit, ebenso Frau Elsbeth. Die Gespräche wurden auf Mausisch geführt. Frau Doktorin Scheiblett unterstützte mich bei der Transkription der aufgezeichneten Gespräche und deren Übersetzung.

Alle Abenteuer finden Sie hier.

Und nun ist wirklich Schluss.

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Mittwoch, 16. März 2016

Notizen und Aufzeichnungen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet27. August

Ich hätte Theophilus niemals von der zersausten Frau und ihrer Harmlosigkeit erzählen dürfen!
Heute am Vormittag schob sie ihren vollgepackten Kinderwagen die Fügergasse entlang. In Windeseile war er auf einen Reifen, dann an einer Stange hochgeklettert und anschließend zwischen braunem und schwarzem Plüsch verschwunden. Ich vernahm noch ein „Juhu!“ aus der Mitte der Bärengruppe, schon war die Frau ums Eck in die Millergasse gebogen. Was dann passierte, jetzt noch zittern mir die Pfoten und flattert mein Herz, war eine Spritztour des Grauens. Der Kinderwagen schlingerte plötzlich führerlos die Gasse hinunter. Und ich raste hinterher. Nicht schon wieder Ärger, dachte ich und verfluchte das Gefälle zwischen Mariahilfer Straße und Wiental, das bewirkte, dass der Kinderwagen an Geschwindigkeit zulegte.
Obwohl er mich zwischen all den Teddybären bestimmt nicht hören konnte, brüllte ich: „Theophilus! Theophilus!“
Wie nur konnte der Wagen gestoppt werden? Der zischte vorbei am Minna-Lachs-Park, vorbei an der großen Platane am Oskar-Werner-Platz. Was folgte, war ein fürchterlicher Knall. Metall schrammte über Plastik. Irgendwo machte es „Ploing“, dann war es mucksmäuschenstill. Atemlos traf ich am Unglücksort ein. Ich schloss die Augen, ich war der Ohnmacht nahe.
Als ich sie wieder öffnete, bot sich ein, nun ja, eigenartiges Bild. Kurz vor der Liniengasse war der Kinderwagen in ein mobiles Klo-Häuschen gedonnert und so zum Stehen gekommen. Die blaue Klotüre war tief eingedellt, der Kinderwagen hatte sein linkes Vorderrad verloren und stand völlig schief. Als ich nach oben blickte, sah ich, wie zwei mir sehr bekannte, behaarte Ohren langsam zwischen den Plüschbären auftauchten. Dann kam ein Kopf zum Vorschein und schließlich zeigte sich der ganze Theophilus. Er stieg, zwar etwas ramponiert, jedoch völlig unverletzt, vom Kinderwagen herab, kletterte über eine Pommes-frites-Gabel, drei originalverpackte Karamellbonbons sowie einen Kugelschreiber mit rosaroten Federn – all das war durch den Aufprall aus dem Korb katapultiert worden –, lächelte seltsam und murmelte: „Hallo, mein Name ist …“
Dann fiel er um.

Nachtrag – 21.33 Uhr: Die Plüschbären dürften beim Aufprall das Schlimmste verhindert haben. Doktor van Keehs schaute am Abend vorbei und meinte, zwei Tage Bettruhe und Theophilus sei wieder fit. Hoffentlich, denn in zwei Tagen muss Theophilus – zu meinem großen Bedauern – wieder nach Hause fahren.

Fortsetzung folg am Dienstag, 29. Mär 2016.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 1. März 2016

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet26. August

Heute in der Früh war die Wohnungstüre blockiert. Ein riesiges Auge füllte den Türrahmen und starrte ins Vorzimmer. Die Äderchen im Augapfel sahen aus wie dicke rote Schnüre. Nachdem sich Theophilus vom ersten Schock erholt hatte, konnte ich ihn nur mit Mühe davon abhalten, dem Auge eins aufs Auge zu geben.
Ich kenne dieses Auge. Es war mittlerweile mehrmals zu Besuch bei mir. Nun, Besuch ist übertrieben. Das Auge hatte hin und wieder einen kurzen Blick in meine gute Stube geworfen. Das Auge gehört der Frau mit dem zersausten Haar. Beinahe täglich schiebt sie einen Kinderwagen, vollgepackt mit ebenso zersausten Teddybären und anderen Seltsamkeiten, vorbei an meiner Haustüre.
„Und das Auge schaut hin und wieder bei dir herein?“, fragte Theophilus, sein zweifelnder Unterton war nicht zu überhören.
Ich versicherte ihm, das Auge, also die Frau sei völlig harmlos. Zugegeben, ich selbst war bei unserer ersten Begegnung – ich erinnere mich sehr gut daran – zu Tode erschrocken. In der Zwischenzeit hat sich allerdings so etwas wie gute Nachbarschaft zwischen uns ergeben. Sie brüllt nie wie am Spieß, wirft nicht mit Dingen nach mir oder sucht das Weite, wenn sie mich sieht.
Theophilus drehte sich um und wollte nochmals in die Pupille schauen, da war das Auge bereits verschwunden.

Porträt von Theophiuls MakadamiaBericht und Ergänzung von Theophilus: Worin Herr Leopold zum ersten Mal der Frau mit den zersausten Haaren begegnet, er gegen sein Prinzip handelt und über eine seltsame Erscheinung in der Wohnungstüre erschrickt.

