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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 24. November 2015

Aufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf
Herr Leopold PortraetFortsetzung vom letzten MalEintrag 14. August

Theophilus hielt die Entdeckerfreude weiter in Atem. Ich wünschte, sie hätte es nicht getan! Das gab wieder Ärger! Theophilus schlich die Theatermauer entlang, trippelte die Stufen hinauf, die zum „Eingang 1. und 2. Rang“ führten, hielt kurz inne, warf mir einen Blick zu und formte mit seinen Lippen lautlos die Aufforderung: „Komm jetzt, Onkel Leopold.“
Was blieb mir anderes übrig? Im Nu war er die Stufen wieder hinuntergesaust, jetzt schlichen wir das Gebäude weiter entlang. Wie Diebsgesindel kam ich mir vor und ich erinnerte mich an unser Abenteuer im Käseparadies auf dem Naschmarkt. Schließlich entdeckten wir neben dem Haupteingang einen Spalt im Mauerwerk und zwängten uns hinein. Ein enger, jedoch vor den Augen der Menschen schützender Ort. Von hier aus konnten wir den weiten Platz vor dem Theater gut überblicken. Menschen in eleganter Kleidung standen in kleinen Gruppen um hohe Tischchen – und aßen.
„Belegte Brötchen“, flüsterte Theophilus. „Eines ist auf den Boden gefallen.“ Er deutete auf eine mit etwas Rotem bestrichene Schnitte Weißbrot, die neben einem Paar schwarzer Stöckelschuhe zu liegen gekommen war.
„Du wirst doch nicht“, ich hielt ihn am Jackenärmel fest, „du wirst doch nichts vom Boden zu dir nehmen!“
„Ach, Onkel Leopold, du mit deinen Manieren. Das sieht doch köstlich aus.“ Er deutete auf das Brot. Er war hingerissen. Dieses Funkeln in seinen Augen beim Anblick von Nahrungsmitteln. Das kam mir nur zu bekannt vor – Erwin …
„Komm, lass es uns probieren.“
„Niemals!“
So ging es eine Weile hin und her.
„Nein.“
„Bitte, doch“
„Niemals!“
„Nur probieren.“
„Nein.“
Gut, meine Argumente waren nicht sehr durchdacht. Möglicherweise war das der Grund, warum Theophilus mit seiner Hartnäckigkeit die Oberhand behielt. Mit einem Satz war er beim Weißbrot. Verdrückte ein großes Stück, kaute, kaute, kaute, schluckte. Und dann – seine Schnauze wurde knallrot, harmonisierte mit dem Rot auf dem Kanapee. Ich konnte sie förmlich sehen: aus seinen Ohren qualmende Rauchwölkchen, aus seinem Mund hervorschießende Flammensäulen. Das Kanapee musste mit etwas Scharfem, etwas sehr Scharfem!, bestrichen gewesen sein. Ich vergaß alle Vorsicht und raste zu Theophilus. Ich musste ihn aus der Gefahrenzone bringen. Theophilus hustete und würgte.
Ich trieb ihn zur Eile. „Los, los, wir müssen weg hier.“ Schon wollten wir unter den Tischen und zwischen Menschenfüßen die Flucht antreten – doch herrje!, eine Frau hatte uns entdeckt. Natürlich stieß sie einen gellenden Schrei aus. Ich lächelte ihr freundlich zu und winkte. Da wurde ihr Schreien noch gellender, noch schriller, noch lauter. In Windeseile kamen andere Menschen herbei, fragten, was los sei. Ein Stimmengewirr erhob sich. Ich versuchte, Theophilus weiterzuziehen, aber er war vor lauter Husten und Beinahe-Abbrennen nicht mehr in der Lage, eine Pfote vor die andere zu setzen. Ich blickte nach oben. Da zeigte ein rotlackierter Fingernagel direkt auf uns.
Und dann sausten grüne Scheibchen, weiße Patzen, gefolgt von etwas rosarot-grau Marmorierten mit hoher Geschwindigkeit auf uns herab. Um uns war es nun sehr, sehr dämmrig. 1 Wir waren garniert – mit Essikgürklein und Mayonnaise – und von einem Wurstblatt zugedeckt. Der Duft dieser Wurstdecke schien Theophilus‘ Zustand etwas zu lindern. Zumindest hatte er mit dem Würgen, Spucken und Husten aufgehört.
„Uns bleibt keine Zeit!“ Ich deutete nach oben. Wahrscheinlich zückte man bereits Gabel und Messer, um auf uns einzustechen. „Bei drei werfen wir das Wurstblatt von uns und dann renn, so schnell du kannst, am besten zurück ins Beet unter den Garderobenfenstern.“ Theophilus nickte.
„Eins. Zwei. Dreiiiii!“ Die Wurst flog, wir rasten los.
„Da sind sie!“, kreischte jemand.
„Was, es sind zwei? Igitt!“, schrie jemand anderer.
Schwarze Lackschuhe hasteten hinter mir her und ich musste mein ganzes Geschick aufbieten, um den Geschosshagel in Form von grünen Oliven zu entgehen. Ich konnte noch sehen, wie Theophilus einen Klacks Ketchup verpasst bekam, dann war er verschwunden. Hoffentlich hat er es geschafft, flehte ich und bekam eine Olive an den Kopf. Jetzt begann ich, langsam ärgerlich zu werden. Hatten diese Menschen denn keinen Verstand! Mit Essen Mäuse verjagen! Wo blieb der Besen? Die Mausefalle? Das Gift? Gut, man kann von einer Abendgesellschaft nicht erwarten, dass die Damen einen Besenstil im Handtäschchen mit sich führen oder die Herren in der Brusttasche eine Lebendfalle bei sich tragen. Ich war also mitten im Ärgern und Wundern, da traf mich ein Salatblatt und hätte mich beinahe zu Sturz gebracht. In letzter Sekunde konnte ich mich noch derappeln, wäre aber ein Groß-Pfot weiter in einer orangefarbenen Cocktailsauce ausgerutscht. Doch plötzlich, ein fester Griff um meine Pfote, meine Hinterbeine wurden förmlich vom Boden gerissen und eh ich mich versah, lag ich zwischen hohen Brennnesselstängeln.
Überall stach und brannte es, aber ich war in Sicherheit.
„Ihr habt ja Nerven.“
„Erwin? Was machst du denn hier?“
„Na, jedenfalls nicht erwischen lassen.“
„Wo ist Theophilus? Konnte er fliehen?“
Erwin zeigte hinter sich und ich erkannte meinen Neffen. Seine Nase war mit roten Tupfen gesprenkelt. Er lächelte erschöpft.
„Es ist alles ein bisschen verwirrend“, sagte ich, „wie bist du so plötzlich aufgetaucht? Woher wusstest du, dass wir hier sind?“
„Also“, begann Erwin, „erstens, wusste ich, dass es heute eine Vorpremiere hier im Theater gibt …“
Ich schaute Erwin verwundert an. Seit wann interessierte der sich fürs Theater, und seit wann wusste er um die Existenz des Wortes Vorpremiere? Und überhaupt, was sollte das mitten im Sommer für eine Vorpremiere sein?
Er schien meine Gedanken erkannt zu haben und meinte: „Ja, Herr Leopold, ich kann lesen, die Ankündigungsplakate hängen ja überall hier herum. Vorpremiere, das ist so was Ähnliches wie eine Eröffnung vor der Ausstellungseröffnung …“
Mein Staunen wuchs ins schier Endlose.
„… das weiß doch jeder Nager, Leo“, setzte Erwin unbeirrt fort, „und Premieren und Eröffnungen bedeuten immer: Buffet!“
„Aber woher wusstest du, dass wir …?“
„Als ich das Geschrei hörte und Oliven fliegen sah, da überkam mich eine Ahnung.“ Er grinste.
Nachdem sich die Aufregung unter den Menschen gelegt hatte, möglicherweise war die Pause wieder zu Ende und der nächste Teil – von welchem Stück auch immer – begann, traten Theophilus und ich zwei müden Kriegern gleich den Heimweg an. Begleitet von Erwin, der uns von seinen gehamsterten Vorräten etwas abgeben wollte. Als er den Zipfel einer Essiggurke aus den Tiefen seiner Hosentasche hervorzog, lehnte sogar Theophilus ab.
Ich war nach diesem Vorfall sehr kaputt und erschöpft. Nicht einmal die abendliche Brise, die durch die Gassen streifte, konnte mich aufmuntern.

