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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 19. Mai 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Frau Elsbeth PortraetVor zwei Wochen erschien der Tagebuchausschnitt, in dem Herr Leopold u.a. kurz auf die beinahe-Schwalbentragödie hinwies. Heute erfahren Sie Genaueres darüber. Das transkribierte und aus dem Mausischen übersetzte Radiointerview mit Frau Elsbeth in „Held der Woche“, einer wöchentlichen Sendung auf FM-AUS mit Kasimir Šrevitz.

Mitschnitt der Sendung vom 31. Juli, 14.05-14.15 Uhr 1

Intro, Jingle

Ansage – Kasimir Šrevitz: Hey folks und friends von „Held der Woche“. Heute wieder mit Kasimir Šrevitz, sowie Almut Almý an den Reglern und Rupprecht aus dem Emmental am Regiepult. Als Gast in Studio begrüße ich heute Elsbeth, die mit einer, wow, extremen Extrem-Tat fünf Schwalbenkinder vor dem Verhungern gerettet hat. Hallo, Elsbeth.
Frau Elsbeth: Guten Tag.
Šrevitz: Elsbeth, ich darf du sagen, ja. Haha. Ja, also Elsbeth, du bist von deinen Nachbarn und Nachbarinnen (wir wollen heute ein bisschen geschlechtergerecht sprechen, haha) in der Windmühlgasse sowie von Zeuginnen (mit kleinem i, haha) und Zeugen des Vorfalls vor einigen Tagen zur Heldin dieser Woche gekürt worden.
Frau Elsbeth: Ja.
Šrevitz: Und was sich da abgespielt hat, hört ihr gleich nach der nächsten Nummer von den Toten Socken.

Musik

Šrevitz: Da sind wir wieder. Das waren die Toten Socken mit ihrem heurigen Top-Sommerhit „Wo geh ich ohne Hose hin“. Ihr lauscht der Sendung „Held der Woche“ und heute begrüße ich eine Heldin, haha, Elsbeth. Sie hat kürzlich eine Extrem-Wahnsinnsheldinnentat vollbracht. Fünf Schwalbenkids vor dem Verhungern bewahrt. Elsbeth, erzähl uns doch kurz die Vorgeschichte.
Frau Elsbeth: Ja, also … da …
Šrevitz: … entschuldige, wenn ich dich unterbreche. Ich gebe meinen Listenern eine kurze Vor-Info: Die Schwalbenkinder sind da am Dachboden …
Frau Elsbeth: … in der Steinrosette …
Šrevitz: … in der Steinrosette in der … nicht aus Fun und Tollerei gehockt. Und nun, Elsbeth, erzähl uns deine Story.
Frau Elsbeth: Ich sollte vielleicht kurz erwähnen, dass ich das Schwalbenehepaar Herr und Frau D’Orsette mittlerweile zwei Jahre kenne. Oft haben sie mir aus luftiger Höhe Mückenkuchen zukommen lassen, äh, also sie ließen ihn im Vorbeifliegen in den Garten in der Magdalenenstraße fallen. Da wohne ich im Sommer nämlich. Die Familie D’Orsette nutzt schon seit vielen Generationen den Platz zwischen Dachgiebel und Hausmauer, in einer Steinrosette.
Šrevitz (mit bedauernder Stimme): Und dann hat das Unglück seinen Lauf genommen.
Frau Elsbeth: Ja, denn da sind plötzlich …
Šrevitz (wieder mit fixer Stimme): Bevor’s nun weitergeht und es zum dramatischen Höhepunkt kommt, ein weiterer Top-Sommerhit. Die Hippi-Zippis mit ihrem „Schalalu“.

Musik

Šrevitz: So, nach Schalalu, weiter mit Oh, là là, wie der Franzose sagt, haha. Elsbeth und die D’Orsettes, deren Kinder vor dem Verhungern gerettet wurden. Elsbeth hat’s ja bereits angekündigt, vor zwei Wochen wurde damit begonnen ein riesiges, riesiges, hohes Baugerüst hochzuziehen. Elsbeth, wie ist es dann weitergegangen?
Frau Elsbeth: Nun, zuerst hat es noch keinen Anlass zu großer Sorge gegeben. Herr und Frau D‘Orsette konnten ihre Wohnung zwar mit einigen Hindernissen, aber immerhin noch erreichen. Obwohl, die Baumenschen haben natürlich viel Unruhe in ihr Leben gebracht. Das wirkliche Problem, Herr Švrevitz …
Šrevitz: Kasimir, einfach Kasimir, haha.
Frau Elsbeth: Das wirkliche Problem, Herr … Kasimir, hat einige Tage später begonnen, als ein Netz um das Baugerüst gespannt wurde.
Šrevitz: Leute, wisst ihr, was da geplant ist? Wir lösen das Rätsel gleich nach dem nächsten Song von Siri Butterfinger mit ihrem Schmeichelweichel-Song „Gimme your Grammelschmalzbrod“.

