Archiv für die Kategorie 'Literarische Texte'

Werner Lang: Berndgeschichten aus der Arbeitswelt

Mittwoch, 14. Januar 2015

Werner Lang veröffentlicht mit „Berndgeschichten aus der Arbeitswelt“ eine berührende und zugleich zur Reflexion anregende Kurzgeschichte. In ihr zeichnet er auf der Grundlage eigenem Erlebens und genauer Beobachtung der Arbeitwelt die Lebenswirklichkeit der IndustriearbeiterInnen in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ein autenthischer Gegenentwurf zu der vonseiten der Politik lange Zeit verbreiteten Sichtweise auf Österreich als einer „Insel der Seeligen“.

Regionale Erzählung

(Übereinstimmungen mit Orten, Handlungen, Personen, sind rein zufällig.)

Rückblickend wird das Jahr 1974 in den Wirtschaftsberichten über Österreich allgemein als Zeit der Hochkonjunktur angeführt. Die Regierung Kreisky verkündete: „Hand aufs Herz, es ging uns noch nie so gut wie heute.“ Der Arbeiter Bernd war um diese Zeit im Stahlwerk „Schoeller-Bleckmann“ Standort Mürzzuschlag als Schnitzbinder beschäftigt. Er arbeitete erst seit kurzem in diesem Werk.

Davor arbeitete er in einer Brotfabrik bei Krieglach. Sie lag zehn Kilometer von seinem Wohnort, der Werkssiedlung Hönigsberg, entfernt. Da sein Gehalt als Bäcker zu niedrig war, um davon leben zu können, lag er den Eltern trotz Vollbeschäftigung noch auf der Tasche. Das heißt, sein Lohn reichte nicht für sein Auskommen aus. An eine eigene Wohnung war nicht zu denken. Darum bewarb er sich, nach Drängen seines Vaters, im Personalbüro bei Schoeller-Bleckmann Mürzzuschlag als Hilfsarbeiter, denn die Bezahlung war dort um ein Drittel höher, als bei seinem erlernten Beruf als Bäcker. Dazu kam noch, dass die Bäckerei mehr eine Dampffabrik war als eine Backstube. Sie bezeichnete sich selbst als Dampfbäckerei. Schon als Lehrling machte er die gleiche Arbeit wie die Gesellen, die dort beschäftigt waren, nur nicht so schnell. Es herrschte Arbeitsteilung. Jeder machte seine Schrittfolgen. Der Teigmischer war schon um drei Uhr in der Früh an seinem Kessel, um den Teig vorzubereiten. Bernd kam mit ein paar anderen Bäcker um fünf Uhr in der Früh in die Backstube, um den fertigen Teig zu klopfen und ihn in Form zu bringen. Alles andere erledigten die Maschinen. Das fertige Gebäck wurde in Zehnerpackungen an die Kaufhäuser ausgeliefert. Bernd ist in seiner Lehrzeit zu einem perfekten „Teigschläger“ geworden. Weiterlesen »

Menschenrechte und Kunst

Mittwoch, 13. November 2013

Vor 65 Jahren, am 10. Dezember 1948, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit der Resolution 217 A (III) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet.

Der Verein webbrain widmete die Veranstaltungsreihe denkkunst/schreibkunst 2013 in Kooperation mit mel-art dieser Tatsache.

Im August 2013 wurde ein Aufruf zur Einreichung von Kurztexten jeglichen Genres veröffentlicht, die den Zusammenhang zwischen Kunst und Menschenrechten zum Thema haben.

Ein Text von Elisabeth Schöffl-Pöll ist in diesem Beitrag nachzulesen. Er wurden während der Abschlussveranstaltung am 23. Oktober 2013 von SchauspielerInnen vorgelesen.