Ah ja, die Frau mit den zersausten Haaren. Nachdem ich mich von meinem ersten Schrecken – nicht alle Tage trifft man auf ein Auge im Türrahmen – erholt hatte, erzählte mir Onkel Leopold über seine erste Begegnung mit der Frau. Das Erlebnis erschien mir außerordentlich kurios, ich bat Onkel Leopold, seinen Bericht aufzeichnen zu dürfen 1.

Das Gespräch mit Onkel Leopold, transkribiert und übersetzt aus dem Mausischen.

Onkel Leopold: Ich war auf dem Weg vom Malvenhain nach Hause, wollte die Fügergasse überqueren, da saß sie auf der Gehsteigkante neben einer schwarzen Mülltonne. Anscheinend hatte sie deren gesamten Inhalt fein säuberlich neben sich aufgereiht: einen blau gepunkteten Badezimmerteppich, ein Puppenbett, zwei Kochtöpfe, einen Suppenlöffel, fünf Styroportassen und einen Brotkasten aus Holz. Was die Menschen alles wegwerfen! Jeden Gegenstand nahm sie in die Hand, betrachtete ihn von allen Seiten. Was sie brauchen konnte, stopfte sie in den Kinderwagen, der andere Kram wanderte zurück in die Tonne. Sie saß mit gebeugten Rücken zum Eingang meiner Wohnung. Über ihrem Kopf leuchtete das mit roter Farbe auf die Wand gepinselte Wort „ankerbande“.
Wie konnte ich an ihr vorbei, ohne von ihr gesehen zu werden, ohne Gefahr zu laufen, gejagt und vielleicht sogar gefangen zu werden? Ich weiß nicht, wie lange ich sie beobachtete. Da! Plötzlich schaute sie in meine Richtung. Ich erschrak. Was, wenn sie mich auch in ihren Kinderwagen stopfte? Oder, noch schlimmer, in die Mülltonne? So einen Blick habe ich bei Menschen noch nie gesehen, wenn sie meiner ansichtig wurden.
Theophilus: Und du hattest überhaupt keine Angst?
Onkel Leopold: Na, und wie! Schon wollte ich die Flucht ergreifen. Aber bei der Frau: Keine Spur von Furcht oder Ekel, vielmehr lag etwas Fiebriges in ihren Augen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, dann widmete sich die Zersauste wieder dem Müll.
Ich nahm allen Mut zusammen, straffte Ohren und Schnurrhaare, richtete meinen Schwanz pfeilgerade nach hinten und rannte los. Ohne auf den Verkehr zu achten – ich hätte tot sein können, plattgewalzt von einem Auto –, raste ich über die Fügergasse zum Hostel und versteckte mich hinter einem der blaugestrichenen Pflanzentröge, die links und rechts vor dem Eingang stehen.
Theophilus: Die Frau hat dich gar nicht bemerkt?
Onkel Leopold (lacht): Eine gute Frage, Bub. Ich weiß es nicht. Zwar war ich nun aus dem Blickfeld der Frau verschwunden, doch da vernahm ich aufgeregtes Gegacker und Gekichere. Keine Sekunde zu früh konnte ich mich in den Spalt zwischen Trog und Hausmauer quetschen. Menschen traten aus dem Gebäude und blieben vor dem Eingang stehen. Und dann …“
(Eine kurze Pause, ein tiefer Atemzug ist zu hören.) Oh nein, denke ich, hoffentlich hat mich niemand gehört. Ein großer Zeh mit schwarzen Härchen war vor dem Spalt stehengeblieben. Ich wich ein Stück zurück. Würde ich auf der anderen Seite hinausschlüpfen und fliehen können? Doch auch dieser Fluchtweg war blockiert, durch eine weiße Schuhspitze. In meiner Panik fühlte ich den Blumentrog immer näher kommen, sah mich von ihm gegen die Hauswand gepresst und zerquetscht werden. Und dann tat ich, was ich in meinem ganzen Leben noch nie getan hatte.
(Es folgt eine längere Pause. Im Hintergrund ist das Ticken einer Uhr zu hören.) Ich biss zu!
Theophilus (hörbar entsetzt): Du hast zugebissen? Du hast in den Schuh gebissen?
Onkel Leopold: Ach was, in den Schuh! Da hätte ich mir doch alle Zähne ausgebissen. In den Zeh! Glaub mir, es gibt kaum etwas Ekelhafteres als ein Zeh mit schwarzen Härchen drauf.
Theophilus: Und wie schmeckt so ein Zeh?
Onkel Leopold: Schlimmer als alles zusammen, was Erwin je an Essbarem, besser gesagt, nicht mehr Essbarem herangeschleppt hat. G r a u e n h a f t! SCHEUSSLICH! Aber das Opfer hatte sich gelohnt. Sofort brach ein lautstarker Tumult aus. Turnschuhe trampelten umher, Flip-Flops klatschten auf den Asphalt, Sandalen hüpften auf und ab. Es gab ein „Iiiih!“ und ein „Qu‘est que c’est?“ und ein „Merde!“ Noch bevor jemand auf die Idee kam, hinter dem Blumentrog nachzusehen, raste ich zwischen den Füßen hindurch zu meiner Wohnung. Da hatte mich bereits ein Mann entdeckt, brüllte „La, regardez, une marte 2 !“, und eilte mir nach, gefolgt von zwei weiteren Männern. Was für ein Spektakel!
Noch immer saß die zersauste Frau am Gehsteigrand. Was jetzt passierte … (man hört Herrn Leopold tief durchatmen, es folgt eine längere Pause), … sie wandte sich um zu mir, ich spürte, wir das Herz in meine Hose rutschte. Ich war verloren! Links die Touristen, rechts die Zersauste. Die griff sich eine Pfanne, die neben ihr lag, hob sie hoch und ließ sie mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf den Gehsteig fallen. Wie versteinert blieben die drei Männer stehen. Das war meine Chance. In Windeseile huschte ich zum Eingang. Mit vor Aufregung zitternden Pfoten gelang es mir, die Tür aufzusperren. Ich war in Sicherheit. Jedoch! Himmel nochmal, was für ein Unglück. Ich wollte die Türe schließen, da war plötzlich dieses Auge! In der schwarzen Pupille konnte ich meine zitternden Schnurrbarthaare ganz deutlich erkennen, mir selbst wurde auch fast schwarz vor Augen. Schon vermeinte ich eine Hand zu spüren, die mich packte, um mich aus der Wohnung zu zerren und mir den Hals umzudrehen. Theophilus, ich sage dir, ich war einer Ohnmacht nahe. Das ist dein Ende, Leopold, dachte ich.
Aber es kam keine Hand und nichts und niemand versuchte, mir den Garaus zu machen. Bloß ein kurzes heiseres Krächzen, oder war es ein Lachen?, und weg war das Auge. Ich wagte nicht nachzuschauen, wohin es verschwunden war, hörte nur sich entfernendes Stimmengemurmel und französische Satzfetzen.