Musik

Šrevitz:
Ja, Leute, ihr lauscht noch immer der Sendung „Held der Woche“, dieses Mal mit einer Top-Rettungsaktion in Top-Höhe. Fünf Schwalbenkinder wurden gerettet von Elsbeth, die ich heute hier in den heiligen Studiohallen, haha, begrüße. Netz und Baugerüst, was steckt da dahinter. Einige Schlauköpfe haben’s vielleicht zwischenzeitlich bereits erraten: ein Dachbodenausbau. Klingt easy, hat aber für einige geflügelte Mitbewohner schlimme Folgen, wie uns jetzt Elsbeth schildern wird.
Frau Elsbeth (hörbar darum bemüht, ihre Geschichte jetzt ohne Unterbrechung fertig erzählen zu können): Die Folge: Auf einmal sind Herr und Frau D‘Orsette von ihren fünf frisch geschlüpften und überaus hungrigen Kindern abgeschnitten. Frau D’Orsette ist ganz aufgeregt über meinem Sommersalettl gekreist und hat mir aus luftiger Höhe von dem Unglück erzählt. Da wird mir klar: Die Sache eilt, duldet keinen Aufschub. Meine Güte, diese Schwalbenkinder müssen ja fast minütlich gefüttert werden und ich mache mich …
Šrevitz: … und das sicher nicht mit Pommes und Hamburgern, haha …
Pause – betretenes Schweigen, dann setzt Frau Elsbeth fort: … und ich mach mich auf den Weg in die Otto-Bauer-Gasse, da quert von links, aus dem Richard-Waldemar-Park kommend, der Einäugige Erwin meinen Weg. Ein Bekannter von mir, der gern in den städtischen Parks herumstreunt und nach Essbarem sucht … Na, lassen wir das. Während wir nun zu zweit zum Unglücksort laufen, schildere ich ihm kurz die Situation. Dann sind wir schon vor dem Haus gestanden.
Šrevitz: Waaahnsinn, dieser Todesmut. Todesmutig bist du das Gerüst hinaufgeklettert. Wie hoch war das nochmal?
Frau Elsbeth: 500 Groß-Pfot 2.
Šrevitz: Waaahnsinn. 500 Groß-Pfot!
Frau Elsbeth: Ich bin aber nicht alleine hinaufgeklettert. Erwin hat versucht, mir über das Netz zu folgen. In circa acht Meter Höhe ist er plötzlich hängengeblieben. Ach, es war schrecklich anzuschauen, wie Erwin da im Bau-Netz baumelte. Aber ich musste weiter.
Šrevitz: Und dann hast du dich vorgehantelt bis zur …
Frau Elsbeth: … zur Steinrosette …
Šrevitz: … bis zur Steinrosette, wo …
Frau Elsbeth: Da habe ich das ganze Ausmaß des Dilemmas erst wirklich erkannt: Die fünf haben noch nicht fliegen können und an Evakuieren war nicht zu denken.
Šrevitz: Aber dann, der absolute Brainblizzard. Elsbeth, was ist dann passiert?
Frau Elsbeth: Ich habe nochmals auf Erwin runtergeschaut. Der hing zuerst da wie eine Fliege in einem Spinnennetz und dann habe ich gesehen, was er macht: Er hat ins Netz gebissen. Zuerst hat‘s mich geekelt, aber ich habe es gemacht: Ich habe ein Loch ins Netz geknabbert.
Šrevitz: Waaahnsinn.
Frau Elsbeth: Das Loch war groß genug, damit die Eltern ungehindert durchschlüpfen und ihre Kinder versorgen konnten.
Ich hoffe nur, die Kleinen werden rechtzeitig flügge, bevor das Loch wieder repariert wird.3
Šrevitz: Das hoffen wir auch. Und Erwin?
Frau Elsbeth: Der hat sich schließlich befreien können und …
Šrevitz: Waaahnsinn. Das war heute wieder eine Hammerstory. „Held der Woche“, heute mit Elsbeth und ihrer Schwalbenrettungsaktion. Tschau Elsbeth. Danke fürs Kommen.
Tschau-Tschau, Leute, bis zur nächsten Woche, wo wieder ein Held, oder eine Heldin, mit kleinem i, haha, gekürt wird.

Outro – Jingle


1 Bereits im vergangen Sommer war Frau Elsbeth „Held der Woche“ – so der Name der gleichnamigen Radiosendung von FM-AUS. Genaugenommen war sie Heldin der Woche. FM-AUS sendet aus der Webgasse und kann dank Internet von der Mäusecommunity weltweit empfangen werden.
Theophilus hielt es für eine gute Idee, dieses Interview zu veröffentlichen. Ich beugte mich seinem Wunsch und nahm telefonisch Kontakt mit dem Sendungs- und Regieverantwortlichen Ruppert aus dem Emmental auf. Ein Kennenlernen Rupperts in den Räumlichkeiten des Senders war mir aufgrund der Größenverhältnisse logischerweise nicht möglich, sodass diese Aufgabe Theophilus übertragen wurde. Da Mäuse keine Straßennummerierung vornehmen, mussten wir uns an die Wegbeschreibung von Ruppert aus dem Emmental halten („Der Eingang wird von ein paar Schwammerln gesäumt.“). Seine etwas vagen Angaben hatten zur Folge, dass wir jeden Gingkobaum in der Webgasse genau unter die Lupe nehmen mussten. Unter einem sehr windschiefen Exemplar gegenüber der Österreichischen Mediathek – sie enthält 1 Million Tonaufnahmen und Videos zur österreichischen Kultur- und Zeitgeschichte der Menschen – wurden wir schließlich fündig. Gemeinsam mit Ruppert aus dem Emmental und der Technikerin Almut Almý tauchte Theophilus in die Tiefen des Senderarchives ein und ackerte sich durch eine Unzahl von Aufnahmen. Nach beinahe drei Stunden hatten sie den Mitschnitt gefunden – auf dem Laptop von Almut Almý. Theophilus erhielt eine Kopie von der Datei. Ich machte mich anschließend an die Transkription des Interviews und übersetzte es mit Hilfe von Frau Professor Mechthild Scheiblett aus dem Mausischen. Das Resultat findet sich auf der folgenden Seite. Übrigens bekam nicht nur Frau Professor Scheiblett Kopfschmerzen beim Stimmenklang von Kasimir Šrevitz …

2 1 Groß-Pfot entspricht circa einem Siebtel eines durchschnittlichen Menschenfußes = 4 Zentimeter. Frau Elsbeth war also 20 Meter hochgeklettert. Waaahnsinn!

3 Die Rettung war gelungen, jedoch sollte Familie D’Orsette bald darauf ihre Sommerbleibe endgültig verlieren. Über dem ehemaligen Schwalbendomizil prangt nun funkelndes Fensterglas.

Fortsetzung folgt am 2. Juni 2015.

Alle bisherigen Abenteuer von Herrn Leopold finden Sie hier.

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 5. Mai 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet

8. April

‚Wer Tauben füttert, füttert Ratten!‘ Pah!“ Und schon hatte Erwin der Tafel im Blumenbeet beim Therese-Sip-Park einen entschlossenen Tritt versetzt, die daraufhin kräftig ins Wanken geriet. Er tobte und schrie Dinge wie „Ich ess doch nicht dieses Klumpert, was die Menschen den armen Teufeln zum Fraß vorwerfen! Schimmliges Brot, gatschigen Kuchen, ungekochten Reis! Pfui!“ Und spuckte aus. Seine Ungehobeltheit ist manchmal schier grenzenlos.1
Sofort fiel mir der Satz ein: „Wie seine eigene Spucke schmeckt, das weiß man nicht.“2 Ich glaube, er stammt von einem gewissen Joachim Ringelnatz, dessen Werke ich unlängst bei Findners entdeckt habe.

28. April

Die Schwalben und Mauersegler sind zurück! Hoffentlich bleibt uns heuer eine (fast) Tragödie wie letztes Jahr erspart.3


1 Bei unseren Recherchen entdeckten wir dieses Schild. In der Zwischenzeit hatte jemand mit einem schwarzen Stift den Satz dazu geschrieben: „Wir sind die Ratten.“ Erwin beteuert, nichts mit der Kritzelei zu tun zu haben.

2 Korrekt. Und weitere zwei Zeilen lauten: Wenn man in seinen Spiegel leckt, kriegt man die Spucke zu Gesicht. Das muss durchaus kein Spiegel sein. Man kann aufs Sofa, auf die Hand, man kann auf jeden Gegenstand, wenn man nur richtig hintrifft, speien. Aus Joachim Ringelnatz‘ „Betrachtungen in einer Bahnhofswartehalle“.