Nachtrag – 19:07 Uhr: Schrubben und bürsten haben nichts genutzt. Ich fürchte, die Mayonnaise-Flecken werden erst beim nächsten Fellwechsel verschwinden.


1: Das erinnert doch – erraten – an das Abenteuer in der Perücke im Foltermuseum.

Fortsetzung am Dienstag, 8. Dezemeber 2015.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 10. November 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf.

Herr Leopold Portraet14. August

Pünktlich, wie sie im Frühling eingetroffen sind, haben sie Mariahilf wieder verlassen, die Schwalben. Vorbei das luftige Fangenspielen. Der Herbst beginnt. Das Licht nimmt bereits einen goldgelben Glanz an. Die Schatten werden schärfer. Nun gehört der Stadthimmel wieder den Tauben, Krähen, Rotschwänzchen, Spatzen, Drosseln, Amseln und Falken alleine. Oft fragte ich mich in den letzten Wochen, ob ich die Ankunft der Schwalben im nächsten Frühling noch erleben werde.

Wie kurz ist so ein Mäusedasein …

16. August

In der Früh klebten noch immer Mayonnaise-Reste in meinem Fell, hinter Theophilus‘ rechtem Ohr prangte der Schnipsel eines Essiggürkleins. Außerdem ist seine Zunge noch ziemlich geschwollen. Ich schimpfte mich wieder einmal einen alten Narren, der den Flausen eines jungen Mäuserichs nicht Einhalt geboten hatte. Kulturelle Abende sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Und: Kanapees können Kopfschmerzen bereiten. Und: Zeigt sich eine Maus den Menschen, bleibt diese Begegnung nicht ohne Folgen – zumeist für die Mäuse. Und Halten Menschen Essbares in den Händen, dann darf sich ihnen eine Maus nie, NIEMALS!, zeigen. Und: Sind Menschen elegant gekleidet, heißt das nicht, dass sie sich beim Anblick einer Maus auch elegant und stilvoll benehmen.
Auslöser dieses Desasters war Theophilus‘ botanische Neugierde. Er wollte am Abend noch ein paar Grünanlagen inspizieren. Ich schlug vor, uns Richtung Gürtel zu halten.
Wir starteten unseren Rundgang an der Ecke Millergasse-Mittelgasse und pirschten uns durch dichtes Gebüsch. Wir stolperten über Semmelstücke, zerknülltes oder in Auflösung befindliches Zeitungspapier, über Zigarettenstummel – botanisch Interessantes war nichts dabei. Wir marschierten die Matrosengasse weiter, aber außer ein paar Grasbüscheln sowie Brennnesselblättern, die zwischen den Pflastersteinen hervorsprießen und einem Fleckchen Moos neben einem Autoreifen, gab es nichts Außergewöhnliches zu entdecken. Erst als wir in die Ägidigasse abbogen, bot sich an einer Hauswand Sehenswertes: Grashalme mit etwas Buschigem oben drauf. „Alopecurus pratensis 1. Na immerhin“, stellte Theophilus fest. Das war ihm Motivation genug, die Suche fortzusetzen. Alsdann: ab durchs Beet neben dem Altglascontainer Ägidigasse-Spalowskygasse. Über unseren Köpfen im Geäst veranstalteten zig Spatzen ein riesen Trara. Aufgeregt hüpften sie im Geäst des Zierstrauches hin und her. Unten in den Niederungen stolperten wir über Reis und Brotbrösel, zerknülltes oder in Auflösung befindliches Zeitungspapier, Zigarettenstummel, Glasscherben – botanisch Interessantes war nichts dabei. Lediglich neben dem Pfosten an der Gehsteigkante schaute ein Löwenzahnblatt hervor. Trotzdem: Für Theophilus war das Gebiet spannend und ergiebig genug und wir setzten unseren Weg fort. Der führte uns an einer schier endlosen Mauer aus Buchenhecken entlang.
Da! Plötzlich! Viele schwarze und dunkelviolette Beeren, die uns wie Augen aus den Hecken anstarrten. Ich war dermaßen erschrocken, dass ich wie angewurzelt stehenblieb. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Schließlich obsiegte die Neugierde, ich fasste Mut und griff nach einer Beere, da schrie Theophilus, der wenige Groß-Pfot vor mir gegangen war, voll Entsetzen: „Nicht!“
Blitzartig zog ich meine Pfote zurück.
Er hastete zu mir zurück, blieb schwer atmend vor mir stehen: „Nicht … den … Solanum dulcamara 2, der … ist … giftig. Wenn du das schluckst, … dann aber … Hallo!3
Einen weiteren botanischen Versuch starteten wir in der Anlage vor dem Gebäude, aus dem immer viele fröhliche, manchmal auch weniger fröhliche Menschenkinderstimmen zu hören sind. An manchen Sonntagen betreten Erwachsene, meist gemessenen Schrittes, das Haus, um nach wenigen Minuten wieder herauszukommen. Wir marschierten durch trockenes Gebiet. Und obwohl wir unsere Pfoten vorsichtig auf die Erde setzten, wirbelten wir doch eine Menge Staub auf, der heftiges Gehuste auslöste. Die einzige Abwechslung war ein buntes Plastikmännchen mit einem Säbel in der Hand. Es bot inmitten dieser Einöde einen sehr traurigen und verlassenen Anblick. Beinahe so traurig und verlassen wie die kugelförmigen Bäume, unter denen verdorrte Blätter raschelten.
Ehrlich gestanden, ich zweifelte immer mehr an der Sinnhaftigkeit unserer Expedition und fragte Theophilus, ob er noch weitersuchen wolle. Der spähte in diesem Moment um die Mauer aus roten Ziegelsteinen und nickte heftig. Was sollte es Großartiges zu entdecken geben? Zwischen den Pflastersteinen wuchernder Breitwegerich und Löwenzahn? Die kannte ich auch. Und Gänseblümchen, die ihre Köpfe durch den Asphalt zwängten, waren mir ebenfalls bekannt. Theophilus jedoch ließ nicht locker und so trippelten wir die Mauer entlang zum Gebüsch unterhalb der Garderobenfenster des Raimundtheaters. Der Weg dorthin war gesäumt von kleinen, verhutzelten Kastanien. Frühreif hatten sich einige bereits vom Baum gestürzt. Eine besonders vorwitzige drohte Theophilus auf den Kopf zu fallen, und nur mittels eines beherzten Sprunges zur Seite entkam er dieser Kastanienattacke. Dabei wäre er beinahe in einen Gackhaufen gefallen. Nach diesem, zum Glück nur olfaktorisch unangenehmen Erlebnis, hoffte ich inständig auf einen baldigen botanischen Höhepunkt “ – und tatsächlich fand sich dieses Mal ein winziger Pflanzenschatz. „Stella media, Lactuca serriola, Senecio vulgaris!“, rief Theophilus begeistert und schrieb in sein Notizheft: Vogelmiere, Stachellattich, Greiskraut. Und während er notierte, vernahmen wir Stimmen. Die dazugehörigen Menschen mussten ganz in der Nähe sein. Aus dem Stimmengewirr tauchten immer wieder ein Lachen, hin und wieder ein Husten auf. Dazwischen hörten wir „Plopp“ und „Klirr“.