1: Mit einem Transponder 625X, den Theophilus, wie sollte es anders ein, in seiner Umhängetasche verstaut hatte.
2: Bedauerlicherweise kommt es immer wieder vor, dass Mäuse mit Mardern verwechselt werden. Bei einer Ratte wäre es eventuell noch nachvollziehbar; jedoch bei Mäusen?

Fortsetzung folgt am Dienstag, 15. März 2016.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Donnerstag, 18. Februar 2016

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Dieses Mal ausnahmsweise an einem Donnerstag!

Herr Leopold Portraet23. August

Erwin ist nicht nur tot, er ist auch verschwunden. Wir entdeckten Pfotenabdrücke, die aus dem Dickicht herausführten. Dann verloren sich die Spuren. Hatte ihn jemand weggetragen? Aber wer? Und vor allem: warum?1

Einaeugiger Erwin PortraetBericht und Ergänzung von Erwin: Worin ein Himbeerkracherl Aufschluss über seine vermeintliche Vergiftung gibt, eine Käseplatte seinen Orientierungssinn durcheinanderbringt und seine Erinnerungen einige Lücken aufweisen.

Ist es der 24. oder der 25 August? Ich hab’s nicht so mit dem genauen Datum, ich jedenfalls klopf beim Leo an. Der macht auf und wird weiß, wie das Innere von einem Kaisersemmerl. Und dann kippt er einfach um. Der Kleine eilt herbei, wird auch weiß, fällt aber nicht um. Zu zweit hieven wir den Leo auf sein Kanapee2 .
„Du lebst?“, fragt der Kleine. Ich bin ein bisserl besorgt um ihn, vielleicht tut ihm das Stadtleben nicht gut. Und überhaupt, was ist da los?, denke ich noch, da wacht der Leo aus seiner Ohnmacht auf und fragt mich: „Du lebst?“
„Burschen“, sage ich, „wollt‘s ihr mich pflanzen?“
„Aber, da war doch Blut an deinem Mund“, meldet sich der Kleine.
Ich glaub, ich spinn. Was palavern die da?
Die beiden schauen mich an, als wär ich von den Toten auferstanden.

Dann erzählen sie mir, was in der besagten Nacht vorgefallen ist.
Mir fällt die Kinnlade runter. Naservas, denk ich, da hat sich mein Appetit aber diesmal ausgezahlt.

Dann bericht ich, was tatsächlich passiert ist und währenddessen fällt den beiden die Kinnlade runter: Ein alter Spezi von mir, den kenne ich noch von der Zeit der Seefahrerei, hat zu einem, na, wie hat er das genannt, zu einem Bankett, geladen. Bankett! Ha, der ist ja jetzt ein ganz Foiner geworden. Ferdl darf ich auch nicht mehr zu ihm sagen. „Erwin“, flötet er, „bitte nenne mich bei meinem Taufnamen: Ferdinand Heinrich.“ Also, der Ferdinand Heinrich hat mich zu diesem Bankett eingeladen. Und ich hab’s an diesem Abend wohl ein bisserl übertrieben mit dem Bauchvollschlagen3. Da gekostet, dort probiert, die Käseplatte geplündert. Himmel, war mir schlecht. Ich glaub, so vollgefre…, angestopft, also vollgegessen, war ich mein Lebtag noch nicht. Wahrscheinlich hat’s mir deswegen den Orientierungssinn durcheinandergehaut, wie wär ich sonst auf dem Platz neben den Hydranten gelandet. Erinnerungen? Futschikato, nix. Erst als ich mitten in der Nacht aufwach und merk, dass ich in einem Gebüsch lieg und neben mir zwei Burschen schnarchen – hätt ich ahnen können, dass ihr zwei mitten in der Nacht im Freien herumkugelts? –, also während die schnarchen, denk ich zuerst: Die Käseplatte hat’s aber ganz schön in sich gehabt. Dann denk ich: Erwin, jetzt schaust, dass du heimkommst. Es ist ein etwas längerer Heimweg geworden, weil, wie gesagt, die üppige Käseplatte und der Orientierungssinn. Zuerst bieg ich nach rechts und hatsch und hatsch. Plötzlich zwickt‘s mich in der Nase, meine Schnurrbarthaare vibrieren. Ich riech was Feucht-Schlammiges: der Wienfluss. Ich bin völlig verkehrt gelaufen!