3 Bereits im vergangenen Sommer war Frau Elsbeth „Held der Woche“ – so der Name der gleichnamigen Radiosendung von FM-AUS. Genaugenommen war sie Heldin der Woche. FM-AUS sendet aus der Webgasse und kann dank Internet von der Mäusecommunity weltweit empfangen werden.
Theophilus hielt es für eine gute Idee, dieses Interview zu veröffentlichen. Ich beugte mich seinem Wunsch und nahm telefonisch Kontakt mit dem Sendungs- und Regieverantwortlichen Ruppert aus dem Emmental auf. Ein Kennenlernen Rupperts in den Räumlichkeiten des Senders war mir aufgrund der Größenverhältnisse logischerweise nicht möglich, sodass diese Aufgabe Theophilus übertragen wurde. Da Mäuse keine Straßennummerierung vornehmen, mussten wir uns an die Wegbeschreibung von Ruppert aus dem Emmental halten („Der Eingang wird von ein paar Schwammerln gesäumt.“). Seine etwas vagen Angaben hatten zur Folge, dass wir jeden Gingkobaum in der Webgasse genau unter die Lupe nehmen mussten. Unter einem sehr windschiefen Exemplar gegenüber der Österreichischen Mediathek – sie enthält 1 Million Tonaufnahmen und Videos zur österreichischen Kultur- und Zeitgeschichte der Menschen – wurden wir schließlich fündig. Gemeinsam mit Ruppert aus dem Emmental und der Technikerin Almut Almý tauchte Theophilus in die Tiefen des Senderarchives ein und ackerte sich durch eine Unzahl von Aufnahmen. Nach beinahe drei Stunden hatten sie den Mitschnitt gefunden – auf dem Laptop von Almut Almý. Theophilus erhielt eine Kopie von der Datei. Ich machte mich anschließend an die Transkription des Interviews und übersetzte es mit Hilfe von Frau Professor Mechthild Scheiblett aus dem Mausischen. Das Resultat findet sich auf der folgenden Seite. Übrigens bekam nicht nur Frau Professor Scheiblett Kopfschmerzen beim Stimmenklang von Kasimir Šrevitz …

Die Fortsetzung – das Radiointerview mit Frau Elsbeth – folgt am 19. Mai 2015.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 21. April 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Herr Leopold Portraet5. April

Eine Ratte ist eine Ratte ist eine Ratte. Und ein Biber ist ein Biber ist ein Biber. Jedoch: Erwin ist davon nicht zu überzeugen. Wie kann eine erwachsene Ratte – noch dazu eine mit Erwins Vergangenheit! – sich vor einem Grafitto fürchten? Ja, ein Fuchs ist dabei, und ein Wesen, das einem Esel ähnelt. Ja, es sieht so aus, als würde der Fuchs über eine Chimäre aus Ratte und Biber herfallen. Und ja, zugegeben, das alles ist riesengroß! Sogar Menschen müssen die Straßenseite wechseln, um es in seiner Gesamtheit betrachten zu können. Wenn wir nur in die Nähe dieser Straße1 kommen, wird Erwin seltsam angespannt. Er meidet diese Stelle, um es mit Erwins Worten zu formulieren: wie die Pest.

7. April

„Kirchenmaus rettet Besucher der Gumpendorfer Kirche vor Beichte“

Ich bin sehr stolz auf Elsbeth. Sie meint allerdings, dass der Titel des Zeitungsartikels doch etwas über den tatsächlichen Ablauf hinausschieße.2

Übersetzung des Artikels über Frau Elsbeths Rettungsaktion in der Gumpendorfer Kirche. Quelle: „Dreikäsehoch“ vom 7. April.

Kirchenmaus rettet Besucher der Gumpendorfer Kirche vor der Beichte

Mariahilf: Am Montagvormittag konnte ein Besucher der Gumpendorfer Kirche durch das beherzte Eingreifen von Kirchenmaus Elsbeth N. vor einem großen Unglück bewahrt werden. Eine 20-köpfige Reisegruppe, bei den Touristen handelte es sich um Haselmäuse aus Dortmund, fand sich gegen 10 Uhr vor der Kirchenbank, dritte Reihe links ein. Während der einleitenden Worte von Elsbeth N. zur Geschichte des Bauwerkes stellte eine Mitreisende die Abwesenheit von Ferdinand F. fest. „Wir lauschten den Ausführungen über den heiligen Ägydius, plötzlich war er weg“, so Brunhilde B. „Die Gefahr, sich unter den Kirchenbänken zu verlaufen oder gar von einem herunterrutschenden Gesangsbuch „Gotteslob“ getroffen zu werden war einfach zu groß, als dass ich noch länger warten konnte“, gab die Kirchenmaus als Grund für die unverzügliche Suche an. Schließlich vernahm Frau Elsbeth N. ein leises Klopfen, das aus dem Beichtstuhl kam. Herr F. war im Beichtstuhl eingeschlossen. Mit vereinten Kräften gelang es schließlich Elsbeth N. und ihrer Gruppe, die Türe einen Spaltbreit zu öffnen. Ferdinand F. konnte sich durch die Öffnung zwängen, dabei wurde sein Schnurrbart ramponiert, der jedoch kurz danach wieder seine normale Form annahm. Wie war er in diese missliche Lage geraten? „Die Türe ging plötzlich auf, ich dachte, das ist der nächste Besichtigungspunkt und die Gruppe kommt gleich nach. Ich schlüpfte hinein. Als die Tür hinter mir zufiel, bemerkte ich den Irrtum“, berichtet der erschöpfte, aber nach seiner Rettung sichtlich erleichterte Herr F. Bereits kurze Zeit später konnten die Dortmunder Haselmäuse ihre Besichtigung ohne weitere Zwischenfälle fortsetzen.(mpg)


1 Unsere Vermutung, es handle sich um das Graffito in der Schadekgasse, wurde von Erwin bestätigt. Er macht übrigens nach wie vor einen sehr, sehr groooßen Bogen um diese Stelle.
2 Frau Elsbeths Feststellung ist zuzustimmen.

Fortsetzung folgt am 5. Mi 2015.

Alle bisherigen Abenteuer mit Herrn Leopld finden Sie hier.

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 7. April 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf

Einaeugiger Erwin Portraet Bericht und Ergänzung von Erwin: Worin seine Erfahrungen als Schiffsratte von hervorragendem Nutzen sind, jedoch das Tee-Exportvolumen Indiens im Jahr 1865 sogar für ihn eine Nummer zu groß ist.

Hier geht’s zu Herrn Leopolds Tagebucheinträgen vom 3. und 4. April, auf die Erwin sich im Folgenden bezieht.

Foliant nennt man das. Aha. In meinen Augen war das ein riesiges Trumm von einem Büchl. Der Leo und ich stehen also vor diesem Regal. Ich, wie immer, wenn wir zu den Findners stiefeln, ausgerüstet mit meinem Enterhaken und meinem Fernrohr. Einige Minuten schaut der Leo so durchs Rohr – ich frag mich, was es da zu sehen gibt, rührt sich ja nix –, er schaut und schaut und dann zeigt er auf das rote Ungetüm, das schräg an einem grünen lehnt, und bittet mich, dass ich den Haken hinaufwerfe, um die Lage dort oben höchstpersönlich „zu sondieren“. Naservas, denk ich, das wird keine leichte Sache. Obwohl, ich bin ja früher auf der „Mausolos“ die Takelage hoch wie nix, auch wenn mir der Atlantiksturm um und in die Ohren gepfiffen hat.