Döllersheim - das unbekannte Mysterium

BesucherInnen des Festes der Menschenrrechte

Fest der Menschenrechte

Gegen alle Menschenrechte mussten im Jahr 1938 7500 Menschen aus 42 Ortschaften im Waldviertler "Döllersheimer Ländchen" Haus, Hof, Wald und Gut verlassen, um einem Truppenübungsplatz unter Adolf Hitler zu weichen. Später erforschte man, dass Hitler damit seine fragwürdige Ahnengeschichte ausräumen wollte. Sogar die reife Ernte musste zurückgelassen werden! Das ganze Gelände wurde dem Erdboden gleichgemacht. Die Aussiedler mussten sich neue Bleiben suchen.

Ich selbst, als viertes Kind meiner Eltern, nahm das unsägliche Leid, das meine Eltern durch die Aussiedlung und Wiederansiedlung erlitten – meine Mutter war im sechsten Monat schwanger – auf meine kindlichen Schultern.

Das damalige Fahrzeug für die Suche nach einem neuen Bauernhaus war damals der
Pferdewagen. Mit ihm fuhr mein Vater nun – meine Mutter war ja, wie gesagt, schwanger – alleine, um Erkundigungen über Ersatzbauernhöfe einzuholen. Aus Mitleid trat schließlich eine Verwandte vom Kauf zurück und überließ ihr Haus meinem Vater und unserer Familie, weitab der ehemaligen Heimat und im Weinviertel gelegen.

Fest der Menschenrechte

Fest der Menschenrechte. Elisabeth Schöffl-Pöll (dritte von rechts)

Nun war die Frist für die Aussiedlung bereits im Ablaufen. Die schönen alten Stilmöbel wurden auf Lastwagen gepackt und die Habseligkeiten dazu. So ging es Wagen um Wagen auf holprigen Straßen, die so manchem schönen Möbelstück zusetzten, dem 80 km entfernten neuen „Heimatort“ zu. Dort hatten sich meine Waldviertler Eltern erst mühsam in die Wein- und Kellerarbeit einzuschulen.

Jahre später mussten meine Eltern durch einen Rückstellungsantrag – es hieß fälschlicherweise, das Haus wäre ein Zwangsverkauf gewesen, da der Besitzer Halbjude war – ein zweites Mal die Geldmittel für den Hof aufbringen. Mein Vater und mein Onkel, der bei uns lebte und für die Pferde zuständig war, erkrankten an den Sorgen, die die Aussiedlung mit sich brachten, und starben relativ jung, ein Schicksalsschlag jagte den anderen.

Meine Mutter war völlig mit ihren Nerven am Ende. Ich selbst hatte auf Kosten einer weiteren Ausbildung bei der Pflege des mittlerweile schwer behinderten Vaters mithelfen müssen. Die Krankheiten der beiden Männer waren eine Folge des traurigen Heimatverlustes.

Ich konnte nur durch Literatur diese Schicksalsgeschichte einigermaßen aufarbeiten…

Elisabeth Schöffl-Pöll

Lesewettbewerb „Wir lesen uns die Münder wund“

Donnerstag, 21. März 2013

Zum fünften Mal findet im MARK.freizeit.kultur in Salzburg der Lesewettbewerb “Wir lesen uns die Münder wund ” statt. Die Anmeldung ist ab sofort möglich.

Das MARK.freizeit.kultur, in Kooperation mit dem Literaturhaus Salzburg, sowie erostepost und Kultur & Jugend Land Salzburg bittet aus diesem Grund nicht-kommerziell publizierte JungautorInnen in die Arena der Hannakstraße 17.

An insgesamt vier Abenden treten junge und junggebliebene AutorInnen mit selbstverfassten Texten aller Art im MARK.freizeit.kultur auf.

In drei Vorrunden, die ab dem 15. Mai 2013 wöchentlich stattfinden, kämpfen jeweils zehn LiteratInnen in zehn Minuten um die Gunst des Publikum. Ausschließlich dieses entscheidet nämlich über den Einzug ins Finale am 21. Juni im Literaturhaus.

Die drei FinalistInnen werden in das Literaturhaus gebeten, um den entscheidenden Abschluss des Wettbewerbs auszutragen. Eine unabhängige Jury kürt den/die SiegerIn. Neben der Ehrung zum ersten Platz winkt als Preis eine Buchpublikation.

