Archiv für die Kategorie 'Rezensionen'

Die Schneiderin des Nebels

Montag, 12. November 2018

Mit Poesie den Blick schärfen

Sie wollen ihre Falten verstecken. Sie möchten die Eltern nicht mehr sehen. Sie haben zuviele Schulden. Nur nicht genau hinschauen. Abhilfe schafft ein kleines Mädchen namens Rosa. Ihre Stoffkreationen aus Nebelfäden helfen den Menschen, ihre Falten, die Eltern, zuviele Schulden und vieles andere zu verschleiern. Doch immer droht der Nebel sich zu lichten und er muss erneuert werden. Dazu fängt Rosa den Nebel jeden Morgen am Flussufer mit einem Schmetterlingsnetz ein und beginnt zu spinnen. Tag für Tag. Eines Tages erhält Rosa einen Brief ihres lange abwesenden Vaters. Erinnerungen tauchen auf an eine frohe Kindheit und deren abruptes Ende. Es sind schmerzhafte Erinnerungen; gleichzeitig jedoch schärft sich Rosas Wahrnehmung, ihr persönlicher Nebel lichtet sich. Als der Vater zurückkehrt, hat Rosa ein ein spezielles Geschenk für ihn. Gewebt aus Sonnenstrahlen.

Wie schon in „Die große Wörterfabrik“ oder „Der Bär und das Wörterglitzern“ öffnen Agnès de Lestrade (Text) und Valeria Docampo (Illustration) mit ihrem neuen Buch „Die Schneiderin des Nebels“ wieder eine Tür in die Welt der Poesie und Melancholie. Rosas (Um-)Welt ist zunächst vernebelt, dunkel. Valeria Dacampo unterstreicht diese Düsternis mit vereinzelten Transparentpapier-Seiten, darauf schwarz gezeichnete Szenen, und kalten Farben. Als der Vater ankündigt, Rosa bald zu besuchen, ändern sich die Farben. Strahlendes Gelb, Gold, Weiß dominieren nun. Und wer genau hinsieht, findet immer wieder kleine, reizvolle „stoffliche Andeutungen“: die an einem Schal strickende Mutter, ein Wollknäuel als dünner Strich angedeutet, Spindel, die hohen Bäumen ähneln …

Warum wollen die Menschen so vieles unter den Teppich kehren? Wo war der Vater in der Zwischenzeit? Was ist mit der Mutter? Agnès de Lestrades Text lässt viele Leerstellen und Freiräume offen zum eigenen (Weiter-)Spinnen von Geschichten. Und wahrscheinlich werden diese so vielfältig sein wie die Möglichkeiten, Sonnenstrahlen und Nebelfäden einzufangen.

Petra Öllinger
Agnès de Lestrade (Text) & Valeria Docampo (Illustrationen): Die Schneiderin des Nebels
Aus dem Französischen von Anna Taube
Mixtvision, München 2018
48 Seiten, gebunden mit Leinenrücken, € 18,40 (Ö)

Über Valeria Docampo
Über Agnès de Lestrade

© Cover: Mixtvision / Illustration Valeria Docampo

Ein Nilpferd steckt im Leutchtturm fest. Tiergedichte für Kinder

Donnerstag, 6. September 2018

Noch nie etwas vom Schniebt gehört? Noch nie ein Schmugnu gesichtet? Höchste Zeit, den Blick in ein Hausbuch der besonderen Art zu werfen.

Wundern Sie sich nicht, wenn Sie bei Ihrem nächsten Kellerbesuch auf Unsinn redende Tiere treffen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Quasselasseln. Regenwürmer graben nur Erde um und wühlen sich durch Komposthaufen? Mitnichten. Sie spielen auch Fußball, sind rotzfrech und foulen, was das Zeug hält. Das Aquarium ist geschlossen? Kein Wunder, hat doch der Rochen gebrochen und dem Barsch juckt’s … an den Flossen. Und haben Sie sich schon einmal gefragt, wer im Zoo eigentlich die gaffenden Laffen sind? Kein Stein der Fauna bleibt auf dem anderen nach dem Genuss dieser animalischen Poesie. Zum Leiselesen. Zum Laut(vor)lesen – manche Texte bergen gar das Risiko eines Zungenbruchs, wenn zum Beispiel Katroppchen mit dem wösen Bolf duchr den wanklen Duld gung. Zum Lachen. Zum Nachdenken. Zum Selberreimenausprobieren. Zum Fabulieren.