Aber für den Leo mach ich eh fast alles. Das Büchl steht recht weit oben, da reicht das Seil mit dem Enterhaken nicht aus. Ich muss zuerst ein Stückerl raufklettern, komm mir dabei vor wie diese Kraxler, die wie die Spinnen am Flacksturm im Esterházypark picken. Fast rutsch ich von einem Gedichtbuch ab. Kann mich aber grad noch am Umschlag von der „Wiener Küche“ festhalten. Reiß dabei den Teller mit der Beilage ein, also, das Bild mit dem Teller mit der Beilage, ich glaub, das war ein Semmelschmarrn. Oder war’s ein Rotkraut? Ich krall mich am Buchdeckel fest, da beginnt das Kochbuch, das gefährlich weit über das Regalbrettl hinausschaut, auf und ab zu schaukeln. Ich seh mich bereits mitsamt der „Wiener Küche“ abstürzen. „Erwin“, sag ich mir, „wenn diese Geschichte gut ausgeht, dann isst ab morgen weniger.“
Ich schau nach unten. Naservas!, der Leo hat tellergroße Augen und dreht nervös an seinen Schnurrbarthaaren. Ich schaff‘s, mich an der „Wiener Küche“ hochzuziehen 1. Mit einem Satz spring ich auf einen dicken Wälzer, der aufgeschlagen daneben liegt, und land in einem Schwarz-Weiß-Foto. Auf dem sind riesige Räder zu sehen. Ich brauch eine Weile, bis ich die krakeligen Buchstaben unter dem Foto entziffert hab: „Maschinenhalle der Unterstation Kaunitzgasse“ steht da, und dass die um 1907 zum Beispiel das Raimundtheater mit Strom versorgt hat. Das wär was für den Leo überleg ich und blätter weiter. Da find ich das Bild von einem Gebäude. Enorm! Und ich les: „Eingang in das Polizeigefangenenhaus (alte Theobaldgasse, heute Fillgradergasse)“. Das ist interessant, denk ich, das liegt ja fast bei mir ums Eck. Ob da der Rote Wickerl – so haben‘s meinen Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa genannt – auch eingekastelt war? Ich glaub‘s eher nicht. Der hat angeblich jeden Schlupfwinkel in der gesamten Laimgrube 2 gekannt, um sich zu verstecken. Da hat er eh guten Grund dazu gehabt, weil er war damals dabei bei der Gründung von diesem Wanderrattenbildungsverein. Das hat den feinen Ratzherrenbinkeln überhaupt nicht gepasst. Häuslratzen und Bildung! Den Roten Wickerl haben‘s sogar steckbrieflich gesucht. Der Opa hat den Wisch in seiner Kramurikiste aufgehoben.

Steckbrief Erwins Ur Ur Ur Opa

Abbildung 3: Der Steckbrief von Viktor Pratz, dem Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa vom Einäugigen Erwin, der das Dokument in der Kramurikiste seines Opas aufbewahrt.

Und während ich so studier, wachelt der Leo unten umher und deutet auf eine Stelle über mir, eben auf dieses Foliending. Das aufgeschlagene Büchl, auf dem ich grad steh, hat nicht nur interessante Bilder, sondern dient auch bestens als Plattform. Ich stell mich auf das Bild vom Gefängnishaus, schnapp mir den Enterhaken, fass das Ziel ins Auge, lass den Haken ein paar Mal über meinem Kopf kreisen, und – zack!, schon hängt der Haken am Buchrücken vom Folanten fest. Ich nehm das Seilende in die Pfoten und kletter vorsichtig hoch. Ich seh die goldigen Buchstaben immer näher kommen und merk, dass der Folant langsam vornüberkippt. Einmal mehr denk ich: Erwin, ab morgen nimmst ab. Und hoff, dass ich es noch rechtzeitig schaff. Vergeblich. Das Buch kippt aus dem Regal. Ich seh nur noch das Muster vom Fliesenboden auf mich zukommen. Blaue Quadrate, gelbe Kreise. Mich überholt eine Karte vom Kap der Guten Hoffnung, und während ich mich noch frag, ob ich die vielleicht versehentlich wo rausgerissen hab, land ich in einem blauen Fliesenquadrat. Das Letzte, was ich seh, bevor es um mich kurz schwarz wird, ist das Tee-Exportvolumen Indiens im Jahr 1865, das mich unter sich begräbt. Irgendwie gelingt’s mir, mich aus dem Folanten hervorzuwurschteln. Mir ist ganz blümerant. Ich seh zwei Leos herbeieilen, fuchteln und in Stereo fragen, ob mir was passiert ist. Der Doppel-Leo stolpert über ein gelbes Heftl, das ist wahrscheinlich gemeinsam mit dem roten Pracker runtergefallen.

Als der doppelte Leo näher kommt, ist es nur noch ein Leo. Zum Glück. Trotzdem will er mich zu seinem Arzt – dem Doktor van Keehs – schicken, weil der würde auch Ratten behandeln. „Nein, danke“, brumm ich, „mein Kopf ist noch dran, das ist die Hauptsach.“ Der Leo will mich heimbegleiten. Ich wink ab. Das fehlt mir noch, der Leo bei mir zu Hause. Das würd ihm nicht sehr gefallen.

Draußen vor dem Geschäft verabschieden wir uns. Ich spür den besorgten Blick vom Leo, bis ich hinter dem Elektrokastl, auf dem jemand ein gelbes Manderl gepinselt hat, verschwunden bin. Ich muss kurz verschnaufen. Zugegeben, meine Knie sind ein bisserl weich, aber ich schaff den Weg heim.

Bei Findners war ich seitdem nicht mehr drinnen, da war’s ja auf der „Mausolos“ sicherer.

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1 Erwin ersuchte um folgende Ergänzung: „Jetzt bin ich mir sicher, es war ein Rotkraut.“

2 In den Memoiren des ehemaligen Ratten-Gefängnisdirektors Joseph Köttelgeier („Meine Memoiren als Ratten-Gefängnisdirektor“, erschienen im Rotzfrech-Verlag; das Buch ist vergriffen und nur mehr antiquarisch erhältlich) findet sich ein Hinweis auf einen Viktor Pratz. Dieser war zu einer Haftstrafe von 25 Tagen verurteilt worden, weil er sich trotz Verbotes im Rattenbildungsverein politisch engagiert hat. Nach zwei Tagen gelang ihm die Flucht, er tauchte unter, die Justiz konnte seiner nicht mehr habhaft werden. Erwins Behauptung, dass es sich bei Viktor Pratz um seinen Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Opa handelt, ist nicht ganz von der Pfote, ähem, von der Hand zu weisen.