Rechts von mir steht dieses gelbe Gebäude, in dem Rattenköder und Mäusefallen verkauft werden. Jeder vernünftige Nager macht einen großen, einen sehr großen Bogen!, darum. Links liegt diese kleine Grünanlage. Weißt eh Leo,, dieser Treffpunkt für Tauben4 . Die sind zwar ein bisserl grauslich, aber harmlos. In der Dunkelheit allerdings treibt sich zwielichtiges Nagegetier herum. Erwin, du bist auf der „Mausolos“ mit üblen Typen fertiggeworden, da schaffst du die hier in Nullkommanix, red ich mir gut zu und verschaff mir einen Überblick. Es gibt zwei Wege5 , um nach Hause zu kommen. Entweder runter zum Fluss und dann stromabwärts bis kurz vor das U-Bahn-Haus, auf die Gefahr hin, von Fledermäusen, Kanalratten angepöbelt und von Brücken geworfenen Dingen6 getroffen zu werden. Oder die Straße entlang, um von Autoabgasen eingenebelt zu werden.

Ich wähl die Autos.

„Ende. An mehr erinnere ich mich nicht.“

Der Leo und der Kleine haben noch immer eine heruntergeklappte Kinnlade.

„Aber, das Blut …“, stammelt der Kleine.
„Das Blut war kein Blut, sondern ein Himbeerkracherl!“, schließ ich meinen Bericht.
Der Leo klappt seine Kinnlade als Erster wieder zu, fragt: „Tee? Kaffee?“
Und alles ist wieder in Ordnung.

1: Die folgenden zwei Seiten wurden aus dem Tagebuch herausgerissen. Von wem und weshalb? Dieses Rätsel wird wohl ungelöst bleiben müssen. Vermutlich enthielten sie Herrn Leopolds Aufzeichnungen über den weiteren Verlauf der Ereignisse rund um Erwins Verschwinden.

2: Die geneigten Leserinnen und Leser mögen Erwins bemerkenswerte Wortwahl an dieser Stelle beachten.

3: Interessant wäre gewesen, was genau Erwin mit „bisserl übertrieben mit dem Bauchvollschlagen“ meinte. Er hielt sich jedoch, trotz mehrmaligen Nachfragens, diesbezüglich bedeckt.

4: Speziell jener Tauben, die nicht mehr viel vom Leben erwarten, ermattet und lustlos Körner und anderes Zeug aufpicken, sich kaum noch vom Aufstampfen eines Menschenfußes oder vom aufgeregten Bellen eines Vierbeiners beeindrucken lassen.

5: Es gib einen dritten Weg: die Mollardgasse. Erwin kannte mit Sicherheit auch diese Möglichkeit. Dass er sie nicht in Erwägung gezogen hatte, schreibt er der Käseplatte zu. Nun ja …

6: Dazu zählen unter anderem: Flaschen mit alkoholischem Inhalt, Fahrräder, Einkaufswagen, Herren-und-Damen-Unterbekleidung, Schuhe.

Fortsetzung folgt am Dienstag, 1. März 2016.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 2. Februar 2016

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf Porträt von Theophiuls Makadamia
Bericht und Ergänzung von Theophilus zu Herrn Leopolds Eintrag vom letzten Mal: Worin er gemeinsam mit Herrn Leopold und Frau Elsbeth Erwin findet und vieles ein bisschen anders verläuft als gedacht.

Erwins rechtes Auge starrte uns an. Der Blick schien gebrochen, die Pupille milchig trüb. Frau Elsbeth schloss sanft das Auge.
Zum ersten und zum letzten Mal wagte Onkel Leopold, die Klappe, die Erwins linkes Auge bedeckte, zur Seite zu schieben. Was würde uns erwarten? Ein Glasauge? Ein schwarzes Loch? Was wir sahen, war ein rosiges Augenlid, das sich wie eine Plane über die leere Augenhöhle spannte. Um die Augenhöhle herum verlief eine weißliche Narbe und ließ Erwin aussehen, als trüge er ein Monokel. Wer oder was konnte eine solche fast kreisrunde Wunde verursachen?
„Der Esel, der Fuchs, die den Ratten-Biber attackieren“, murmelte Onkel Leopold. Mit einem seltsam leeren Blick zu mir gewandt fügte er hinzu: „Weißt du, das riesige schwarzweiße Wandbild, vor dem Erwin immer solche Angst hatte …“ Er hielt inne, schüttelte den Kopf: „Spekulationen, Hypothesen.“