Eine Bilderlust bietet das Buch obendrein (sogar die Gestaltung jedes einzelnen Titels ist eine Augenweide); fast ein Who’s Who der zeitgenössischen (Kinder-)Buchillustration: Nadia Budde, Julia Friese, Regina Kehn und Michael Roher. Sie übersetzten die Poesie der Buchstaben in die Poesie der Farben, Pinsel- und Farbstiftstriche, Holzschnitt und Collagentechnik. Und wer ist sprachverantwortlich für das außergewöhnliche Getier? Renommierte AutorInnen/LyrikerInnen der Gegenwart: Michael Augustin, Tanja Dückers, Heinz Janisch, Mathias Jeschke, Arne Rautenberg sowie Ulrike Almut Sandig. Sie alle gemeinsam reimten klassisch und unklassisch, kurz und lang, bunt und monochrom über einen Zeitraum von zwei Jahren in Workshops und Veranstaltungen. Das Resultat: ein lyrisch-zoologisches Hausbuch sowohl für juvenile als auch adulte VertreterInnen der Gattung Homo sapiens.

Petra Öllinger

PS: Vom 10. September 2018 bis Mitte Februar 2019 besteht in der Internationalen Jugendbibliothek die Möglichkeit, die Vorarbeiten, Skizzen und Originale zu den Tiergedichten zu bestaunen.
Genaue Informationen zur Ausstellung

Ein Nilpferd steckt im Leuchtturm fest. Tiergedichte für Kinder.
Herausgegeben von Internationale Jugendbibliothek, Stiftung Lyrik Kabinett, Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung
Mixtvision, München 2018. 111 Seiten, gebunden, mit Leinenrücken, € 20,50 (Ö.). © Cover: Mixtvision / Illustration Julia Friese

Der Große Böse Fuchs

Montag, 9. April 2018

Teestunde mit Steckrüben. Oder: Vom irrwitzigen – vermeintlichen – Scheitern

Auf dem Bauernhof Unruhe stiften, Angst und Schrecken verbreiten, all das würde er gerne, der Fuchs. Stattdessen bezieht er von den Hennen Schelte. Auch der Wolf, der aus dem Loser einen richtigen Fuchs, ein richtiges Raubtier!, machen möchte, scheitert an dem wehrhaften Federvieh (Teufels-Hühner, die sich schon mal mit Holzlatten, Heugabeln und Fackeln zur Wehr setzen). Nicht genug dieses Irrwitzes ist der Fuchs alsbald mit drei frisch geschlüpften Küken konfrontiert, die ihn für ihre Mama und folglich sich selbst für Füchse halten. Statt die Kleinen zu verspeisen, wie von Fuchs und Wolf ursprünglich geplant, stellt der Fuchs sich den Herausforderungen der Küken-Erziehungsarbeit. Zuerst nur äußerst widerwillig entwickelt er schließlich Zuneigung zu seinen drei Sprösslingen. Allerdings hat der Wolf nicht auf die ursprüngliche Idee des Eierklaus vergessen, und auch die Hühner merken nach einiger Zeit, dass da etwas nicht mit rechten Dingen zugeht …

Diese witzige Geschichte erzählt der französische Cartoonist, Animator und Filmemacher Benjamin Renner in zum Schreien komischen Bildern (wenn die lieben Kleinen Teegesellschaft spielen und eine Steckrübe als Gräfin titulieren, wenn die Hühner ihre Vereinssitzung einberufen, weil der Wach- und Hofhund seinen Aufgaben nicht nachkommt, bleibt kein Auge trocken). Wenige kleine Striche genügen für die Darstellung der sehr abwechslungsreichen Gemütszustände all dieser tierischen ProtagonistInnen. Wie mit Mosaiksteinchen gestaltet Benjamin Renner viele kleine, slapstickartige Szenen zu einem Tableau der Fauna, wie es die Menschenwelt noch kaum erlebt haben dürfte. Und doch sind diese beiden Universen gar nicht so verschieden. Hier wie da quengeliger Nachwuchs, Tücken der Erziehung, seltsame Freunde, Tarnen und Täuschen, Fragen nach der eigenen Herkunft, überbesorgte Mütter, Elternvereine …

Der Band ähnelt mit bis zu acht Bildchen pro Seite Filmsequenzen. Tatsächlich bildet Benjamin Renners Graphic Novel auch die Basis des französischen Animationsfilms „Le Grand Méchant Renard et autres contes“.