Fortsetzung folgt am 24. November 2015


1: Wiesen-Fuchsschwanz
2: Bittersüßer Nachtschatten
3: Deliriumsartige Zustände sind da noch das kleinere Übel …

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 27. Oktober 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Porträt von Theophiuls MakadamiaBericht und Ergänzung von Theophilus: Worin Herr Leopold feststellt, dass vier Pfoten besser sind als zwei, und Obstkisten sich als tückisch erweisen.

Im Geschäft lief alles bestens. Neben der Kassa hatte ich, wie Onkel Leopold nicht vergaß mir einzubläuen – er wartete unten und zischelte ständig zu mir herauf „Vorsicht!“ und „Vergiss nicht zu zahlen!“ – dieses Mal vier 1-Cent-Münzen gelegt. Bereits nach wenigen Minuten landete ich elegant mit meiner mit Käsehäppchen vollgestopften Umhängetasche wieder sicher auf dem Boden.
Schon hatten wir uns durch den Gang gequetscht, schon standen wir wieder draußen am Naschmarkt. Trotzdem hatte ich ein seltsames Gefühl. Schnell weg von hier, dachte ich. Ich packte Onkel Leopold am Gilet und zog ihn hinter mir her.
„Warum laufen wir eigentlich auf den Hinterbeinen? Wären wir nicht schneller, wenn wir alle unsere vier Beine nutzten?“, fragte ich ihn. Onkel Leopold machte ein verdutztes Gesicht, so als hätte er mich nicht verstanden. Ich wiederholte meine Frage noch einmal. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, wie lange ich nicht mehr auf allen meinen Vieren unterwegs gewesen bin. Es sieht ja nicht sehr elegant aus.“ Ich erwiderte, dass wir uns im Moment keine Eleganz leisten können, und so schnell als möglich von hier verschwinden sollten. Anscheinend hatte er mir gar nicht zugehört, denn er sagte: „Huschen. Ein würdeloser Anblick, kein Wunder, dass die Menschen erschrecken, wenn sie uns umherhuschen1 sehen.“
Wir huschten, oder liefen, oder zischten, egal, wir bewegten uns jedenfalls stadtauswärts. Als wir um die Ecke des Käseparadieses bogen, vermeinte ich einen seltsamen Geruch aus der Kapelle schräg gegenüber wahrzunehmen. Ich blieb stehen.
„Wo bleibst du denn?“, zischte Onkel Leopold.
Als ich mich nicht rührte – ich fühlte mich wie hypnotisiert – kehrte er zu mir zurück. Links und rechts neben dem Absperrgitter lagen Holzkisten kreuz und quer verstreut. Ihnen entströmte ein verlockender Duft nach Kirschen, Erdbeeren und Zwetschken. Warum nur war ich so verfressen! Warum konnte ich meinen Appetit nicht einmal bremsen! Ich machte ja bereits Erwin Konkurrenz.
Da schoss es mir durch den Kopf: eine Falle! Zu spät! Eine heisere Stimme befahl: „Pfoten hoch!“ Nach einer kurzen Schrecksekunde flüsterte Onkel Leopold mir mit zitternder Stimme zu: „Mirabella. Es gibt sie also wirklich. Die Anführerin der Küchenschabenbande 2.“ Ich wusste nicht, wovon er sprach, ich hatte auch keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie und drei Bandenmitglieder zielten mit Zahnstochern! auf uns. Kann man so etwas ernst nehmen?, fragte ich mich. Als jedoch einer der Banditen seinen Zahnstocher nach mir warf, der nur knapp an mir vorbeisauste und drei meiner Schnurrbarthaare streifte, wusste ich: Ja, die muss man ernst nehmen.
„Her mit dem Geld!“, fauchte Mirabella.
Ich war, obwohl mir die Knie schlotterten, baff: Wozu brauchen Küchenschaben Geld? Und noch während ich nach möglichen Antworten suchte, hörte ich meine Fragen, die wie eine Gewehrsalve auf das Gegenüber einprasselten: „Was fangen Küchenschaben mit Geld an? Möchten Sie nicht lieber ein Stück Käse? Oder hier“, ich kramte mit meiner linken Pfote in meiner Tasche, während ich die rechte hochhielt, und holte ein paar braune Brösel daraus hervor. „eine Kostprobe? Meggies Hunde-Diätfutter. Schon mal versucht? Erstaunlicherweise sehr sättigend, obwohl nur Diätfutter. Wie sieht es denn aus mit Ihrer Ernährung? Achten Sie auf die ausreichende Zufuhr essenzieller Fettsäuren? Und auf die ausreichende Zufuhr hochwertiger Kalorien? Bei Ihrer Tätigkeit sehr wichtig. Nehme ich an. Oder nicht? Warten Sie, ich habe hier“, und wühlte mit der rechten Pfote in der anderen Hosentasche, „eine Broschüre zum Thema ‚So bleibe ich geistig und körperlich fit‘. Oh, nein, leider, doch nicht. Aber wenn Sie möchten, dann könnte ich Ihnen eine zukommen lassen. Möchten Sie, dass ich Ihnen eine schicke? Kostenlos und unverbindlich.“
„Bub, du redest dich um deinen Verstand und uns um unser Leben“, zischte Onkel Leopold.
Es folgten viele Sekunden bedrohlicher Stille. Der Autoverkehr auf der linken und rechten Wienzeile: verstummt. Die Nachtschwärmer in den Naschmarktlokalen: verstummt. Sogar die beiden Betrunkenen torkelten zwischen den Marktständen umher – ohne einen Mucks. Obstkisten und Öl-Blechkanister, Orangenschalen und Pizzakartons, alles, so schien es mir, duckte sich unter dieser bedrohlichen Situation. Die zwei Küchenschaben, die hinter Mirabella standen, warfen einander überraschte Blicke zu. Dann machte die etwas korpulentere der beiden einen Schritt nach vor. Noch einen Schritt. Noch einen. Und – zeigte auf wie in der Schule! „Ja, also, ich hätte Interesse.“ Jene Küchenschabe, die zuvor mit ihrem Zahnstocher auf mich gezielt hatte, wedelte mit drei ihrer acht Beine, räusperte sich: „Für mich bitte auch.“
Den Ausdruck in Mirabellas Augen werde ich nie vergessen. Sie glühten rot, gelb, blau vor Zorn und Wut. Die Bandenführerin wandte sich den beiden Interessenten zu – das war Mirabellas entscheidender Fehler. Jetzt oder nie. Diesen Moment ihrer Unachtsamkeit galt es zu nutzen.
„Los!“, rief ich.