„Wo wollen wir ihn begraben?“ Frau Elsbeths Frage riss uns aus der Erstarrung. Jetzt war keine Zeit für Trauer, jetzt musste gehandelt werden. Die Situation verlangte nach Pragmatik und straffer Organisation. „Am besten, wir tragen ihn fürs Erste dort hinüber“, schlug sie vor und zeigte auf die dichten Büsche neben der Kirchenmauer, wo zwei Fahrräder vor sich hin rosteten, „dann ist er aus dem Blickfeld der Menschen und wir können in Ruhe nachdenken.“
Erwin ist zu seinen Lebzeiten ein schwerer Brummer gewesen, jetzt, wo er tot war, erschien uns sein Körper noch gewichtiger. Wir hoben ihn zu dritt hoch. Frau Elsbeth und Onkel Leopold griffen jeweils eine Vorderpfote, ich nahm Erwins Hinterpfoten. Vorsichtig trugen wir ihn vom Hydranten weg über die Pflastersteine in Richtung Kirchenmauer. Mir wurden die Arme schwer, auch Onkel Leopold schienen die Kräfte zu verlassen. Beinahe wäre uns Erwin aus den Pfoten gerutscht. Mit knapper Not gelang es uns, ihn vorsichtig auf den Boden zu legen.
„Ich brauche eine Verschnaufpause“, japste Onkel Leopold. Seine Nasenspitze war dunkelrot, seine Schnurrbarthaare zitterten vor Anstrengung.
Wir durften uns hier nicht zu lange aufhalten, jeden Moment konnten wir entdeckt werden.

Die Kirchenuhr schlug halb elf.
Wir hatten uns soweit erholt, dass wir Erwin wieder hochnehmen und ihn tief hinein ins Dickicht tragen konnten. Dort legten wir ihn auf die dunkelgrünen Blätter des über den Boden kriechenden Efeus.

Die Kirchturmuhr schlug elf.
„Ich muss was holen“, sagte ich und weg war ich. Ich kam zurück, beide Arme voll mit Blättern, die von den Lindenbäumen gefallen waren. Ich war erstaunt darüber, dass bereits jetzt im Sommer die Bäume ihr Laub verloren. Auch die Linden sind wohl erschöpft und traurig, dachte ich.
Wir breiteten die Blätter über Erwins toten Körper, dann setzten wir uns neben ihn.
„Und jetzt?“, fragte Frau Elsbeth. „Wir können Erwin hier nicht liegenlassen.“
„Ihn hier zu bestatten, ist ebenfalls zu riskant“, gab Onkel Leopold zu bedenken; und er hatte recht. Er wusste, dass sich hier in der Nacht Räuber herumtrieben. Innerhalb kurzer Zeit hätten sie Erwins Witterung aufgenommen, ihn ausgebuddelt und … Ich verfolgte den Gedanken lieber nicht weiter.
„Und in einem der Blumenbeete?“ Ich deutete in Richtung Kirchenvorplatz.
Frau Elsbeth schüttelte den Kopf. „So tief können wir Erwin gar nicht eingraben, dass nicht spätestens im Herbst die Gartenmenschen ihn beim Jäten und Umgraben wieder ausgraben würden.“
„Außerdem hätte er sicher keine Freude mit diesen Schildern zwischen den Blumen. Sie machte ihn rasend, die Aufschrift ‚Wer Tauben füttert, füttert Ratten!‘“, seufzte Onkel Leopold.
Ich musste ihm zustimmen. Ich würde auch keine Gedenktafel haben wollen, auf der der Zusatz vermerkt ist „Sind dir 36.- wurscht?“.

Die Kirchturmuhr schlug halb zwölf.
Kaum war der zweite Schlag verklungen, fragte Frau Elsbeth: „Leopold, du weißt doch, dass ich aus einem sehr alten Geschlecht von Mühlmäusen stamme?“
Onkel Leopold sah sie verdutzt an. „Ja?“
„Und dass meine Vorfahren ihren Stammsitz in der Mollardmühle hatten.“
Jetzt warf Onkel Leopold mir einen verdutzten Blick zu.
Frau Elsbeth ließ sich nicht beirren. „Ein kleiner Teil davon soll noch erhalten sein. Manche behaupten, es sei das Tor des ehemaligen Gumpendorfer Schlosses. Egal1. Mein Großvater erzählte mir, dass diese Reste vom ursprünglichen Platz in der Wallgasse in die Gumpendorferstraße gebracht wurden. Angeblich sind sie dort heute noch zu finden. In einem Garten. Nahe der Gumpendorfer Kirche. Was ich sagen will: Vielleicht ist das ein geeigneter Ort, um Erwin zu bestatten?“
Onkel Erwin nickte. Er war nicht mehr verdutzt, er schien völlig abwesend.
Frau Elsbeth wandte sich mir zu. „Ich mache mich sogleich auf die Suche und inspiziere die Stelle.“
Jetzt war ich der Verdutzte „Haben Sie denn keine Angst, alleine mitten in der Nacht? Kann das nicht bis …?“
Frau Elsbeth war jedoch bereits verschwunden.
„Natürlich hat sie keine Angst“, seufzte Onkel Leopold, der aus seiner Erstarrung erwacht war, „in ihren Adern fließt das Blut ihrer Vorfahren.“
„Dieser Mollardmühlmäuse?“
Er nickte.