Petra Öllinger

Benjamin Renner (Text & Ill.): Der Große Böse Fuchs. (Originaltitel: Le Grand Méchant Renard)
Aus dem Französischen von Benjamin Mildner
avant-verlag Berlin, 2017
Softcover, 192 Seiten, € 25,80 (Ö)
Über Benjamin Renner
Trailer zum Film
© Buchcover: avant-verlag

Erfolg in Studium und Karriere – Fit durch Selbstcoaching

Montag, 16. Oktober 2017

Ein Navi für Studierende und junge HochschulabsolventInnen

Noch ein Ratgeber für den erfolgreichen Weg durch den Universitätsalltag und das Erklimmen der beruflichen Karriereleiter?
„Wir plädieren für ein kräftiges ‚Gewiss!‘“ Diesen Worten von Co-Herausgeberin und Co-Autorin Natascha Miljković ist zuzustimmen.
Das Buch bietet eine ausgewogene Mischung aus Theorie und Praxis. Vier Hauptkapitel (Kompetenzen, Studium, Kontakte, Karriere) mit vielen Übungen (200!) sind in kompakte Themenhäppchen gegliedert und helfen – geschlechtergerecht formuliert – beim Navigieren durchs studentische Leben. Man muss sich nicht von Anfang bis Ende durchs Buch arbeiten, sondern kann auch beim jeweiligen eigenen, aktuellem „Brennpunkt“ andocken. Das Layout bietet hier eine gute Orientierung: Übungskästchen sind mit einem Stift, Kästchen mit Tipps mit einem Turnschuh markiert. Die Kästchen umfassen Inhalte, die in anderen Karriereratgebern oft übersehen werden, zum Beispiel ein Security-Check für das technische Equipment, das Thema Freiwilligenarbeit, die häufig unterschätzte Möglichkeit, auch als „unfertige/r“ Studierende/r Expertise bei Tagungen zu zeigen.

Sympathisch, wie die AutorInnen Mut machen zur Authentizität und die LeserInnen nicht mit 08/15-Tipps traktieren: René Merten zum Beispiel zeigt, dass ein abgebrochenes Studium nicht automatisch persönliches/fachliches Versagen bedeutet, sondern durchaus eine Bereicherung fürs Berufsleben bietet; gleichzeitig räumt er auf mit dem Vorurteil, Karriere und Erfolg seien dasselbe. Die beiden weiteren Co-Autorinnen Regina Fenzl und Katrin Miglar brechen eine Lanze fürs (wissenschaftliche) Schreiben mit vielen (praktikablen) Anregungen abseits vom Elfenbeinturm.
Auch wenn an einigen Stellen die Fülle an Inhalten ein bisschen zu einer, um Natascha Miljković zu zitieren – „kreativen Wurst an Gedankengängen“ – zu werden droht (dem Kapitel „Karriere“ hätte z. B. ein Weniger an thematischem Hin und Her gut getan): Gesamtgesehen bietet das Buch mit seinen weiterführenden Literaturhinweisen, praktische Übungen und zahlreiche Tipps ein Füllhorn, aus denen StudienanfängerInnen und junge AbsolventIn wertvolle Unterstützung und Anregungen beziehen können.

Petra Öllinger

Natascha Miljkovi? & René Merten (HgIn.): Erfolg in Studium und Karriere – Fit durch Selbstcoaching
Verlag Barbara Budrich, Opladen & Toronto, 2017
Taschenbuch, 268 Seiten, € 20,60 (Ö)
Über Natascha Miljković
Über René Merten

Am Donnerstag, 19. Oktober 2017 um 19:00 Uhr finden im „Wiener Bücherschmaus“ – Verein für Leseförderung und Buchkultur die Buchpräsentation und Mini-Workshops statt. Die genauen Informationen finden Sie hier.

© Cover: Barbara Budrich / UTB Verlag

Wo bleibt das Meer?