Termine:
Buchpräsentation der Vorjahresgewinnerin Marlene Klotz: Mittwoch, 08. Mai 2013 um 19:00 Uhr (im MARK.freizeit.kultur)
Vorrunden: Mittwoch, 15., 22. & 29. Mai 2013 um 19:00 Uhr (im MARK.freizeit.kultur)
Finale: Freitag, 21. Juni 2013 (im Literaturhaus Salzburg)

Anmeldung unter:
E-Mail
Tel.:++43 (0)662 84 99 21
Weitere Informationen: Lesewettbewerb „Wir lesen uns die Münder wund“

„Verinnerlichte Beschädigungen“

Mittwoch, 15. Februar 2012

Literatur aus der Arbeitswelt

Werner Lang – unter anderem Autor im Literaturblog „Duftender Doppelpunkt“ – setzt sich in seinem Text „Verinnerlichte Beschädigung“ mit der Arbeitswelt von Monteuren der Voest-Alpine in der Sowjetunion der 1980er-Jahre auseinander.

Verinnerlichte Beschädigungen

Thema: Liebe

In den Achtziger-Jahren gingen einige meiner Arbeitsreisen als Monteur – unter anderem – auch in die Sowjetunion. In Bezug auf das gestellte Thema „Geschlechtsverkehr“ kann ich mich im Nachhinein nur mehr an die Baustelle von der Voest-Alpine-Montage in Weißrussland in der Nähe von Shlobin erinnern.

Dort sollte ein riesiges Stahlwerk entstehen. Ob es jemals in Betrieb genommen wurde, habe ich bis heute nicht in Erfahrung gebracht. Mein Arbeitsvertrag lief ein paar Monate vor der Fertigstellung ab und wurde nicht mehr verlängert.

Das ganze Baustellengebiet von der „Voest“ war eingezäunt. Das Eingangstor wurde überwacht. Man konnte nur mit einem Ausweis das Baustellengelände betreten. Mit zur Baustelle gehörte das so genannte Wohngebiet. Dort standen nebeneinander gereiht und aufgetürmt Container. Die Container waren die Schlafstätten der Monteure. In jedem von diesen waren zwei Monteure untergebracht. Sie waren gerade so groß, dass zwei Betten hineinpassten. Toiletten und Waschräume waren extra in anderen Containern untergebracht. Diese waren so zwischen den Schlafcontainern angebracht, dass man sie innerhalb der Containerblöcke erreichen konnte, ohne die gegenseitig anliegenden Containerüberdeckungen zu verlassen. Ein großer Speisesaal mit Werksküche befand sich in einer eigenen Baracke. Sanitätsraum mit Wäscherei lag ein wenig abseits von den Schlafstätten. Zu gewissen Zeiten ordinierte dort auch ein russischer Arzt. Prostituierte durften von den Monteuren in den Wohnbereich von der Baustelle mitgenommen werden. Meistens waren das junge Frauen, einige davon dürften noch minderjährig gewesen sein. Die Monteure hielten sie für Zigeunerinnen. Sie bekamen von den Monteuren zu essen und zu trinken. Das Trinken bestand größtenteils aus Alkohol. Einige von den Prostituierten dürften schon Alkoholikerinnen gewesen sein. Am Abend, also nach Arbeitsschluss, wurden die jungen Mädchen in den Freizeiträumen betrunken gemacht, später in die Container mitgenommen und in den Schlafstätten durchgefickt. Morgens, vor Arbeitsbeginn wurden sie aus den Zimmern geworfen. Am folgenden Abend wiederholte sich das Spiel in anderen Schlafstätten. Tripper war die häufigste Krankheit bei den Monteuren. Der Arzt hatte sich schon darauf eingerichtet. Wenn ein Monteur zu ihm kam und nicht sagte was er hatte, bekam er vom Arzt eine – schon für diese Fälle vorbereitete – Spritze verabreicht, sagte mir einer, der es wissen musste. Doch im Verhältnis der Anzahl von Monteuren auf der Baustelle zu den sogenannten Prostituierten, konnte – mathematisch berechnet – jeder einzelne Monteur nur einmal im Monat zu einem Fick kommen, obwohl „der Strich“ in der Sowjetunion billiger war als in Österreich. Das heißt, es waren nur sehr wenige, aber sehr junge Frauen für den Geschlechtsverkehr in den Arbeiterlagern vorhanden. Sonntags war allgemein arbeitsfrei. Meistens gingen die Monteure in den nächstgelegenen Ort – Shlobin. Der Weg führte an kleinen Siedlungen vorbei. Die Monteure hielten sie für Zigeunersiedlungen. Diese Wohnhäuser standen mitten auf dem vom Fluss Dnjepr versumpften Gebiet. Es waren mehr vereinzelt nebeneinander stehende Holzhäuser. Davor standen immer ein bis zwei ältere Frauen. Wenn Angehörige von der Voest-Baustelle vorbeikamen, hielten sie ihre Röcke hoch und zeigten ihre Geschlechtsteile. Dafür verlangten sie fünfzig Kopeken. Meistens bekamen sie das Geld von den Monteuren nicht, obwohl oder weil ihr Aussehen erbärmlich war. Weiterlesen »