Fortsetzung folgt am 28. April 2015.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 24. März 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Mariahilf

Herr Leopold Portraet3. April

Der Wind hat sich heute etwas gelegt. Er kommt nun aus dem Westen. Weht in exakt jener Geschwindigkeit, die es braucht, um die Lautsprecherdurchsagen vom Westbahnhof zu mir in die Fügergasse zu tragen, auch wenn auf dem Weg hierher immer wieder Teile verloren gehen, sodass ich nur Fragmente zu hören bekomme: „Zug aus … fährt auf Bahnst…“, „Vorsicht Bahnsteig drei, Zug …“ oder „… hat neunzig … Verspätung“. Dieser Wind treibt das oft hektische Klingeln der Straßenbahnen 6 und 18 vor sich her, jagt es bis vor meine Haustür.

4. April

„Bibliotheken sind Orte des Glücks.“ Welch wunderbarer Satz. Leider nicht von mir. Aus einem Zeitungsartikel winkt er mir entgegen.
Ich möchte ergänzen: Auch ein Malvenhain ist ein Ort des Glücks. Speziell, wenn er vor der eigenen Haustüre zu finden ist. Noch reichen mir die Pflänzchen nur bis knapp unter die Schulter und haben winzig kleine Blätter, aber bereits in ein paar Wochen werden sie mich um vieles überragen und mit ihren tiefvioletten Blüten erfreuen. Jedoch, solange mein Lieblingsplatz dermaßen gut einsehbar ist und ich Gefahr laufe, von neugierigen Tauben begafft oder gar von kreischenden Menschen belästigt zu werden, suche ich gerne Findners Antiquariat auf. Ein Paradies der literarischen Freuden sind sie, die zwei halbdunklen, sommers wie winters kühlen Räume mit fast bis an die Decke reichenden Regalen voll mit Literatur aus der Menschenwelt. Wie zwei gutmütige Relikte aus einer anderen Zeit blättern, schlichten, kramen die beiden Buchmenschen in ihrem Reich.1 Da Erwin sich seit dem Vorfall mit dem Folianten weigert, mitzukommen, ist mir Elsbeth, die in unmittelbarer Nähe in einem Zwölf-Röhren-Haus lebt, eine liebe Begleiterin. Einziger Wermutstropfen: Wir sind nicht die kräftigsten Mäuse. Ein Taschenbuch mit hundertfünfzig Seiten, bei Dünndruck schaffen wir ungefähr zweihundert, ist das Maximum, das wir mit Müh und Not aus dem Regal hieven können.

Hundertfünfzig Seiten – trotzdem keine leichte Lektüre!


1 Bis dato war nur Eingeweihten folgender Umstand bekannt: Unter der Kiste mit den 1-Euro-50-Cent-Büchern, die auf dem Gehsteig vor Findners Auslage steht, liegt der Eingang zu einer Bibliothek, die, sogar in Menschendimensionen bemessen, über einen enormen Bestand verfügt. Darin befindet sich ein Querschnitt mausischen Literaturschaffens, unter anderem die Werke von Robert Mausil. Material für viele Generationen von Forscherinnen und Wissenschaftlern. Der Zugang für Menschen ist, schon aus Platzgründen, bedauerlicherweise nicht möglich.

Fortsetzung folgt am 7. April 2015 – Lesen Sie dann Erwins Bericht über das Ereignis mit dem Folianten.

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Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 10. März 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf – Teil 4

An dieser Stelle möchten wir – Theophilus Makadamia und Petra Öllinger – uns bedanken bei:
Professor Doktor Mechthild Scheiblett, mit ihrer Hilfe ist es gelungen, unter anderem das Wort „Bierkäse“ aus dem Mausischen zu übersetzen.
Ruppert aus dem Emmental und Almut Almý, die keine Zeit und Mühe scheuten, um im Archiv des Radiosenders FM-AUS nach einem wichtigen Tondokument zu suchen.
Herrn Doktor van Keehs für seinen unermüdlichen Einsatz auch für Nicht-Seinesgleichen.

Nun geht’s aber wirklich los.

Herr Leopold Portraet2. April

Mit letzter Kraft konnte ich mich am Fußhebel des Altmetall-Containers festhalten. Wenn der Frühlingswind aus der Millergasse auf jenen vom Mariahilfer Platzl trifft; oha! Sehr gefährlich diese Schnittstelle. Der ganze Kasten wackelte beängstigend. Im Inneren raschelten Aludeckel, schepperten Keks- und Fisch- und Hundefutter- und Katzenfutter- und Getränkedosen. Nur ein kurzes Stück trennte mich noch von meiner Wohnung. Aber loslassen?! Um gegen den Baumstamm1 oder gar gegen die Mülltonnen beim Malvenhain zu krachen?

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich mich am Hebel festkrallte. Eine besonders heftige Böe riss mir den Boden unter den Pfoten weg, ich hing waagrecht!!! in der Luft. Der Wind pfiff mir durchs Fell, klatschte meine Ohren scharf nach hinten. Was für ein unwürdiger Anblick! Ich weiß nicht, wie mir geschah. Plötzlich stand Erwin neben mir. Mampfend, dem Sturm mühelos trotzend (kein Wunder bei seiner Körperfülle) betrachtete er mich eine Weile und nickte anerkennend. „Schnittig, schnittig, Leo.“
„Ich wünschte“, rief ich, „du würdest deinen Sarkasmus zügeln und mir stattdessen behilflich sein!“
Vom Mariahilfer Platzl peitschte der Wind einen Kaffeepappbecher an uns vorbei. Braune Sprenkel landeten auf Erwins Knien. Wie ich wohl aussah? Ich wollte es in diesem Moment gar nicht wissen. Mit zwei großen Bissen wanderte der Rest des undefinierbaren Zeugs aus Erwins Pfoten in seinen Magen. Kaum hatte er hinuntergeschluckt, packte er meine linke Pfote und zog sie vom Hebel. Ich traute mich nicht, auch mit der rechten Pfote loszulassen. Was, wenn wir gemeinsam vom Winde verweht würden? Erwins Prankengriff konnte ich mich allerdings nicht lange widersetzen, schon war auch meine rechte Pfote „befreit“. Ich sah mich bereits über Mariahilf fliegen, da schnappte Erwin mein Gilet und zog mich über die Fügergasse2. Der starke Wind raubte mir fast den Atem.
„Das ist gar nichts, du hättest damals auf der ‚Mausolos‘ dabei sein sollen. DAS war ein Wind!“, brüllte Erwin, während er mich zu meiner Wohnung zerrte.
Ein Zigarettenstummel und ein Hundegacksackerl tanzten im Rhythmus einer Böe am Eingang vorbei. Ich wollte ihn noch zu einer kleinen Stärkung hineinbitten, da war er schon in die Millergasse abgebogen. Begleitet von einem fettigen Stanitzel und einem Apfelputz, die ihm hinterherhüpften.
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1 Herr Leopold meinte damit den Lederhülsenbaum, der den Beginn der Millergasse einem Felsen in der Brandung gleich unbeugsam und stolz markiert.
2 Erwin bestand an dieser Stelle auf folgende Erklärung: „Der Leo war so ein Zniachterl, das war gar kein Problem, den hinter sich herzuziehen.“