Montag, 11. September 2017

Sandburgen ergeben sich dem Wind

Sie sind auf keinen Bestseller-Listen zu finden, bei preisgekrönten Büchern sucht man sie zumeist vergeblich, Feuilletons meiden sie und der Weg hinein zwischen zwei eigene Buchdeckel bliebt ihnen oftmals verwehrt: Einzelveröffentlichungen von Kinder- und Jugendgedichten. Zugegeben, es gibt Ausnahmen in der Kinderlyrik wie zum Beispiel „Das kleine Ich bin ich“ von Mira Lobe oder „Der Leuchtturm auf den Hummerklippen“ von James Krüss oder „Und außerdem sind Borsten schön“ von Nadja Budde.
Oder „Wo bleibt das Meer?“ von Ted van Lieshout. Der niederländische Autor, Grafiker, Illustrator zeichnet sich durch eine Vielfalt literarischer/bildnerischer Werke aus: Romane, Gedichte, Hörspiele … Eine Zusammenstellung seiner Gedichte der letzten dreißig Jahre erscheint zum ersten Mal in deutscher Übersetzung (Rolf Erdorf) im Susanna Rieder Verlag. Und zwar als Einzelveröffentlichung!

Wie ist es, wenn man sich auf der Schwelle zum Erwachsenensein befindet? Ted van Lieshout bringt die zwiespältigen Stimmungen auf eben dieser Schwelle in seinen Gedichten nuancenreich aufs Papier. Er zeigt, dass es auch ohne anbiedernde Holzhammermethoden wie liebliche Verkleinerungen, coole Ausdrücke oder Fäkalsprache gelingen kann, Kindern/Jugendlichen anspruchsvolle Lyrik „schmackhaft“ zu machen und zugleich Erwachsene anregt, sich vergangene Kindheitstage zu vergegenwärtigen. Seine Poesie folgt keinem lyrischen Sprachregelwerk, bei dem es ein bestimmtes Versmaß oder strenge Reimformen zu befolgen gilt.
Wie ist es also, wenn einen die Eltern nerven, gleichzeitig sich aber die Sorge breit macht? „Ach, was soll ich nur tun, wenn ich der Erste bin, / der für dich sorgen muss, Mutter, wenn du tot / bist und keiner in der Welt es noch weiß?“ („Mutter“, S. 31)
Wie ist es, wenn man sich seiner selbst noch nicht ganz sicher ist? „Ich schwebe über allem dahin / im Geheimen – denn wie Welt weiß / noch nicht so recht, dass es mich gibt. Ich muss mich manchmal auch noch / an mich gewöhnen, / doch mein Vorsprung ist schon groß. Wer auf dem Fahrrad / an mir vorbei will, muss mit einer Biege / um mich herum. Und eine Biege / ist auch eine Verbeugung.“ („Verbeugung“, S.15)
Wie lässt sie sich aushalten, die Spannung zwischen dem Wunsch nach Unabhängigkeit von und dem Wunsch nach Geborgenheit in der Familie? „So wie Eis aus Wasser ist, aber Wasser nicht aus Eis, / so spüre ich festen Grund unter den Füßen. / Jetzt muss ich hinüber, ehe es taut.“(„Gefrorene Sprechblasen“, S. 51)
Und dieses leidige Warten! „Wo bleibt / das Meer? / Ach, wo bleibt / doch das Meer? … Die Dünen / wollen ins Wasser / gehen und der Abend senkt sich.“

In Brigitte Püls‘ Holzschnitten hinterlässt das Meer und viele seiner Attribute Spuren im Buch. In einfachen Linien kommt eine Angelschnur daher, ein Papageifisch, ein Swimmingpool, im Wasser zeigt sich die Flosse eines Hais; die weiße Silhouette eines Bootes gleitet über Gedichte, die es geschafft haben, ihren Platz zwischen zwei Buchdeckeln zu finden.