Wie verkaufe ich meine Zeit

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Brief: An den Stadtrat zur Verzögerung der Zeit (Augartenstadt)

Motto: Nicht „ist meine Zeit noch halb voll oder halb leer“, ist hier die Frage, sondern „Wem verkaufe ich meine Zeit?“

Im Arbeitsrecht steht ganz klar: Arbeitnehmer stellen ihre Arbeitskraft dem Arbeitgeber zu Verfügung. Ergo (würde der Lateiner sagen) – da ich Arbeitnehmer bin und die Arbeitskraft an mir hängt wohin ich auch gehe (z.B. in die Augarten Stadt – bestimmt der Arbeitgeber (wer das auch ist?), da ich nichts anderes bin außer Arbeitskraft, mein Leben.

Nach Hegel heißt das (und Hegel hat ja darüber sehr viel nachgedacht): was der Knecht macht, macht eigentlich der Herr.

Ich war ja auch ein Bohrwerker. (Das ist ein Arbeiter, der eine Bohrmaschine bedient.) Hätte ich so einfach meine mir entfremdete Bohrmaschine ausgeschaltet (mit der Erkenntnis die Bohrmaschine hat sich eine Ruhepause verdient), so hätte das die Kündigung bedeutet. Nicht für die Bohrmaschine natürlich. Ergo: Pausen werden einem so wie mir oder Maschinen vorgeschrieben. Arbeit und Ruhe sind für einen so wie mich oder Maschinen lebensnotwendig. Leben wird für einen so wie mich verordnet. Wenn Sie, Herr Stadtrat, zur Verzögerung der Zeit, noch an die Gewerkschaft als Interessensvertretung für einen so wie mich glauben, dann glauben Sie das alleine. Es geht um den reibungslosen Ablauf einer Maschine, aus der mehr herauskommen soll als man in sie hineinsteckt. Weiterlesen »

Opfer der Produktion

Dienstag, 13. Dezember 2011

Sprechtext eines Arbeiterdichters

Die Sprache ist für mich, als Arbeiter, etwas Vorgegebenes, Fertiges, steht in Büchern, zum Lesen. Selber schreiben kommt mir, in der Rolle des Arbeiters, nicht in den Sinn. Bleibt mir nur das Sprechen. Auch gegen oder über das geschriebene Wort. Das gesprochene Wort, eines Arbeiters, ohne Verstärker über Rundfunk und Fernsehanstalten, geht verloren, wird sofort vergessen, nicht wichtig genommen. Darum der Sprechtext: Mit Hilfe des geschrieben Wortes gegen das herrschende Wort, als „gegensprech Anlage“. Das einmal schon Gesprochene (im Gasthaus, „am Stammtisch“, auf die Frage: Siehst du dich als Opfer?) zum Nachlesen, Festhalten, noch einmal Gebrauchen, davon verwenden, was jeder gerade braucht.