Bei der U-Bahnstation Kettenbrückengasse mussten wir kurz pausieren. Wir bekamen fast keine Luft mehr. Mein Herz klopfte noch schneller als es sowieso schon schlägt. Onkel Leopold klagte über Seitenstechen. Wurden wir verfolgt? Weit und breit waren keine Küchenschaben zu sehen. Ich war sicher, Mirabella sprühte Funken und war kurz vor dem Explodieren: keine Beute und zwei Mitglieder, die sich von Fitness-Versprechungen haben einwickeln lassen.
Vor uns lag jetzt eine riesige asphaltierte Fläche. Onkel Leopold hatte mir davon erzählt. Die Menschen belegen sie jeden Samstag mit altem Zeugs und betreiben Handel damit. Flohmarkt nennen sie das. Der Platz ist von allen Seiten gut einsehbar, es gibt keine Versteckmöglichkeit. Es galt also, so schnell als möglich, diese gefährliche Stelle zu passieren. Als ich mich kurz umdrehte, um zu schauen, ob wir Mirabellas Bande abgehängt hatten, stolperte Onkel Leopold über einen Zwirnknopf. Eine Falle! 3 Zum Glück fing ich ihn auf und bewahrte ihn so gerade noch vor einem Sturz; der wäre in seinem Alter fatal gewesen. Mit letzter Kraft schlugen wir uns zur Wurstinsel4 durch, verschnauften dort einen kurzen Moment, ehe wir die Magdalenenstraße erreichten.
Für den restlichen Nachhauseweg brauchten wir noch sehr, sehr lange.

9. August
Als ich heute Erwin von unserem nächtlichen Abenteuer erzählte, brach der in schallendes Gelächter aus und meinte: „Ja, sicher. Ihr und erfolgreich gegen die Mirabella-Bande kämpfen!“ Allerdings erzählte mir Theophilus später, Erwin habe ihn nach der ominösen Broschüre gefragt.


1: Hier sei huschen noch ergänzt durch: trippeln, springen, hüpfen.
2: Von den Medien als „die Daltons vom Naschmarkt“ bezeichnet, treibt die Küchenschaben-Bande seit vielen Jahren ihr Unwesen zwischen „Nordsee“ und Marktamt. Ihre Anführerin, Mirabella von Straten, entstammt einem uralten Adelsgeschlecht, das sich im Laufe der Jahre mehr und mehr dem Räuberhandwerk widmete. Überfälle auf Tauben, kleine Hunde und Mäuse sowie Diebstähle von Salzgurken, Wurstscheiben oder Cremeschnitten (im Ganzen, inklusive Zuckerguss!) werden der Bande zur Last gelegt. Trotz Hinweise aus der zwei- und vierbeinigen Bevölkerung konnten Mirabella und ihren Gesellen bis heute nicht gefasst werden.
3: Wahrscheinlicher ist, dass es sich beim Zwirnknopf um ein Überbleibsel vom Flohmarkt handelt.
4: Eine Einrichtung, in der das namensgebende Produkt – Wurst, nicht die Insel – käuflich erworben werden kann.

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 13. Oktober 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet8. August
Warum nur habe ich Theophilus‘ Wunsch nachgegeben, ein zweites Mal ins Käseparadies einzubrechen. Nein, es gibt nichts zu beschönigen, anders kann man unser Vorgehen nicht nennen: einbrechen. Ich Trottel!
Er wolle seinen Eltern doch nur eine kleine Erinnerung an diese Stadt mitbringen. Und was eigne sich da besser als ein paar Käsekostproben. „Mariahilfer Taler“, schlug ich vor und bereute meinen Sarkasmus in derselben Sekunde. Ob es die wirklich gebe, fragte er, und ob der zum Essen sei oder gar so etwas wie ein Orden. Ich blieb vage: „So ungefähr.“
Theophilus zählte nun Argumente auf, die für einen nochmaligen, „und garantiert letzten Besuch“ im Käseparadies sprachen: „Wir kennen den Eingang. Wir bezahlen den Käse. Ich kann mir den Enterhaken von Erwin leihen, dann kämst du leichter und schneller die Kühlvitrine hoch. Du kannst auch einfach draußen warten. Ich würde mir die Käsewürfel mit dem Enterhaken vom Probierteller angeln und ratzfatz bin ich draußen …“
Hier unterbrach ich seine Argumentationskette mit den Worten: „Auf keinen Fall. Ich komme mit hinein, aber auf die Kühlvitrine musst du alleine.“
Er jubelte.
„Und dann“, ermahnte ich ihn, „ist Schluss mit dem Mäuse-Käse-Paradies.“
Und Schluss wäre auch beinahe gewesen – und zwar mit uns.
Ich halte an dieser Stelle nur fest: Mirabella!