Fortsetzung folgt am 24. März 2015

Bisher erschienen:
Teil 1 – Vorstellrunde aller Mäuse
Teil 2 – Vorwort von Theophilus Makadamia
Teil 3 – Vorwort von Petra Öllinger

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 24. Februar 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf – Teil 3

Petra Oellinger PortraetVon der Sinnhaftigkeit, Fremdsprachen zu beherrschen oder Eine Begegnung der anderen Art. Vorwort von Petra Öllinger

Als Theophilus Kontakt mit mir aufnahm, spätabends im Frühling, wäre ich beinahe auf ihn getreten. Also nicht auf Theophilus, sondern auf etwas, das auf den ersten Blick aussah wie eine Streichholzschachtel und in meiner Hauseinfahrt lag. Ich hob die Schachtel auf und legte sie in meine Handfläche. Und jetzt, beim zweiten Blick, entpuppte sie sich als Koffer; ach was, Koffer, Köfferchen! Ein altmodisches noch dazu. Gefertigt aus dunklem Leder, mit einem Metallschloss, zusätzlich zusammengehalten von zwei Riemen. Am Griff war mit einem Bindfaden ein Blatt Papier befestigt. Trotz ihrer Winzigkeit erkannte ich die Schriftzeichen darauf sofort: Mausisch. Ich nahm meine Brille ab, hielt den Zettel ganz dicht vor meine Augen, sodass ich mit der Nase am Papier klebte, und entzifferte den Text.

„Liebe Petra Öllinger! Bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin eine Maus. Mein Name ist Theophilus Makadamia. Mein Onkel Leopold gab mir den Ratschlag, mich an Sie zu wenden. Den Grund dafür und die Antwort auf Ihre mögliche Frage ‚Warum ausgerechnet ich?‘ finden Sie im Brief meines Onkels sowie in seinen Aufzeichnungen. Beides liegt in diesem Koffer. Ich bin sicher, Sie können mir helfen. Ich werde morgen um 21 Uhr hier bei der Altpapiertonne warten und freue mich auf Ihre – hoffentlich positive – Antwort.“

Wer konnte ahnen, dass ich mich gemeinsam mit einem Mäuserich auf die Spuren seines Onkels in Mariahilf begeben würde …

Zunächst jedoch die Vorgeschichte.

Ein Königreich für eine Lupe

Ich ging nach oben in meine Wohnung, wo ich von meinem Hund Zwetschke mit großem Argwohn begutachtet wurde, und setzte mich an meinen Schreibtisch. Wie könnte ich diesen Miniaturkoffer öffnen, ohne ihn kaputtzumachen? Ich durchstöberte alle Schreibtischschubladen und entdeckte in einer ganz hinten eine Dose. Zwischen grünen und gelben Zuckerln, die großteils miteinander verklebt waren, fand ich schließlich die Lösung: eine Pinzette. Vorsichtig öffnete ich damit das Schloss. Und was lag in dem Köfferchen? Ein weißer dicker Briefumschlag und ein in gelbes Leinen gebundenes Buch. Womit sollte ich anfangen? Umschlag? Buch? Ich entschied mich für den Umschlag. Fasste ihn mit der Pinzette, drehte ihn hin und her. War das eine Adresse auf der Vorderseite? Und dieser bunte Fleck rechts oben? Eine Briefmarke? Es war bereits sehr schwierig gewesen, die Nachricht der Maus zu entziffern, aber jetzt ging gar nichts mehr ohne Vergrößerungsglas. Auf der Rückseite war kein Absender vermerkt. Die obere Kante des Umschlags war sauber aufgeschlitzt, wahrscheinlich von, wie hieß die Maus nochmal? – ich schaute auf den Zettel –: Theophilus. Ich entnahm dem Kuvert ein dicht beschriebenes Blatt Papier sowie zwei unadressierte und unbeschriebene Ansichtskarten mit Motiven vom Meer. Woher hatte er die Karten? Hatte er sie von einer Reise mitgebracht? Lebte Herr Leopold an diesem Ort?

Ansichtskarte 1 mit Landschaft
Abbildung 1: Erste Ansichtskarte, Originalgröße 0,5 x 0,84 Zentimeter, die sich im Kuvert von Herrn Leopold befand.

Ansichtskarte 2 vom Meer
Abbildung 2: Zweite Ansichtskarte, Originalgröße 0,84 x 0,5 Zentimeter, befand sich ebenfalls im Kuvert von Herrn Leopold.

Die Zeichen auf dem Papier waren winzig – nicht wirklich eine Überraschung bei einem von einer Maus verfassten Text –, jedoch gestochen scharf und mit einer einfachen Lupe wohl ausgezeichnet zu lesen. Ich durchsuchte den Schreibtisch nochmals, stieß dabei unter anderem auf lange verloren geglaubte Rechnungszettel, verbogene Büroklammern und einen Radiergummi, der die Gestalt eines Kaffeehäferls hatte, aber eine Lupe fand ich nicht.

Mittlerweile war es bereits nach Mitternacht, nun hatte mich jedoch endgültig die Neugierde gepackt. Ich wollte unbedingt wissen, was in dem Brief stand und ich wollte unbedingt einen geeigneten Sehbehelf finden. Ich versuchte es mit dem Boden eines gläsernen Aschenbechers, den ich über die Seiten gleiten ließ – half nichts. Ich probierte es mit der alten Lesebrille meiner Großtante Sylvia, die sie vor drei Jahren bei einem ihrer raren Besuche bei mir vergessen hatte („Liebes, ich bin demnächst in deiner Nähe und hole sie.“) – half nichts. Ich kniff das linke Auge zu und hielt ein Blättchen vor mein rechtes. Ich kniff das rechte Auge zu und hielt ein Blättchen vor mein linkes – half nichts. Ich brauchte eine kleine Pause, öffnete das Fenster und blickte auf die Gasse. Das Haus auf Nummer 9 dämmerte seinem Abbruch entgegen – wusste es, was ihm bevorstand? Im zweiten Stock sah ich die beiden vertrockneten Orchideen auf dem Fensterbrett stehen. Letzten Sommer begann ihr Verdursten. Ich konnte sie nicht retten, denn der Hauseingang war mit einer dicken Kette versperrt, die Fenster im Erdgeschoß mit Brettern zugenagelt. Die Nachbarin gegenüber von Nummer 7 schaute wie jeden Tag um diese Zeit fern. Zwei Stockwerke über ihr stand ein Mann auf seiner Terrasse und rauchte. Beim Wirt am Eck drang das heisere Lachen eines letzten Gastes aus dem offenen Fenster, dann stand der Tschecherant leicht schwankend vor dem Wirtshaus, richtete sich mit einem Ruck gerade auf, stakste an der großen Platane vorbei, blieb stehen, machte kehrt und marschierte die Mittelgasse entlang. Bevor ihn die Nacht verschluckte, hörte ich ihn noch lallen „Mei Naserl is so rot, weil i so blau bin“.