Ein Versuch / mich / als Opfer der Produktion / zu verallgemeinern.

Verwunderlich, seltsam und viel / sprechen jene /die vom Sprechen leben müssen / fremd / so wie von einem anderen Stern / hört sich das für die Opfer der Produktion an / man spricht von Gewinn und Verlust / als wären Gewinn und Verlust Lebewesen / die man füttert mit Zahlen und Daten / ihr einziges Bedürfnis heißt / Kostenreduzierung.

Ich habe auch einmal / in meiner Jugend / am Fließband / arbeiten müssen / schrecklich / aber jetzt wird alles automatisiert / sagen sie / die angelernten, hoch gebildeten, wohlerzogenen Sprachexperten und Ideologen / für die Wirtschaft.

Das heißt übersetzt / morgen bist du weg / Kollege.

Das Wir / ist schon längst verloren gegangen / hat sich monopolisiert / personalisiert / und installiert in Institutionen und Vereinen / nennt sich Interessenvertreter / ist Einsager der Opfer / und gab sich den Namen / Sozialpartner / schon vor einiger Zeit. Weiterlesen »

Literarischer Gast im Dezember 2011

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Die Duftenden Doppelpunkte freuen sich, im Dezember 2011 einen weiteren Gast in Petra Öllingers literarischem Atelier begrüßen zu dürfen: den bisweil jüngsten der AutorInnen – Thierry Rudas mit seinem Text „Die Legende“.

Unbekannte ArbeiterInnenliteratur

Freitag, 4. März 2011

Erich Zwirner, 22.09.1928 – 17.04.2003

Erich Zwirner wurde in Mürzzuschlag geboren. Lebte in der eigens für das Stahlwerk “Schoeller – Bleckmann“ angelegten Arbeitersiedlung Hönigsberg. Arbeitete in diesem Stahlwerk in verschiedensten Bereichen, als Walzer, Oberbau- und Platzarbeiter, Kesselwärter und zum Schluss, bis zu seiner Pensionierung, als Umspannwärter. Beschrieb diese Bereiche und seine Arbeit in zahlreichen Prosatexten mit größtenteils autobiographischen Zügen. Verstarb am 17. April 2003 in Mürzzuschlag.

Erich Zwirner war Mitglied im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ und wurde für sein literarisches Schaffen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

Der folgende Text „Als der Nebel sich hob“ stammt aus: Erwin Zwirner: Im Schatten der Zeit. Erzählungen. 1992, merbod–Verlag, Wiener Neustadt.

„Im Schatten der Zeit“ ist leider heute nur mehr antiquarisch erhältlich. Ebenfalls vergriffen sind die Werkstatthefte der „Steirischen Werkstatt – Literatur der Arbeitswelt“, in denen Erwin Zwirner immer wieder publiziert hat.

Als der Nebel sich hob

Als der Nebel sich hob … standen sie in einer eiskalten, luftleeren Mondlandschaft.

So oder ähnlich würde ein Lyriker die Situation der Stahlarbeiter beschreiben. Ein Märchenerzähler nach Jahren im Atombunker der Regierung aber so: Es war einmal eine mächtige Eisen- und Stahlindustrie in unserem Lande, in der die Arbeiter bis zum Jahre 1979 fast glücklich und zufrieden ihr Brot verdienten. Ihre Regierung und ihre Gewerkschaft sagten ihnen täglich, dass sie auf einer Insel der Seligen lebten. Und sie glaubten es. Der Nebel, der über dem Lande lag, störte sie nicht weiter. Im Gegenteil. Er schützte sie sogar vor ein paar mahnenden Stimmen, deren Laute in dieser Watte versanken.

Genau so aber übersahen sie die unheimlichen Gestalten, die nur in Grauzonen lebten und immer besser gediehen, ohne etwas zu leisten. Eines Tages aber kam ein Sturm auf und wehte den Nebel fort. Als die Arbeiter daraufhin ihre Köpfe hoben und zum ersten Mal ihre Umgebung klar sahen, kroch eine schreckliche Kälte ihre Rücken hoch und setzte sich zwischen ihren Schultern fest.