Und was es mit Mirabella auf sich hat, erfahren Sie am 27. Oktober 2015.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 29. September 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet6. August
Waren heute im Käseparadies. Dabei wollten wir in die Technische Universität. Aber auf dem Weg dahin schlug Theophilus einen Abstecher zum Naschmarkt vor. Er hätte so viel über ein Käseparadies gelesen, das sich auf diesem Gelände befinden solle, und das müsse doch das Paradies für Mäuse sein.1 Auf meine Frage, in welchem Käseblatt er denn darauf gestoßen sei, antwortete er: „Onkel Leopold, ich bin erstaunt über deinen Kalauer.“ Touché. Und: Chapeau für dieses Parieren. Ich verkniff mir den Nachsatz, dass die Bezeichnung Hühnerparadies auch nicht das meint, was der Name vorgibt … Nun, zuerst war ich äußerst skeptisch, was dieses Käse-Mäuse-Paradies betraf. Als wir dann davor standen, ich muss zugeben: Ich kam aus dem Staunen nicht heraus!
Was gab es da alles in der Auslage zu sehen: Große, ach was große, riesige! Käselaibe türmten sich übereinander. Echter! Emmentaler – nicht eine fahlgelbe Gummischeibe aus dem Supermarkt – mit Löchern so groß, dass ich sogar meinen Kopf durchstecken könnte; kein Wunder, dass die Menschen so etwas Großlochkäse 2 nennen. Wie sich das schon anhört. Aber hier: ein echter Emmentaler, mit unregelmäßig geformten Löchern, wie es sich gehört. Brie à la Truffe, Brie au lait cru, alle in elegante Holzschachteln verpackt. Wenn bereits die Auslage so verlockend gestaltet war, wie mochte es erst drinnen aussehen? Jedoch: Wie sollten wir hineinkommen, als Mäuse, noch dazu außerhalb der Öffnungszeiten? Davon abgesehen, dass man uns innerhalb der Öffnungszeiten sehr rasch entdeckt, dingfest gemacht und anschließend eliminiert hätte. Vor meinem geistigen Auge las ich die Schlagzeile: „Skandal! Maus steckt in Emmentalerloch fest!“ Wir konnten doch nicht einfach wie gemeine Einbrecher … Während ich mich noch mit diesen Überlegungen beschäftigte, beschäftigte Theophilus sich bereits praktisch mit der Suche nach einem potentiellen Eingang. An der hölzernen Vorderfront vom Käseparadies, direkt unter einer der Auslagescheiben entdeckten wir ein kleines Gitter über einer quadratischen Öffnung. Die rechte untere Kante des Gitters war ein Stückchen weit aufgebogen.
„Vielleicht gelingt es uns, das Gitter noch ein bisschen weiter zu verbiegen, dann könnten wir durchschlüpfen“, schlug Theophilus vor. „Onkel Leopold, stell du dich darunter.“
Ich verstand zuerst nicht, was er wollte. „Willst du etwa …?“
Er nickte: „Genau. Wir machen eine Räuber-Mäuse-Leiter.“ Und schob mich unter die betreffende Stelle. Dann sprang er auf meine Schulter. Ächzend und stöhnend tat er sein Bestes, ruckelte und zerrte am Gitter, rutschte einmal mit der linken Hinterpfote ab, riss mich dabei an meinem linken Ohr, trat ein andermal mit der rechten Hinterpfote in mein rechtes Auge, kitzelte mich mit seinem Schwanz an meiner Nase. Theophilus‘ Gewicht begann schwer auf mir zu lasten. Er hampelte und turnte auf meinen Schultern herum. Schließlich hüpfte er wieder herunter. Schüttelte den Kopf. „Leider, das Ding ist zu stabil.“
Wir setzten unsere Suche fort, inspizierten die andere Seite des Käseparadieses und: da! Zwei Zentimeter über dem Boden führte eine kleine Öffnung in eine Art Entlüftungsgang. Theophilus wollte hineinkriechen, ich aber konnte ihn noch rechtzeitig zurückhalten. „Wir können doch nicht einfach … außerhalb der Öffnungszeiten … stehlen! Außerdem ist es viel zu riskant. Der Gang wird vielleicht immer enger und man bleibt darin stecken. Oder am Ende des Ganges befindet sich eine Mausefalle –und ich meine damit nicht eine Lebendfalle!“, warnte ich Theophilus. „Oder der Alarm geht los, sobald man nur eine Pfote in den Gang setzt und sofort rattern Gitter herunter und man ist gefangen und …“
„Wir versuchen es damit.“ Theophilus hatte, während ich meine Befürchtungen aufzählte, ein Ding mit den Worten „Pedunculus 3 , könnte hilfreich sein“ angeschleppt, schüttelte ein paar vertrockneten Beeren ab, die noch daran hingen, rammte es in den Gang, zog ihn raus, schob es abermals ganz tief hinein, zog es wieder heraus.
„Kein Steckenbleiben, keine Falle, kein Alarm. Wir versuchen es.“ Sprach’s und kletterte hinein.
„Komm sofort wieder raus!“, zischte ich ihn den Gang. Theophilus war in der Zwischenzeit zu weit drinnen. Was blieb mir anderes übrig, als ihm zu folgen. Auf dem Bauch rutschte ich ihm hinterher. Auf dem Bauch ins Paradies für Mäuse.
Ja, es war ein Paradies für Mäuse! Überwältigend. Dieser Duft! Dieses Aroma! Hartkäse, Halbhartkäse, Weichkäse und Frischkäse. Sennkäse und Räucherkäse. Graukäse und Bierkäse. Sbrinz, Gouda, Pecorino, Brie, Roquefort, Tilsitter, Edamer, Gorgonzola, Appenzeller. Zwölf Monate gereift, achtzehn Monate gereift, vierundzwanzig Monate gereift. Mir war ganz schwummerig.
Kaum hatte ich mich von diesem Anblick, diesem olfaktorischen Eindruck erholt, sah ich Theophilus oben in der Kühlvitrine zwischen einer Stange Raclette und einem halben Laib Parmesan verschwinden. Wie war er da hinaufgekommen? Und vor allem in diesem Tempo?
„Theophilus! Theophilus!“ Er hörte mich nicht. Ich musste zu ihm hinauf. Neben der Vitrine waren mehrere Käselaibe stufenartig übereinandergestapelt, auf ihnen konnte ich nach oben klettern. Am letzten Käse angekommen, hatte ich den Eindruck, auf einer Plattform zu stehen.
Die Aussicht war ü b e r w ä l t i g e n d. Unter mir breitete sich ein circa zehn Zentimeter breiter Spalt aus, der mich beziehungsweise meine Käseplattform von der Kühlvitrine trennte. Wenn ich Theophilus einholen will, dann muss ich da hinüber. Meine Knie zitterten. Das vorhin noch herrliche Käsearoma benebelte meine Sinne. Alles drehte sich: die Vitrine, der Stangenraclette, Theophilus. Ich rief seinen Namen ein weiteres Mal. Er hörte mich nicht. Ich musste hinüber.