Ich schloss das Fenster. Als ich mich umdrehte, fiel mein Blick auf mein rotes Federpennal. Und dann entdeckte ich darin endlich etwas Geeignetes, um diesen Brief zu entziffern: eine Mini-Lupe. Sie war einmal einem Buch mit dem Titel „Pflanzenschädlinge entdecken und erfolgreich bekämpfen“ beigelegt. Hin und wieder hatte ich damit tatsächlich seltsames Getier auf einigen meiner Pflanzen entdeckt, aber erfolgreich bekämpft habe ich es nie; die meisten Blatt- und Schildläuse sowie Spinnmilben hatten von selbst das Weite gesucht.

Herrn Leopolds Wunsch

Ich war mittlerweile sehr müde, einen Versuch wollte ich in dieser Nacht noch wagen. So zückte ich meine Pflanzenschädlingsentdeckungslupe und begann zu lesen. Es war ein Brief von Theophilus‘ Onkel – auf Mausisch.

„Lieber Theophilus!

Bitte entschuldige, dass ich so lange nichts von mir hören habe lassen. Die letzten Wochen waren voll von neuen Eindrücken und ich brauchte eine Weile, um mich hier einzuleben.

Du findest in der Schachtel die Tagebuchnotizen über meine letzte Zeit in meiner alten Heimat Mariahilf. Vielleicht ist es der sentimentale Wunsch eines nicht mehr ganz jungen Mäuserichs, oder auch nur ein klein wenig Eitelkeit, ein winziger, aber unvergessener Teil der Geschichte einer großen Stadt zu werden. Ganz sicher aber sollen meine Memoiren dazu beitragen, in der Menschenwelt eine Lanze für uns Nager zu brechen. Dieser, mein langgehegter Wunsch soll mit Deiner Hilfe in Erfüllung gehen: die Veröffentlichung meiner Erlebnisse und Erinnerungen.

Ich kann sie vor mir sehen, Deine vor Schreck und Überraschung geweiteten Knopfaugen. Aber sei unbesorgt, Du sollst meiner Bitte nicht alleine nachkommen. Ich weiß nämlich jemanden, der Dir dabei helfen kann.

Du erinnerst Dich sicher an unsere Beobachtung damals am Platz mit der großen Platane, als wir aus den Brennnesseln in dem kleinen Garten kletterten. Auf dem Gehsteig lag ein verletzter Vogel. Rasch näherten sich Schritte. Vor uns stand plötzlich ein Paar Menschenschuhe und wir konnten nicht weglaufen vor lauter Schreck. Weißt Du noch, wie dieser Mensch sich hinhockte und uns beide ansah. Noch nie hatte ich erlebt, dass bei unserem Anblick ein menschliches Wesen nicht erschrocken, angeekelt oder verärgert reagiert hätte. Aber nun, erinnerst Du Dich?, passierte etwas ganz Seltsames. Dieser Mensch blieb ganz ruhig und sagte auf Mausisch!!, ich weiß die Worte noch so genau, als hätte ich sie erst gestern gehört: „Na, ihr zwei, ist das ein verletzter Freund von euch? Ich will sehen, ob ich ihn hinbekomme.“ Ein Mensch, der unsere Sprache spricht! Wir waren beide so perplex, dass wir zu antworten vergaßen. Dann nahm der Mensch den Vogel behutsam in die eine Hand und die andere legte er wie ein schützendes Dach über ihn. Er stand auf, und weg war er.

Bedauerlicherweise konnte ich nie herausfinden, ob der Vogel wieder gesund geworden ist. Später, Du warst bereits wieder abgereist, sah ich diesen Menschen, es war eine sie, abermals. Dieses Mal kam er, also sie, mit einem Hund an meinem Malvenhain vorbei. Ich nutzte die Gelegenheit und folgte den beiden die Straße hinunter (Du weißt, jene, in der Du Deine Spritztour inmitten der Plüschbären unternommen hast), immer zwischen Autos und Gehsteigkante. Dann sah ich die zwei den Platz mit der großen Platane überqueren und in der Gasse – da, wo der kleine Ruhe- und Therapiepark versteckt liegt, der mit dem Haselnussstrauch darin, von dem Du bei einer waghalsigen Klettertour beinahe abgestürzt wärst, und wo Erwin, wie konnte es auch anders sein, von den Eibensamen gekostet hat, wie erinnere ich mich noch an sein Bauchweh, oh, ich merke, ich schweife ab –, also wie die beiden in der Gasse durch ein großes grünes Tor in einem Haus verschwinden. Es ist mir gelungen, den Namen der Mausisch-Kennerin zu eruieren. Sie heißt: Petra Öllinger. Bringe den Koffer mit diesem Brief sowie meine Aufzeichnungen zu ihr und bitte sie um ihre Hilfe.

Ich bin sicher, ihr werdet eine wundervolle Geschichte daraus machen.

Ich sende Dir herzliche Grüße vom Meer,
Dein Onkel Leopold.“

Noch während ich den Brief las, tauchten Erinnerungen an diese Begegnung auf. Nein, es war mir damals nicht gelungen, den Vogel, eine Wacholderdrossel, gesund zu pflegen. Er war noch in derselben Nacht verstorben. Vermutlich war er wo dagegen geprallt und hatte sich dabei innere Verletzungen zugezogen. Ich hatte bereits die Jahre zuvor große Scharen dieser Vögel dabei beobachtet, wie sie sich auf die Beeren des Wilden Weines stürzten, der bei mir im Hinterhof die Hauswand umrankt. Einige von ihnen sind nach dem Genuss der bereits vergorenen Früchte mehr oder weniger orientierungslos herumgeflattert. Am nächsten Morgen begrub ich die Drossel unter dem von Herrn Leopold in seinem Brief erwähnten Haselnussstrauch.

Und Herr Leopold und Theophilus? Die beiden Mäuse hatten damals tatsächlich den Eindruck völliger Perplexität erweckt. Theophilus‘ leicht verbogene Schnurrbarthaare standen steil nach oben und Herrn Leopolds linkes Ohr zuckte nervös. Ich hatte zu dieser Zeit bereits das Abschlusssemester für Mausisch an der Volkshochschule Wien-West in der Damböckgasse absolviert. Ein willkommener Anlass, meine Mausisch-Kenntnisse endlich in einem Gespräch mit Mäusen zu testen! Ein seltener und kostbarer Moment; die kleinen Nager flüchten ja sonst, sobald sie einen Menschen sehen. Aber diese beiden standen da wie vom Donner gerührt. Dank Herrn Leopolds Brief kannte ich nun den Grund dafür: Ich hatte sie in ihrer Sprache angeredet! – Und ich hatte befürchtet, bei der Grammatik geschlampt oder ein Wort falsch ausgesprochen zu haben.