Als die Nacht sich davonschlich, ließ sie einen düsteren, grauen Morgen zurück. Wolken hingen so tief vom Himmel, als wollten sie sich auf die Rauchfänge der Werke setzen. Der Lärm der Maschinen und Walzgerüste aber hörte sich leiser an als sonst. Bis er auf einmal ganz verstummte.

Kurze Zeit später kommen die Arbeiter aus dem Werkstor und sammelten sich auf dem Parkplatz. Die roten, gelben und blauen Schutzhelme bilden ein buntes Muster. Sie formieren sich zu einer dreireihigen Schlange und marschieren zwischen Bahndamm und Fluß der Stadt zu.

Karl hat sich mehr am Ende der Kolonne eingereiht. Er ist niedergeschlagen und verbittert. Er ist 1925 geboren. „Wieder marschieren“, denkt er sich. „Immer wenn marschiert wird, ist das Land krank. Immer hat es zuerst mit Wirtschaftskrisen und dann mit Kriegen zu tun. Und jede Straße endet in Armut, Not, mit verwüsteten Ländern und auf riesigen Schlachtfeldern. Er beobachtete seine Kollegen. Er hat den Eindruck von einer gesichtslosen Masse. Abweichende, nichtssagende, hassende Gedankensplitter glaubt er zu fühlen. Nur überlagert von der Angst des Arbeitsplatzverlustes. Keine Spur von Solidarität oder einem festen Ziel.

Er schiebt sich seinen Helm aus der Stirn. Er weiß auch nicht, was er täte, wenn er seine Arbeit verlieren würde. Denn die Arbeit zu verlieren heißt, sich selbst zu verlieren. Hieße für ihn Armut und ausgestoßen sein. Hieße nicht fähig sein, seine Kinder zu versorgen und ihnen eine Kindheit ohne Not zu bieten. Als Versager dazustehen. Und so wird jeder gegen jeden kämpfen. Das Wort „Solidarität“ wird zum Schimpfwort werden. Die Gewerkschaft wandert auf einem schmalen Grad und muss aufpassen, nicht zum Diener einer kapitalistischen Finanzpolitik zu werden.

„Belsazar!“ Die Schrift an der Wand,. Vor ihm geht Kurt. Ein lustiger, hübscher Bursche. Er ist ein Lebenskünstler. Immer auf der Butterseite. Ihm, Karl, ist er ein bisschen zu glatt. Er hält ihn für eine Wetterfahne, die sich immer nach dem Winde dreht. Karl hat Kurts Worte noch in seinen Ohren.

„Gehören sowieso 200 hinausgeschmissen. Die Krankenstandschinder und Blaumacher. Und die Zettelpicker.“ Und, und, und. Aber Karl hat noch nie gesehen, dass Kurt sich einen Hax`n ausgerissen hätte bei der Arbeit. Oder, wenn er an Fritz, der zwei Reihen hinter ihm geht, denkt. Ein guter Arbeiter, aber ohne Rückgrat.

„I moch meine Orbat und olles andere is mir wurscht“, sagte er bei jeder Gelegenheit, wenn ihn einer um seine Meinung fragt. Oder: „Vom Lesen wird man nur blöd.“

Die meisten sind schon in Ordnung, nur haben sie es sich in den letzten 30 Jahren abgewöhnt, selbst zu denken, und haben statt dessen alle Entscheidungen ihren Vorgesetzten und Betriebsräten überlassen. So scheuen sie sich, berechtigte Kritik zu üben. Sie schimpfen höchstens im Wirtshaus. Wenn ein Direktor kommt und ihnen erzählt, dass die Wirtschaftslage schwierig sei und eben dadurch von ihnen besonders große Opfer gefordert werden, so empfinden sie es zwar hart, aber keiner von ihnen denkt daran, ob das so sein muss. Oder ob es nicht auch andere Wege gibt, um diese Opfer zu vermeiden. Sie begreifen nicht, dass es scheißegal ist, was so einer quatscht, wenn nur die Arbeiter alles ausbaden müssen, was manche „da oben“ vermurksen.