Ich nahm einen leichten Anlauf und sprang.

„Wow“, hörte ich Theophilus anerkennend sagen. „Warum hast du mich nicht gerufen, dann hättest nicht springen müssen.“
Ich ließ mich erschöpft neben die Kassa fallen. Theophilus stand mit dem Rücken zu mir. Was machte er da? Stopfte er sich etwa die Hosentaschen voll? Ich war empört. Das konnte nicht mehr als Mundraub durchgehen. Ich schämte mich. Diebstahl!
„Theophilus! Stehlen!“
Er drehte sich um, die Backen voll wie ein Hamster.
„Aber du“, er schluckte hinunter, „ich meine, ich, also, wir haben doch Geld.“
Er steckte seine linke Pfote in seine Umhängetasche und zog eine 1-Cent-Münze daraus hervor. Der Enzian auf der Rückseite der Münze war mit grüngesprenkeltem Käse verklebt.
„Wenn wir zusammenlegen, reicht es sogar für ein zusätzliches Stückchen Appenzeller. Mit drei, vier Cent müssten wir auskommen.“
„Junge, siehst du nicht, was da auf den Preisschildern steht?“ Ich deutete auf den Brie. „2,99. Euro. Für zehn Deka.“
„Aber ich habe doch niemals zehn Deka hier eingesteckt. Wie viel sind überhaupt zehn Deka?“
„Hundert Gramm“, erklärte ich.
„Das sind niemals hundert Gramm.“ Er klopfte auf seine Umhängetasche und schüttelte den Kopf. „Niemals.“ Dann fischte er ein kleines gelbes, sehr intensiv riechendes, schon etwas ramponiertes Kügelchen aus der Tasche und hielt es mir vor die Nase. „Probier den hier.“ Ich lehnte dankend ab.
„Wir wollen es für heute gut sein lassen“, sagte ich zu ihm, nahm drei 1-Cent-Münzen aus meinem Geldbeutel und legte sie neben die Kassa.

Wie kamen wir wieder zurück? Nochmals springen? Mir schauderte. Theophilus schien meine Befürchtungen bemerkt zu haben. „Dort drüben“, er zeigte auf einen Holztisch, der direkt an der Vitrine stand, „ist es ganz leicht, man braucht nur an den Tischbeinen hinunterrutschen.“
Wir rutschten.
Wir zwängten uns durch den Entlüftungsgang und gelangten schließlich wieder zu unserem Ausgangspunkt.
Als Theophilus darum bat, noch einen „klitzekleinen Abstecher, bitte, bitte“ in das Gebäude mit den Palatschinken zu machen, setzte ich meine ganze Autorität ein.

Erfolgreich!

1: Das mit den Mäusen und dem Käse ist auch so ein Käse. Normalerweise stehen Getreide, Nüsse, Früchte auf dem Speisezettel. Woher nun Theophilus‘ Begeisterung für Käse kommt? Er weiß es nicht. Somit bleibt die Mäuse-Käse-Frage bis auf Weiteres unbeantwortet. Schade.
2: Unter anderem zu finden in diversen Supermarkt-Postwurfsendungen.
3: Pedunculus, Stielgerüst der Weintraube (Rispe), auch Rappen oder Kamm genannt.

Fortsetzung folgt am 13. Oktober 2015.
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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 1. September 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet1. August

Aha, jetzt haben die Außerirdischen ausgerechnet Mariahilf heimgesucht. Wenn ich Überschriften wie „Kornkreise am Gürtel“ oder „UFO über Wien“ sogar in der „Mäusepresse“ lese, dann weiß ich: Die Saure-Gurken-Zeit hat begonnen. Erwin und Theophilus nehmen diese Meldungen allerdings zum Anlass, um selbst Recherchen anzustellen. Eine Expedition zum Gürtel wollen sie machen! Ich befürchte, ich kann diesen Irrsinn nicht vereiteln und werde mitkommen müssen, um das Schlimmste zu verhindern.

Nachtrag – 23:45 Uhr: Wir überquerten in der Dämmerung den Gürtel. Theophilus‘ und mein Aufschrei, die Ampel stehe auf Rot, wurde von Erwin ignoriert. „Der Bub muss lernen, dass Ampeln für uns bedeutungslos sind“, erklärte er. Außerdem sollten wir damit aufhören, die Ampel als überwachende und strafende Autorität zu betrachten. „Egal, wie schnell wir laufen, wir schaffen es sowieso nie, in einem Zug bei Grün über die Straße zu kommen. Irgendwie ist immer Rot.“ Natürlich verwendete Erwin nicht exakt diese Worte, vielmehr sagte er: „Ist nix zu sehen, los, wurscht, bei welcher Farbe.“ Oft hatte ich unseresgleichen am Mariahilfer Gürtel über den Asphalt hechten sehen; über die Straße, vorbei an den Büschen, über den Radweg, vorbei am Obelisken, vorbei an einer weiteren Buschreihe, über die Geleise der 6-er und 18-er Straßenbahn, nur um einen weiteren – wohlgemerkt: sinnlosen – Versuch zu starten, in einem Rutsch bei Grün den Gürtel zu überqueren. Irgendwie ist immer Rot.