Petra Öllinger

Ted van Lieshout (Text), Brigitte Püls (Illustrationen und Buchgestaltung): Wo bleibt das Meer? Gedichte
Aus dem Niederländischen Rolf Erdorf
Susanna Rieder Verlag, München 2017
Gebunden, 64 Seiten, € 15,- (Ö)
Über Ted van Lieshout
Über Brigitte Püls Serge Bloch
Über Rolf Erdorf
Interview mit Rolf Erdorf zum Thema Übersetzen

© Cover: Susanna Rieder Verlag / Brigitte Püls

Fast wie Freunde

Montag, 28. August 2017

„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“

Erich Kästner

Angst haben – das ist uncool, feige, lächerlich. Genau hinschauen – das ist anstrengend, unnötig, aufwühlend. Trotzdem zahlt es sich aus. Speziell, wenn alles in Ordnung zu sein scheint. Die Menschen in der Stadt, in der die Handlung spielt, haben alles, was sie zum Leben brauchen, sie grüßen einander, führen ein sorgloses Leben. Bei genauerem Hinschauen sind sie erkennbar: die traurigen Augen, die gebückte Haltung der Mitmenschen. Schleppt nicht jede/r eine Art schwarzen Sack am Rücken mit sich? In so einer Stadt wohnt Sophie. Sie scheint wie jedes Kind. Oder trägt Sophie ebenfalls eine solche Last und ist deswegen alles so schwer für sie? Die Doktoren können ihr nicht helfen; auch sie wollen nicht genau hinschauen und tragen gleichzeitig ihr persönliches Angstpaket umher. Als Sophie schließlich doch einen Blick wagt, entpuppt sich das schwarze Ding auf ihrem Rücken als ihre Angst. Ihre Versuche, den ungeliebten Gast mit Gewalt loszuwerden, misslingen. Warum also nicht die Angst kennenlernen bei gemeinsamen Unternehmungen wie schwimmen oder auf Bäume klettern? Mal ist die Angst näher bei Sophie, mal ist sie weiter weg. Und eines Tages geht sie fort, um nur mehr hin und wieder bei Sophie vorbeizuschauen, wenn diese sie wirklich braucht.

Sich ein Bild von etwas Unbekanntem, Gefürchteten zu machen ermöglicht erst die Auseinandersetzung damit. Mirjam Zels zeichnet ein sehr charmantes Bild dieses Unbekannten. Nur auf dem ersten Blick wirkt die Angst unheimlich, wenn sie sich mit dünnen Armen an den Hals ihres Menschen klammert, als schwarzer Sack auf dem Rücken hängt. Sophies Gefühl, dass etwas nicht mir ihr stimmt, dass sie anders ist als andere Kinder, wird deutlich in ihrem niedergeschlagenen Blick, in der gebeugten Haltung. Sie kämpft mir ihrer Angst. Die körperliche Anstrengung zeigt sich eindringlich in jenen Momenten, als Sophie mit aller Kraft versucht, das schwarze Etwas von ihrem Rücken zu bekommen, das wie festgeklebt zu sein scheint. Als auch die anderen Menschen sich nach und nach trauen, ihre Angst genauer anzuschauen, entpuppt sich diese als humorvolles, hilfreiches Wesen. Es sitzt auf dem Sozius eines Motorrollers, nimmt Platz in einer Handtasche, schaut aus dem Fenster, spaziert an der Hand eines Kindes. Die Veränderung wird auch an den Häusern sichtbar. Sieht man zu Beginn der Geschichte nur kahle Mauern und geschlossene Fenster, so erwachen die Häuser danach zu Leben: Blumen blühen in Fensterkisten, eine Frau winkt und hängt Wäsche auf, Sessel und ein Tisch stehen auf einer Terrasse.

Ausgangspunkt des Bilderbuches war Mirjam Zels‘ Bachelorarbeit an der Technischen Schule Nürnberg/Fakultät Design, für den sie im Sommersemester 2015 den Fakultätspreis für die beste Bachelorarbeit erhielt. Ein Blick auf ihre Homepage zeigt die Illustrationen in der ursprünglichen Form: dicke Augenbrauen und Nasen verleihen den Gesichtern einen düsteren Ausdruck, die Figuren wirken beinahe unheimlich; die Überarbeitung lässt die Agierenden sympathischer wirken und tut der Aussage der Geschichte keinen Abbruch. Die Angst wird nicht besiegt und abgeschoben, sie wird als Teil des Lebens akzeptiert. Die Menschen und ihre Angst kommen miteinander aus – fast wie Freunde.