Wenn ich zum Doktor gehe, weil ich krank bin und der sagt mir die Krankheit, kann, oder will mir nicht helfen, so wechsle ich eben den Doktor und gehe zu einem, der mir hilft, sagt sich Karl, wird aber jäh aus seinen Gedanken gerissen, weil er seinem Vordermann auf die Ferse gestiegen ist.

„Pass doch auf, du Idiot, willst wohl schon jetzt meinen Platz einnehmen“, zischte Heinz ihn an. Wahrscheinlich rauft er sich mit den gleichen Gedanken herum.

Karl antwortete: „Sei nicht blöd. Ich habe nur daran gedacht, wer die Idee gehabt haben könnte zu diesem überstürzten Marsch.“

„Das war der Betriebsrat. Viele von uns murrten, dass nichts geschieht, und da die Kommunisten für morgen eine Protestversammlung angekündigt haben, wollen sie eben denen zuvor kommen.“

„Aber das ist doch eine halbe Sache. Wenn schon Protest, dann muss die ganze Region mit. Denn es geht alle an, ob wir ein Industriefriedhof werden oder nicht.“

„Du kennst die Auffassung unserer Führung. Rebellieren bringt keine Arbeit.“

„Also schön still sein“, spottet Karl, „aber die im Schwesterwerk wissen, wo es ihnen wehtut. Und sie sagen es auch ganz laut.“

„Ja, ja! So ist es eben. Da kannst nichts machen, “ Heinz lacht. „Da hast ein Stück kapitalistisches Produkt.“

Er will Karl einen Kaugummi geben.

„Hör auf mit dem Scheißdreck.“ Karl fühlt, wie die Wut in ihm hochsteigt. „Dass du da noch Witze machen kannst, wenn es um unser Überleben geht. Du bewegst dein Maul immer sehr fleißig. Aber leider zum Kaugummifressen.“

„Ach, leck mich. Ich verputz mich weiter nach vorn. Such dir einen anderen zum Streiten.“

Heinz spuckt seinen Kaugummi auf den Bahndamm, schert aus und reiht sich weiter vorne wieder ein.

Karl ärgert sich über seine Ungerechtigkeit. Er weiß, dass Heinz kein schlechter Kerl ist. Er spricht kein Wort mehr, bis sie beim Werk 1 vor der Stadt angekommen sind. Dort vereinigen sie sich mit diesen Kollegen und gehen das letzte Stück bis zum Hauptplatz gemeinsam.

Es spricht zuerst der Nationalratsabgeordnete dieser Region, dann der Bürgermeister der Stadt und schließlich reden zwei Betriebsräte des Werkes. Einem Politiker der Stadtopposition wird das Wort verweigert, was Karl nicht für richtig hält. Aber alle, die sprechen, sagen sinngemäß das gleiche: Weiterführung des Stahlwerkes bis zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, Ausbau der Finalproduktion, Weiterführung des Blockwalzwerkes, und wissen doch schon, dass die Werke zwei und drei zum Tode verurteilt sind. Dass dieser Marsch nur eine Warnung vor einer richtigen Demonstration sein soll, sagen sie alle.

Als dann ein Betriebsrat die Führung der Vereinigten Stahlwerke mit harten Worten angreift und sie für unfähig erklärt, die Werke zu leiten, hört man auf einmal die Worte wie Verräter, Sauhunde, korrupte Schweine aus der Menge aufbrausen. Auch manche Politiker und Betriebsräte werden beschimpft. Am meisten der Zentralbetriebsrat. Er soll nämlich den Spruch von den Faulen und Unzufriedenen, die den Ernst der Lage nun hoffentlich begriffen hätten, in Umlauf gesetzt haben. Da war aber schon alles zu Ende, und wie eine Gewitterwolke, die von der Sonne aufgefressen wird, oder wie ein Luftballon, der zerplatzt, hat sich die Demonstration, die ja keine sein sollte, aufgelöst.

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