Wir huschten über die Straßenbahngeleise, überquerten den Radweg – Theophilus wäre dabei beinahe von einem Menschen am Tretroller überfahren worden, hätte ich ihn nicht rechtzeitig am Hosenbund zurückgerissen! – und machten uns ein eigenes Bild von der Lage. Kornkreise? Lächerlich. Erstens: Von Korn war da nichts zu sehen, höchstens ein paar Kornblumen, aber die hielten wacker ihre aufrechte Stellung. Zweitens: Die niedergewalzten Grashalme wiesen eine sehr unregelmäßige Zick-Zack-Form auf. Außerirdische? Wenn, dann waren die völlig unkoordiniert durch dieses Gebiet gewankt. Und hinterlassen Außerirdische zerdrückte Bierdosen? Mein Verdacht: Betrunkene Zweibeiner, der sehr heftige Regen gefolgt von einem starken Wind vor ein paar Tagen hatten die Halme plattgedrückt. Erwin wischte alle meine Einwände vom Tisch, indem er behauptete, auf Alerohomora hätte er dieses Phänomen ebenfalls beobachtet, weit und breit waren da keine Menschen gewesen, geregnet hatte es damals seit Wochen nicht mehr, und von Wind keine Spur. Mein Argument, vielleicht seien die Halme aufgrund der Trockenheit umgefallen, hebelte er mit der Behauptung aus: „Ich weiß, was ich gesehen habe.“ Quod erat demonstrandum. Soviel zu Erwins Beweisführung, für ihn war sie damit beendet. Plötzlich vernahmen wir ein Schnarchen; leise zwar, aus dem Rauschen des Verkehrs jedoch deutlich herauszuhören: Theophilus. Er war zwischen den Königskerzen- und Kardestängeln eingeschlafen. Wahrscheinlich waren ihm die Aufregung und die Enttäuschung darüber, dass es doch keine Außerirdischen waren, die die Wiese verunstaltet hatten, zu viel geworden. Wir rüttelten ihn an der Schulter, tätschelten ihm die Wangen, mit Müh und Not bekamen wir ihn fast wach. Mit Theophilus in unserer Mitte machten wir uns auf den Rückweg. Ein Jungmäuserich im Halbschlaf zwischen einer einäugigen Ratte und einer Maus im Gilet, die den Mariahilfer Gürtel bei Rot überqueren.

Was für ein Bild.

Da hätten die Außerirdischen gestaunt …

Nachtrag – 00:02 Uhr: Verkehrslichtsignalanlage – klingt viel besser als Ampel, finde ich.

Fortsetzung folgt am 14. September 2015.
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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 18. August 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Einaeugiger Erwin PortraetDritter und letzter Teil des Berichtes von Erwin, in denen in zwar die Flucht aus der Handtasche gelingt, Herr Leopold aber alles andere als begeistert ist.

Ich sammel ein paar dieser Taschentücher zusammen– gebraucht hin oder her – und versuche, ihm damit den Gatsch wegzuwischen, was mir nur teilweise gelingt.
Bevor ihm nun aber tatsächlich schlecht wird, fallen von oben Lichtstrahlen in die Tasche. Vor lauter Zuckerlattacken, Übelkeit und angerotzter Taschentücher haben wir nicht mitbekommen, dass die Frau das Museum bereits verlassen hat. Ich kletter am Innenfutter hoch und streck meinen Kopf vorsichtig hinaus. Rechts erkenn ich den Flacksturm.
„Jetzt oder nie!“, ruf ich dem Kleinen zu und zieh ihn hoch. Auf drei springen wir aus der Tasche. Ich schnapp den Kleinen an der Pfote und wir rasen am schmiedeeisernen Parktor vorbei auf die Gasse hinaus. Auf der anderen Seite des Gitters beginnen Hunde wir verrückt zu bellen, zum Glück sind die geschlossenen Türen der Hundezone zwischen ihnen und uns. Ich weiß, dass sich weiter vorne in der Schadekgasse das Bild mit dem Fuchs und dem Esel und dem Ratten-Biber befindet. Der Schweiß tropft mir von meinem Schnurrbarthaaren – und der kommt nicht von der körperlichen Anstrengung.
„Reiß dich zusammen, Erwin“, red ich mir zu, während ich den Kleinen noch immer an der Pfote hinter mir nachschleif, „das ist nur ein Bild.“
Ich hab keine Ahnung, wie wir es letztlich bis zum Leo schaffen, aber wir schaffen‘s. Dem Blick vom Leo nach zu urteilen dürfen wir nicht allzu taufrisch aussehen. Der Kleine hat eine Beule am Kopf (vom Zuckerl?), ein Strohhalm schaut ihm hinter dem Ohr hervor, sein Gesicht ist noch immer weiß gesprenkelt vom Tubeninhalt. Meine Hose hat hinten einen langen Riss, mein linkes Knie ist ein bisschen geschwollen und tut weh (vom Sprung aus der Tasche?), außerdem hab ich einen seifigen Geschmack im Mund (ich hätt in der Tasche nicht von der Creme kosten sollen). Nachdem uns der Leo notdürftig versorgt hat, raunzt er herum, dass er nicht weiß, wie er das den Eltern vom Theophilus erklären soll; was, wenn dem Theophilus ein Schaden bleibt; was, wenn er traumisiert ist. Ich lege ihm beruhigend meine Pratze auf die Schulter und schlag ihm vor, einfach nix zu sagen. „Bis der Kleine heimfährt“, ich werf einen Blick auf ihn, „ist er wieder hergestellt.“

Und der Blick vom Leo? Naservas!

Die nächsten Abenteuer von Herrn Leopold und Co. folgen wieder im gewohnten 14-tägigen Abstand, also am 1. September 2015.
Da gibt’s dann Kornkreise zu bewundern.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 11. August 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Notizen aus Wien-Mariahilf

Einaeugiger Erwin PortraetFortsetzung des Berichtes von Erwin, worin Theophilus im Foltermuseum verschwinden, auf den Schultern eines üblen Bursches landen, Unheil in einer Perücke anrichten und ihnen eine Gesichtscreme beinahe zum Verhängnis wird.

Beide sitzen wir jetzt auf der Schulter eines ganz üblen Burschen.