Petra Öllinger

Mirjam Zels (Text und Illustrationen): Fast wie Freunde
kunstanst!fter, Mannheim 2017
Gebunden, 44 Seiten, € 22,70 (Ö)
Ab 6 Jahren und für Erwachsene
Über Mirjam Zels

© Cover: kunstanst!fter / Illustratorin

Vor den 7 Bergen

Montag, 21. August 2017

Wenn die Obsternte eine Reise verhindert

Es waren einmal 7 Äpfel: Erzherzog Anton, Åkerö, Kanzi, Süßfranke, Hasenkopf, Elstar, Hausmütterchen. Es waren einmal 7 Kinder: die Zwillinge Ali & Uli, Lola, Baby, Paula, Hanno, Fritzi. Es war einmal ein Winter, in dem es immerzu regnete. Die 7 Kinder aber wollten Schnee. Da half nur eines: ins Gebirge zur Oma fahren, denn da lag Schnee. Immer! Und Apfelkuchen gab es auch.

Los geht‘s! Aber halt! Der Untertitel des Bilderbuches – „Davon, wie Schneewittchens Enkel in die Berge wollen und ALLES schiefgeht“ – deutet bereits an, dass die Fahrt nicht einfach werden wird. Wie im Märchen von Schneewittchen haben auch die alleinerziehende Mama und die 7 Kinder inklusive Hund Lotti 3 Aufgaben übers Jahr zu bewältigen. Statt zu eng geschnürtem Korsett, einem giftigen Kamm und einem vergifteten Apfel gilt es Windpocken, eine unerwartete Apfelernte sowie einen Motorschaden zu überwinden. Schließlich gelingt es ihnen jedoch mit einem Eiswagen die Reise zu Oma, die schon einen Apfelkuchen gebacken hat, erfolgreich zu absolvieren.

Überhaupt die Äpfel. Die Illustratorin Mareike Engelke hat auf fast jeder Seite mehrere davon platziert. Auf einem Bild sogar zusammen mit einem Kamm und einem BH … Und die auf der Titelseite abgebildeten Äpfel glitzern. Der Stil ihrer Illustrationen erinnert an farbenfrohe Kinderzeichnungen mit verzerrter Perspektive und allerlei witzigen Details. Auch Kennzeichen des modernen Lebens sind zu erkennen. Die Kinder kommunizieren mit ihrer Oma via Internet (Tablet mit W-LAN Symbol). Die alleinerziehende Mama arbeitet an einem Marktstand, die unerwartete Apfelernte beschert ihr unvorhergesehene Arbeitszeiten.
Es ist erstaunlich, was alles in ein Auto rein muss: Zum Beispiel 16 warme Stiefel, 1 Kamm, 14 Spielzeugautos und 5 Kilogramm Äpfel1. Wer schon einmal mit Kind(ern) im Auto gereist ist, wird das Jammern und Klagen während der Fahrt (Eisverkäufer Bo schleppt mit seinem Eiswagen den kaputten Wagen über die 7 schneebedeckten Berge) wiedererkennen: „Ist es noch weit?“ „Ich muss mal.“ „Mir ist schlecht.“

Die Journalistin, Texterin und Autorin des Jugendromanes „Nichts erzählen“, Annette Feldmann, erzählt mit klarer, einfacher Sprache, ohne banal zu sein, und sie lässt die Mama auch schon mal fluchen und zetern (siehe das hin und wieder auftauchende im handschriftlichen Stil gestaltete Wörtchen „Mist“). Diese sprachliche Schnörkellosigkeit eignet sich vorzüglich zum Vorlesen; eventuell mit zwei, drei Äpfeln zur Stärkung …

Petra Öllinger

Mareike Engelke (Illustrationen, Cover- und Buchgestaltung) & Annette Feldmann (Text): Vor den 7 Bergen. Davon, wie Schneewittchens Enkel in die Berge wollen und ALLES schiefgeht
kunstanst!fter, Mannheim 2017
Gebunden, 32 Seiten, € 22,70 (Ö)
Ab 4 Jahren

Über Annette Feldmann
Über Mareike Engelke

© Cover: kunstanst!fter / Mareike Engelke

1: Übrigens sind es nicht nur die eingangs erwähnten 7 Apfelsorten. Es gibt noch viel mehr davon zu entdecken auf dem liebevoll gestalteten Vor- und Nachsatzpapier, dessen Motiv kann man bei Mareike Engelke auch als Geschenkpapier ordern.