Und dann erzählte er mir ein bisschen über Frau Elsbeths Vorfahren. Dass sie mutige Mäuse gewesen seien, die sich wacker schlugen im Kampf gegen die Katzen, die in der Mühle lebten, um den Mäusen den Garaus zu machen. Sogar mit dem Müllermeister selbst hätte sich einer aus dem Geschlecht der Mollardmühlmäuse angelegt; einige hatten vor dessen Augen Getreidekörner gestibitzt.
„Als Rache für diese Dreistigkeit ließ der Meister in der ganzen Mühle Fallen aufstellen, schließlich ist er aber selbst in eine getreten. So erzählen es jedenfalls die Chroniken … 2
Für einen längeren Moment war es still.
„Onkel Leopold?“, flüsterte ich. Als Antwort kam ein leises Schnarchen.

Die Kirchturmuhr schlug dreiviertel zwölf.
Ich hielt nun alleine Totenwache bei Erwin.

Die Kirchturmuhr schlug Mitternacht.
Bei mir zu Hause hätte ich mich im Freien gefürchtet. Die Dunkelheit ist auf dem Land: dunkel. Teilweise sieht man die eigene Pfote vor den Augen nicht. Und sie ist niemals vollkommen still. Ständig ist ein Rascheln, Kratzen, Scharren, Wispern zu hören. Aber hier. Sogar durch das Blattwerk der Sträucher bahnen sich die Lichtstrahlen der Laternen ihren Weg. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, oder ich hörte Menschen auf der Straße sprechen oder bei einem offenen Fenster eine Frau kurz auflachen.

„Erwin ist weg!“ Jemand rüttelte mich am Arm. Nur schwer gelang es mir, meine Augen zu öffnen. Ich blickte in zwei verschwommene Gesichter. Nach und nach erkannte ich Onkel Leopold und Frau Elsbeth.
„Als ich zurückkam, habt ihr beide geschlafen“, sagte sie mit einem leicht vorwurfsvollen Ton . „Ich habe den Überrest des Tores gefunden. Es ist gleich schräg vis-à-vis in einem Hof. Aber nun“, sie zeigte auf den Platz, auf dem Erwin zuvor gelegen hatte und auf dem ein paar zerdrückte Linden- und Efeublätter an ihn erinnerten, „ist das vorerst nicht mehr wichtig.“

1: Egal? Mitnichten! Schloss, Mühle? Was stimmt denn nun? In einer alten Chronik heißt es, dass Ende des 17. Jahrhunderts die alte „Feste“ auf der Stadtseite einen größeren Zubau erhielt, „worin ein Mühlwerk untergebracht wurde; das ist eben der heute noch stehende Trakt“. Kaiser Leopold! I. habe 1679 dem damaligen Besitzer, einen gewissen Graf Franz Maximilian Mollard, zu seinem Gute Gumpendorf ein Privilegium „zur Erbauung und Zurichtung eines Silberhammers, einer Stampf- und Großmühle“ erteilt.

2: In einem Dokument aus dem Jahr 1682 heißt es: „So zogeten ein Grupp von Mausen gegen den habgierig Müller und besiegeten ihn und seine Muhlkatz, derer waren sechs und hernach waren zwo geflohet. Und der Müller waret bekehrt und gab den Mausen ihren Anteil von Getreidekorn. Alsnach die tapfer Grupp von Mausen wurde erhebet in den hohen Stand und nennte sich von da ‚Die von Mollardmühl‘“.


Fortsetzung folgt am Dienstag, 16. Februar 2016.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 19. Januar 2016

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet22. August

Erwin ist tot. Vor drei Tagen fanden wir ihn am späten Abend am Kurt-Pint-Platz, neben dem Hydranten (ydran)1. Ein bisschen Blut (lut) war aus der Nase geflossen, sonst gab es keine äußerlichen Anzeichen seines Ablebens. Es schien, als schliefe er. Ich wusste sofort, was los war. Erwin hätte nie auf der Straße geschlafen. Die Gefahr, mit einer Kehrschaufel in einen Mistkübel bugsiert oder gleich an Ort Stelle von einem Menschen erschlagen zu werden, wäre viel zu groß gewesen.
Elsbeth fühlte Erwins Puls.
„Sollen wir nicht die Rettung holen, oder einen Arzt?“, fragte Theophilus.
Ha, Arzt, Rettung – für eine Ratte! Was weiß der Junge denn schon.
„Ist er wirklich tot?“, fragte Theophilus.
Elsbeth nickte.
War er von der Blumenbeetmauer gestürzt? Niemals. Erwin war ein ausgezeichneter Kletterer. Er hätte sogar im volltrunkenen (votrunk) Zustand die Mauern der Gumpendorfer (Gumpf) Kirche hochklettern können. Obwohl, ich habe Erwin nie Alkohol trinken sehen. Das fällt mir erst jetzt auf. Ich hatte gedacht, Erwin gut zu kennen. Was für ein Irrtum! Wie wenig ich im Grunde über ihn weiß! Warum kam mir nie die Idee, ihn nach seinen Wünschen (ünschn), Träumen, seiner Herkunft zu fragen. Wenn er von seinen Abenteuern als Schiffsratte erzählte, dann hatte seine Stimme, wenn man ganz genau zuhörte, selten nach Meer und Freibeuterei, sondern nach Desinfektionsmittel und Angst geklungen. Warum? Warum habe ich ihn nicht gefragt?
Ich weiß nicht einmal, wo er lebte. Irgendwann hatte er erwähnte, im Sommer in einem schmalen Grasstreifen neben einer Hausmauer in der Magdalenenstraße zu wohnen. „Da wo wir alle herkommen: aus dem Ratzenstadl!2 Passt doch! Da hat auch der Rattenfänger vom Magdalenengrund 3 nichts geholfen“, hatte er gelacht. Und bitter geklungen.
Und im Winter (inter)? Ich hatte diese Frage ebenfalls verabsäumt. Warum?
Ich bin nicht nur ein alter Narr, der sich von seinem Neffen immer zu allerlei Unfug überreden lässt; ich bin noch dazu ein alter Egoist. Darum!