Es war bereits lange nach Mitternacht. Meine Augen brannten. Würde ich es noch schaffen, einige Seiten im Tagebuch von Herrn Leopold zu lesen?

Die Entscheidung bei der Altpapiertonne

In derselben Nacht arbeitete ich mich durch das gesamte Tagebuch. Um halb sieben in der Früh war ich fertig damit. Meine Entscheidung stand fest.

An dem vereinbarten Abend wartete ich gemeinsam mit Zwetschke – sie war einfach durch den Türspalt geschlüpft, die Stiegen hinunter gezischt und ließ sich jetzt nicht wieder hinaufscheuchen – kurz vor 21 Uhr bei der Altpapiertonne in der Hauseinfahrt. Theophilus traf auf die Minute pünktlich ein. Zwetschke näherte sich ihm mit einem lauten Wuff. Doch der kleine Mäuserich machte überhaupt keine Anstalten zu fliehen. Dafür winselte Zwetschke laut auf und lief zurück in die Wohnung. Theophilus stand immer noch da. Erstaunlich. Ein solch wackeres Tierchen hatte ich selten erlebt. Ich beugte mich zu ihm hinunter. Ja, ich erkannte ihn wieder: an seinen verbogenen Schnurrbarthaaren. Von wegen alle Mäuse sehen gleich aus! Und war das tatsächlich eine Pommes-frites-Gabel, die er nun in seine Umhängetasche – war das hellbrauner Cordstoff? – steckte? Schlagartig wurde mir klar, warum Zwetschke vorhin so einen Zirkus veranstaltet hatte. Er hatte sie damit offensichtlich in die Nase gepikst. Ich reichte Theophilus meinen rechten Zeigefinger und er legte seine Pfote darauf. Die Sache war abgemacht. Wir werden uns gemeinsam an die Veröffentlichung des Tagebuches seines Onkels, Herrn Leopold, machen.

Beim Abschied winkte er fröhlich, schlüpfte durch den schmalen Spalt unter dem großen Haustor durch und verschwand in der Mariahilfer Nacht.

Fortsetzung folgt am 10. März 2015.

Bisher erschienen:
Teil 1 – Vorstellrunde aller Mäuse
Teil 2 – Vorwort von Theophilus Makadamia

Herr Leopold bekommt gewaltigen Ärger

Dienstag, 10. Februar 2015

Tagebuchaufzeichnungen und Berichte aus Wien-Mariahilf – Teil 2

Theophiuls Makadamia PortraetDas Glück ist ein Mauserl. Vorwort von Theophilus Makadamia

„Wenn der Einäugige Erwin zu dir sagt: ‚Lass dich überraschen!‘, dann suche das Weite.“

Wie gut erinnere ich mich an diese mahnenden Worte meines Onkels Leopold.
Wie oft hatte ich sie ignoriert.
Zum Glück.
Ich hätte vieles versäumt in diesem unvergesslichen Sommer.
Ich gebe zu, der Gedanke, einen Teil meiner Ferien mit einem alten Mäuserich in einer großen Stadt zu verbringen, behagte mir zuerst überhaupt nicht. Bibliothekar, der ist bestimmt verstaubt und vertrocknet, war das Erste, woran ich dachte, als meine Eltern mir vorschlugen, „einmal Großstadtaroma zu schnuppern“ (O-Ton meines Vaters damals, der nach wie vor etwas zu Theatralik neigt). Ich wollte mich mit meinen Freunden Schmelzi, Cliffi und Bourbon1 treffen; in Pfützen, Feuchtbiotopen und Wasserschaffeln abtauchen; auf Gartenstühle klettern und aus luftiger Höhe ins Gras hüpfen; Komposthaufen erklimmen, um von Verbotenem zu schmausen; Mutproben bestehen; mich meinem Hobby, der Botanik widmen. All das wollte ich, und nicht bei einem Onkel vergammeln. Vor meinem geistigen Auge tauchte das Bild eines verschrumpelten Mäuserichs auf, der in einer muffigen Wohnung voll mit dunkelgebeizten Wandschränken und Zeitungen aus dem vorigen Jahrhundert haust. Aber im Vorschlag meiner Eltern lockte ein Wort: Großstadt. Und ich konnte nicht widerstehen …
Zum Glück.
Ich hätte vieles versäumt in diesem unvergesslichen Sommer.
Ich hätte Frau Elsbeth nicht kennengelernt. Niemals zuvor hatte ich eine solch mutige Mäusedame erlebt. Sie fürchtete sich vor nichts und niemandem. Und – sie mochte pubertierende Mäuseriche. Ja, sie mochte sie wirklich. Nicht in der Art, wie es erwachsene Nager sonst tun: den Kopf tätscheln oder betulich auf die Schulter klopfen. Und man weiß genau: Die nehmen einen nicht ernst. Frau Elsbeth interessierte sich für mich und alles, was mich bewegte. Von ihr hörte ich nie „Werde erst mal groß“ oder „Das verstehst du nicht“.
Ich hätte Erwin nicht kennengelernt. Erwin, mit der rauen Schale und dem weichen Kern. Ein Klischee, ich weiß. Allerdings war er tatsächlich so. Tauben hielt er für arme Teufel, denen er von seinem Proviant abgab. Es brach ihm das Herz, wenn er die Langusten und Hummer in den Behältern am Naschmarkt ihrer Zukunft im Kochtopf entgegenkrebsen sah – und er nichts dagegen unternehmen konnte.

Und ich hätte Onkel Leopold nicht kennengelernt. Und seine Bücher. Und seinen Humor. Und seine Geduld. Und seine Fähigkeit, mich zum Selberdenken anzuregen. Und seine Weigerung, Dinge von der Straße zu essen.

Eines Tages, es waren bereits viele Monate seit meinem Aufenthalt bei Onkel Leopold vergangen und ich hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört, erhielt ich ein Paket mit der Post. Dann reiste ich nach Mariahilf.

Wer konnte ahnen, dass ich gemeinsam mit einem Menschen in Onkel Leopolds Abenteuer und meinen Sommeraufenthalt in Mariahilf eintauchen würde …

Die nächste Folge erscheint am Dienstag, den 24. Februar 2015

Teil 1 – Vorstellrunde aller Mäuse.


1 Ausgesprochen wie das französische Adelsgeschlecht, oder die Vanille, was übrigens auch den seltsamen Spitznamen des Mäuserichs erklärt: seine große Begeisterung für Bourbon-Vanillezucker. Über die Herkunft der anderen beiden Spitznamen berichtet Theophilus Folgendes: „Cliffi war und ist ein begnadeter Geröllhaufenkletterer und balanciert stets mit großer Souveränität auf den Begrenzungsmauern zwischen zwei Gärten. Schmelzi verdankt, so wie Bourbon, den Namen seiner kulinarischen Vorliebe: Schmelzkäse. Angeblich können die zwei bis heute nicht davon lassen. Schmelzi vom Käse, Bourbon von der Vanille.“