Jasper braucht einen Job

Montag, 14. August 2017

Wenn Hunde sich amortisieren

500 (in Worten: fünfhundert) Euro. Das sind die ungefähren Kosten im Jahr für einen mittelgroßen Wuff für das Notwendigste wie Futter, Hundesteuer, Versicherung und jährliche Impfkosten. Nicht inkludiert sind: Leine, Halsband, Maulkorb, Extra-Besuche in der Tierarztpraxis, Extra-Medikamente, Krallenschneiden, Hundefriseur, Leckerlis, Spielsachen, Hundebett etc. pp.

Welcher Hundemensch hegt da nicht das eine oder andere Mal den Wunsch, der Vierbeiner möge sein Brot doch selbst verdienen. Welcher Hundemensch schlägt nicht das eine oder andere Mal die Hände über den Kopf zusammen mit den Worten: „Der Hund kostet uns ein Vermögen!“ – mit jenen Worten, mit denen Mr. Cletus die Geschichte von Jasper eröffnet. Und dieser kostet laut Mr. Cletus 900 (in Worten: neunhundert) Dollar was ungefähr einem Betrag von 750 Euro1 entspricht. Jasper ist ein Dobermann, die Kosten halten sich für seine Größe im Grunde genommen in Grenzen. Trotzdem stellen sich Mrs. und Mr. Cletus die Frage: Jasper oder das Schulgeld für die Kinder. Die Lösung für das Dilemma folgt prompt: Jasper erhält das Angebot, in George Bernard Shaws „Cäsar und Cleopatra“ mitzuspielen. Dank seiner Ähnlichkeit mit dem ägyptischen Gott Anubis und ausgeklügelter Tricks des Regisseurs und der SchülerInnen – Spielsachen und Trockenfutter! – bewältigt Jasper souverän seine Rolle als Cleopatras Hund. Und obwohl er eines Abends in die innige Liebesszene furzt („… Schauspieler, Schauspielerinnen und Bühnenarbeiter brachten ihm köstliche kleine Steaks und von Knoblauch triefende Stampfkartoffeln.“ – kein Wunder, dass seine Verdauung außer Rand und Band gerät), landet das Stück einen großen Erfolg und Jasper wird in der Schülerzeitung „ausführlicher gelobt … als die Königin selbst“. Nach der letzten Aufführung endet sein Künstlerkarriere. Der Hund kostet aber weiterhin ein Vermögen. Er braucht also einen Job. Die Lösung findet Mr. Cletus in einer Illustrierten beim Zahnarzt: „Ich werde die Zollabteilung beim Flughafen anrufen.“ Die haben da nämlich ein Hundeschulungsprogramm …

Ein Durchschnittsfamilienhund macht Karriere als Schauspieler, und die Zweibeiner grübeln darüber nach, ob das seriös genug für ihn sei … – das ist nur ein Beispiel für den (Sprach-)Witz des kanadischen Autors Michael Ondtaatje in dieser grotesken Geschichte. Dessen lakonische Formulierungen steigern die Skurrilität der ganz und gar nicht durchschnittlichen Mensch-Hund-Beziehung.
Bunt-schrill, technisch vielfältig, humorvoll, federleicht bringt der französischen Künstler und Illustrator Serge Bloch (er zeichnet u. a. für die New York Times und die die Süddeutsche Zeitung) die Ereignisse um Jasper und Co. aufs Papier. Er illustrierte das Heft (Fadenknotenheftung und Schutzumschlag) mit Original Flachdruck-Grafiken. Und ein Poster gibt es auch dazu!

Summa summarum: Der Erwerb von „Jasper braucht einen Job“ amortisiert sich ganz schnell sowohl bei text- als auch bildbegeisterten Zweibeinern.

Petra Öllinger. Für Brilli und Zwetschke, ihr bleibt unvergessen!

Michael Ondaatje (Text), Serge Bloch (Illustrationen): Jasper braucht einen Job
Nummer 47 Aus der Reihe „Die Tollen Hefte“, herausgegeben von Rotraut Susanne Berner
Aus dem Englischen von Anna Leube
Edition Büchergilde, Frankfurt/Main 2017
32 Seiten, € 17,50 (Ö)
Über Michael Ondaatje
Über Serge Bloch

© Cover: Edition Büchergilde / Serge Bloch

1: Umgerechnet in US-Dollar, in Kanadischen Dollar wären es ca. 600.- Euro – kostet also auch nicht die Welt …

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