Auch wenn Erwin sein Leben gelebt hatte, so allein und verlassen aus der Welt zu gehen, war sicher kein Spaziergang gewesen. Wie lange lag er bereits da? Ich wunderte mich, dass eine tote Ratte, noch dazu so gut sichtbar, nicht mit einem Fußtritt beiseitegeschafft, oder bereits entsorgt worden war. Entsorgt! Das Wort explodierte in meinem Kopf. Die Menschen entsorgen gerne: Papier, Glas, Metall, Restmüll. Die Vorstellung, Erwin fände seine letzte Ruhestätte in einer Mülltonne – unerträglich!! Tierkörperverwertung (Tiköpvertung) nennen die Menschen das. Ich fühlte mich verloren, verlassen, verzweifelt, der Schmerz biss in meinen Bauch. Was waren wir denn? Nager. Ungeziefer. Eine Landplage, die es galt auszumerzen.
Theophilus, Elsbeth und ich schauten einander an. Hatten wir denselben Gedanken und getrauten uns nicht, ihn auszusprechen?
„Gift. Er wurde vergiftet!“, brüllte ich. Ein mir sonst völlig unbekannter Zorn hatte mich ergriffen, ich schimpfte und tobte, trommelte mit den Pfoten gegen den Hydranten, trat sogar dagegen. „Hatte ich ihm nicht immer gepredigt, nichts von der Straße zu essen? Hatte ich ihn nicht immer und immer wieder davor gewarnt? Hatte ich das nicht getan?“
Elsbeth und Theophilus standen da wie vom Donner gerührt.
So plötzlich, wie dieser Anfall mich heimgesucht hatte, war er wieder verflogen. Ruhig und gefasst sagte ich: „Wir müssen Erwin wegbringen. Morgen findet hier wieder der Wochenmarkt statt, ihr wisst ja, mit dem Käsestand (ösestnd).“
Jetzt, wo ich das Erlebte aufschreibe, zerreißt es mir das Herz aufs Neue bei dem Gedanken, dass kein vorwitziger Erwin mehr Brimsen (imsn) und andere Köstlichkeiten (Köstktn), vor den Augen des Käsemannes (äsemans)!, zu stehlen versuchen würde. Nie mehr!
Doch das Leben geht weiter. Und der Käsemann wird weiterhin seinen Brimsen anbieten. Und der Wind wird durch die Matrosengasse wehen. Und die Malven werden ihre violetten Blüten zum Leuchten bringen. Jedoch ohne Erwin hat die Welt viel von ihrem Glanz verloren.

Ich will jetzt nicht in Erinnerungen schwelgen, weil es mir dabei mein Herz zerdrückt.


1: Im Originaldokument ist an einigen Stellen des folgenden Absatzes die Tinte zerlaufen. Um das Geschehen rund um den Tod von Erwin hier verständlich wiederzugeben, wurden die vermutlich durch Tränenflüssigkeit beinahe unleserlich gewordenen Stellen mit Hilfe von Frau Professor Scheiblett ergänzt worden. Diese sind im Text unterstrichen, in Klammer befinden sich die ursprünglichen Wortreste in die Menschensprache übersetzt. Die Mausischen Originalzeichen sehen Sie hier:
Die Mausischen Originalzeichen
2: Genau genommen: im ehemaligen Ratzenstadl. Übrigens, der frühere Namen „Im Saugraben an der Wien“ klang auch nicht sehr schmeichelhaft …
3: Der hieß angeblich Hans Mäuseloch – wie treffend – und befreite Korneuburg mithilfe einer Flöte von einer „Rattenplage“. Jede Ähnlichkeit mit dem Rattenfänger von Hameln ist vorhanden und beabsichtigt. Und nebenbei bemerkt: Es wäre interessant zu wissen, welche Melodei der Rattenfänger da flötete, sodass kluge Tiere wie Ratten diesem Typen auf den Leim gingen. Falls jemand der geneigten Leserinnen und Lesern eine Idee dazu hat …

Fortsetzung folgt am Dienstag, 2. Februar 2016.

Alle bisherigen Abenteuer finden Sie hier.

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 5. Januar 2016

Notizen und Aufzeichnungen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet19. August

Erwin ist tot.

20. August

Bin noch immer erschüttert und durcheinander wegen Erwin. Habe nicht die Kraft, darüber zu schreiben.

21. August

Vor der Irritation zu fliehen heißt nicht, ihr zu entkommen. Werde darüber schreiben müssen.