Dann bleibt mir fast das Herz stehen. Eine Frau beobachtet uns. Keine Ahnung, wie lange die bereits dasteht. Sie rührt sich nicht. Gehört die vielleicht zur Einrichtung? Ich deute dem Kleinen, dass wir uns jetzt aber ganz flott über die Häuser hauen sollen. Und was macht der? Der erklimmt schnurstracks das linke Ohr vom Folterknecht, klettert weiter hinauf auf den Kopf und balanciert dort oben, mitten auf dem seiner Perücke!, elegant auf der rechten Hinterpfote. Die Frau verfolgt dem die Vorstellung mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Die ist also echt. Der Kleine dreht sich ein paar Mal um seine eigene Achse, winkt der Frau zu und verneigt sich. Ich sitz da wie angewurzelt. Die Frau steht da wie angewurzelt. Und dann: Applaus! Sie klatscht in die Hände und ruft „Bravo!“, zeigt mit dem Finger auf den Theo und ruft entzückt: „Fantastisch, die haben sogar computergesteuerte Mäuse als Requisiten.“ Im selben Moment seh ich, wie der Kleine das Gleichgewicht verliert, sich in letzter Sekunde an der Perücke festkrallt, dann jedoch mitsamt der Perücke, und mit einem langgezogenen „Uaaaaah“ an mir vorbeirauscht. Ich bekomm in letzter Sekunde ein Haarbüschel zu fassen, es entgleitet meinen Pfoten, beide brettern wir mit einem Höllentempo in Richtung Steinboden. Derweil explodiert in meinem Schädel ein Feuerwerk an Gedanken: Hab ich dafür die Sieben Meere bereist, dass ich jetzt so würdelos in einer Perücke mein Ende find? Warum hab ich mich nur breitschlagen lassen von dem Kleinen? Wie soll ich das dem Leo erklären? Aber wenn ich unten ankomm, brauch ich dem eh nichts mehr zu erklären, so zergatscht, wie wir gleich sind.
Es macht „Krchzwt“, um mich ist es völlig finster und mich sticht was in den Hintern. Naservas. Für einen Moment hab ich die Orientierung verloren. Wo ist oben? Wo ist unten? Ich werd leicht wurlad.
„Erwin?“, hör ich den Kleinen flüstern, „wo sind wir gelandet? Mich kitzelt etwas im Ohr.“
Ich greif dahin, was ich für oben halte und fühl was Weiches, Haariges, ich greif nach dem vermeintlichen Unten und spür was Langes, Rundes. Ich schnupper daran. „Ich vermut, wir sitzen in einem Strohhaufen, unter der Perücke.“
Ich nehm einen Halm und kost ihn. Kulinarisch berauschend ist er nicht, er ist trocken und schmeckt nach altem – Stroh. Durch die Perücke hören wir dumpf die Bravo-Rufe der Frau. Hastig nähern sich Schritte. Ich nehm nur Wortfetzen von der Frau wahr „Gratuliere … Darbietung großartig … Computer … Mäuse“ und wunder mich, dass manche Menschen Mäuse nicht von Ratten unterscheiden können. Dann hör ich eine andere, sehr tiefe Stimme sagen „… von Computermäusen weiß … nichts … Ungeziefer … nichts verloren … Kammerjäger“. Was folgt, ist ein langer gellender Schrei und sich schnell entfernende Schritte. Das ist der Moment, in dem wir uns ebenfalls schnell entfernen sollten. Noch immer liegen wir unter diesem Haarungetüm, das erstaunlich schwer ist.
„Los, vorwärts“, ruf ich.
Ich hör, wie der Kleine sich mit Mühe aufrappelt. Wir bewegen uns drei Schritte vor und stoßen gegen etwas Hartes. Es scheppert. Wir gehen zwei Schritte zurück, halten uns nach links, stoßen nochmals nach vor, krachen abermals wo dagegen. Es scheppert ein weiteres Mal. Was ist das? Eine Daumenschraube? Eine Schandmaske? Vom Aufprall brummt mir der Kopf noch etwas. Wir müssen aus dieser Perücke heraus. Dann flammt oranges Licht auf. Der Kleine hält ein brennendes Streichholz in die Höhe. Für einen kurzen Moment können wir uns ein Bild von unserer Umgebung machen: Schwarze Schlaufen durchziehen die Innenseite des künstlichen Haarteils, das sich wie eine Kuppel über uns breitet. Die Flamme verlischt. Nach einigen Augenblicken glaub ich, das Zerreißen von Stoff zu hören. Kurz darauf erspäh ich ein Quadrat, durch das Licht in die Perückenkuppel hereinströmt. Ich sehe den Kleinen durch dieses Quadrat nach draußen schlüpfen. Er winkt mir mit der einen Pfote, während er in der anderen ein Messer hält, das er sogleich in seiner Umhängetasche verstaut. Hat er? Es bleibt keine Zeit, die Frage jetzt zu besprechen. Ich kletter ebenfalls hinaus. Wir schaffen‘s gerade noch rechtzeitig, uns hinter dem breiten Holzpfosten zu verstecken, auf dem viele Marterwerkzeuge hängen. Da kommt auch schon der Eintrittskartenverkäufer mit einem Besen dahergewetzt und drischt auf die Perücke ein. „Mistkäfer, elendige!“, flucht er und wird ganz rot im Gesicht. Schwungvoll macht er kehrt und stiefelt zurück zum Eingang. Die nun völlig zerdepschte Perücke lässt er liegen.
„Wir kommen wir jetzt ins Freie?“, flüstert der Kleine.
Eine gute Frage, schwirrt’s mir durch den Kopf. Und dann steht die Rettung fast vor unserer Nase.
Eine weitere Besucherin studiert eingehend die Funktionsweise von Daumenschrauben, Eisernen Stiefeln und Stachelstuhl. Als sie sich nach unten beugt, um eine Zwickzange genauer zu betrachten, stellt sie für einen kurzen Moment ihre enorm große – offene! – Handtasche auf den Boden. Das ist unsere Chance. Wir galoppieren von unserem Versteck zur Tasche, klettern in Windeseile hinein und platzieren uns zwischen benutzten Taschentüchern, einem Parfümfläschchen, einem Handy und anderem Klimbim. Als die Tasche hochgehoben wird, dreht sich mir fast der Magen um und ich sehn mich nach einem Glaserl Nussschnaps. Die Frau hat einen sehr beschwingten Gang. Bei diesem Hin- und Hergeschaukle fallen ein paar Zuckerln aus einem offenen Papiersackerl, eines donnert mir auf den Schwanz, ein anderes kracht dem Kleinen auf den Kopf.
„Irgendwann musste die doch fertig sein mit ihrer Besichtigung“, fluch ich.
Plötzlich macht die Tasche einen gewaltigen Schlenker, ich kippe nach vorn und fall auf eine Tube. Der Verschluss ploppt weg wie ein Sektkorken und weiße Creme schießt hervor – dem Kleinen ins Gesicht.
„Ich glaub, mir wird schlecht“, jammert er.

Kann Erwin die Situation retten? Gelingt den beiden die Flucht aus der Handtasche?
Lesen Sie nächste Woche am 18. August den dritten Teil von Erwins Bericht.

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