Fortsetzung folgt am Dienstag, 19. Jänner 2016.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 22. Dezember 2015

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet17. August

Theophilus äußerte heute die Bitte, noch etwas länger bleiben zu dürfen. Zwar sei das Leben auf dem Land oft aufregend, aber all das sei kein Vergleich mit Mirabella, dem Höllenwald, dem Foltermuseum oder dem Käseparadies.
„Wenn du mir versprichst, keinen Unsinn mehr zu machen, werde ich deine Eltern fragen.“
Theophilus nickte und seine Augen strahlten.
Ich hätte seine Eltern sowieso gefragt …

Am Abend telefonierte ich mit meinem Bruder. Er gab seine Zustimmung. „Ende August muss er allerdings nach Hause, da beginnen wir mit den Vorbereitungen für den Winter und die Schule beginnt. Und er soll keinen Unsinn machen.“ Sein Walrosslachen dröhnte durch den Hörer.

18. August

Theophilus zeigt sich sehr verwundert, dass wir Mäuse hier in der Stadt keine Vorbereitungen für den Winter treffen.

Porträt von Theophiuls MakadamiaBericht und Ergänzung von Theophilus: Worin er sich wundert und ebenfalls mit einer Form von Mirabellas aufwarten kann.

Ich war tatsächlich erstaunt, dass die Mäuse in Onkel Leopolds Nachbarschaft keine Anzeichen von Wintervorbereitungen zeigten. Ich sah keine einzige Maus Vorräte nach Hause tragen, alle gingen ihrem gewohnten Alltag nach.
Bei uns zuhause beginnen bereits Mitte August die Arbeiten für die kalte Jahreszeit. Früher, also ganz, ganz, ganz, ganz, ganz früher, als die Menschen das Getreide noch mit der Hand schnitten, da konnten die Landmäuse die Getreidekörner direkt vor Ort einsammeln. Heutzutage müssten wir uns damit begnügen, was die Erntemaschinen übrig lassen. Das ist nicht viel, und die Konkurrenz schläft nicht. Außerdem haben wir auch eine Art Mirabelle-Bande: Feldhamster. Nicht kleine flauschige goldige Genossen sind das, sondern riesige Kerle, die einem hinter Kukuruzstängeln auflauern oder einen ins Lupiniengewirr locken.1 Die Arbeit ist mühsam und gefährlich. Letztes Jahr wäre der Cousin 2 der Urgroßmutter meiner Mutter fast in den Messerbalken eines Mähdreschers geraten. Zum Glück ging die Sache glimpflich aus und er verlor lediglich zwei Schnurrbarthaare – vor Schreck.
Hier in Mariahilf hingegen – Onkel Leopold meinte, das sei in der gesamten Stadt so – gibt es Geschäfte, in denen Mäuse das ganze Jahr über einkaufen können. Sie müssen sich keinen Vorrat anlegen, der für Monate reicht. Und Winterruhe? Die kennen die in der Stadt gar nicht! „Dafür ist keine Zeit“, sagte Onkel Leopold. „Wir sind das ganze Jahr über aktiv. Außerdem ist der Winter hier gar kein richtiger Winter. Meistens besteht der nur aus Hochnebel, Nieselregen und hin und wieder gibt es Schnee. Der verwandelt sich rasch in eine schwarz-graue Masse, gespickt mit Rollsplitt, Hundekack und den Spuren von Autoabgasen; falls er nicht vorher vom Streusalz weggefressen wird.“ Außerdem, setzte er fort, lege in der Stadt kaum eine Maus Wert auf alte Gewohnheiten und konservative Haltungen, darum halten die wenigsten eine Winterruhe; eigentlich nur die, die es sich leisten können 3. „Ich selbst merke immer häufiger, dass mir ein bisschen Ruhe gut täte. Wollen wir sehen, was der kommende Winter bringt.“


1: Oder mit Kartoffeln schmeißen. Es gehen Gerüchte um, wonach Feldhamster sogar mit Zuckerrüben um sich werfen. Wie gesagt, Gerüchte …
2: Dieser Cousin ist der Pechvogel der Familie. So löste er einen Kurzschluss aus, als er die Kabel seines Elektrobaukastens (ein Geburtstagsgeschenk!) zusammensteckte. Beim Versuch, eine Kuhflade zu überspringen, verstauchte er sich die linke Hinterpfote. Will er sich im Teich erfrischen, formieren sich die Enten garantiert zu einem Angriffskommando. Und wenn irgendwo Mäusefallen herumstehen, …
3: An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Erwin zu eben jenen gehört, die es sich leisten können – oder es sich leisten wollen. Wo genau er seine Winterruhe verbringt? Am Wienfluss? Laut Erwin zu feucht. In den Mauernischen der Brücken, die Mariahilf mit Margareten verbinden – Margaretengürtel-, Wackenroder-, Neville-, Reinprechtsdorfer-, Pilgrambrücke? Laut Erwin zu belebt. Im Kanalsystem? Laut Erwin speziell im Winter total überfüllt. In Kellerabteilen? Auf Dachböden? Hinter Biotonnen? Die Antwort muss wohl Spekulation bleiben, denn Erwin weigert sich standhaft, Auskunft über seinen Winterruheplatz zu erteilen. Seine Begründung: „Ich hab keine Lust, dass neugierige Menschen mich aus dem Schlaf reißen. Mich dann fotografieren und so.“ Ob Menschen allerdings beim Anblick einer Ratte tatsächlich eine Kamera zücken würden?

Fortsetzung am Dienstag, 5. Jänner 2016.

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