Archiv für die Kategorie 'Rezensionen'

Foc / Feuer

Montag, 19. September 2016

Einrücken, heimkehren, neugierige Gänse

Cover Foc_Feuer1. März 1939: „Ich musste zum rumänischen Wehrdienst in Elisabethstadt einrücken.“
Ich – das ist Sebastian Rethers Großvater. Dessen Einberufung 1939 „beschert“ ihm bis 1945 Kriegserlebnisse, die sein Enkel auf sehr außergewöhnliche Art festgehalten hat. In dieser Graphic Novel, die ursprünglich die Bachelor-Arbeit des Künstlers und Illustrators bildete, zeichnet er – im wahrsten Sinn des Wortes – die Erinnerungen seines Großvaters nach. „Es ging mir weniger um den Krieg an sich, als um die privaten Erinnerungen und subjektiven Empfindungen eines jungen Soldaten“, erklärt Sebastian Rether. Ausgangspunkt des Buches sind Aufzeichnungen und Gespräche, die er mit seinem Großvater geführt hat.

In den vermeintlich einfachen Skizzen verbirgt sich Bewegendes. Es sind keine großen Gesten/Striche/Wörter, Sebastian Rethers Bilder verlangen dem/der BetrachterIn genaues Hinschauen ab, um das Eindringliche und Berührende, den Wahnsinn des Krieges zu erfassen; und auf einem Pferd das titelgebende Wort „Foc“ (rumänisch für Feuer) zu entdecken.

Bereits zu Beginn des Buches heißt es „Abschied nehmen“. Das erste Kapitel bedarf so wie die folgenden nicht vieler Worte: Dieser Abschied ist ein gezeichnetes Stück Seife, Rasierzeug, ein paar Blätter Papier und Kuverts, die, in ein Tuch eingeschlagen, vom Einberufenen mitgenommen werden. Zurück bleiben ein Brief, eine nackte Glühbirne und drei neugierig schauende Gänse …

Erste Station: Elisabethstadt. Noch trägt den Rekruten die Überzeugung, sein Dienst werde nur drei Monate dauern. Es folgen Jahre. Der Krieg wird ihn quer durch Europa führen; an die Ostfront, in die Bretagne oder nach Italien. Es sind mehr oder weniger Kleinigkeiten, Banalitäten, die seine Erinnerungen markieren: ein halbes Huhn, das im Schützengraben zu einem Festessen wird, Obstbäume, mit Erhängten an den Ästen, ein Löffel. Beklemmend die Soldatengesichter: Einige haben nur leere Fläche, andere tragen einen Schweine- oder, so wie der Großvater, einen Hundekopf. Deutsche Panzer als Schildkröten wirken martialischer als realistisch dargestellte Kampfgeräte.

Manchen Bildern wohnt etwas Komisches inne, wenn sich beispielsweise ein Soldat hinter einer übergroßen Flasche übergibt. Oder wenn auf einer Doppelseite vier Soldaten auf ihren Pferden in Richtung BetrachterIn reiten und derart an einen Western erinnern. Tragikomisch mutet das Kapitel „Großes machen“ an, in dem es heißt: „Zu einer späteren Zeit ging ein Unteroffizier den Graben hinunter …“ Der Unteroffizier verrichtet lesend sein großes Geschäft, die folgenden zwei Bilder machen das Trügerische dieser Stille regelrecht greifbar: Eine Granate schlägt ein, zurück bleibt nur der Helm. Aus. Lakonisch auch die Sprache, maximal zwei kurze treffende Sätze pro Seite, viele Bilder bleiben ohne Text.
Sogar das Inhaltsverzeichnis ist reduziert. Statt herkömmlicher Kapitelüberschriften finden sich nur die jeweiligen Seitenzahlen in den angedeuteten Umrissen einer Landkarte. Diese Zahlen markieren die unterschiedlichen Orte, an denen Rethers Großvater auf seiner Kriegsodyssee, an- und vorbeikommt.
Schließlich die Heimkehr, mit dem lapidaren Satz „Nachdem ich mich gewaschen hatte, legte ich die Füße in warmes Wasser …“ ist der Krieg für den Ich-Erzähler (vorerst) beendet, bestaunt von drei neugierig schauenden Gänsen …

Petra Öllinger

Sebastian Rether: Foc/Feuer
Edition Büchergilde, Frankfurt/Main, 2016
Gebunden, fester Einband mit strukturiertem Papier, 368 Seiten, € 25,70 (Ö)
Über Sebastian Rether

© Cover: Edition Büchergilde/Sebastian Rether

Sternenschwester. Ein Buch für Geschwister und Eltern von tot geborenen Kindern.

Mittwoch, 7. September 2016

Schluss mit dem Schweigen

Cover Sternenschwester Es gibt sie noch, die letzten Tabus in unserer Gesellschaft, zum Beispiel jenes von tot geborenen oder früh verstorbenen Babys. „Hunderte Fotos von lebenden Kindern machen die Runde, stolze Eltern posten Familienfotos auf Facebook, Familie und FreundInnen gratulieren, bringen kleine Geschenke. Tot geborene oder sehr früh verstorbene Babys hingegen werden meist nicht als Teil einer Familie wahrgenommen.“ 1 Und doch sind sie es. Umso mehr, wenn nach dem Tod eines Kindes dessen Geschwister zur Welt kommen. Wie lebt es sich als ein solches Geschwisterkind in dem Wissen, dass vor einer/einem bereits jemand da war und nun nicht mehr ist? Darf man überhaupt über die tote Schwester, den toten Bruder sprechen? Wie gelingt es als Mutter/Vater, eine Verbindung zwischen dem verstorbenen und dem lebenden Kind aufzubauen? Wäre ein Schweigen über einen „solchen Vorfall“ nicht einfacher, heilsamer? Möglich. Wahrscheinlicher ist: „Totschweigen ist wie noch einmal sterben“, wie Gabi Horak-Böck in ihrem Artikel „Sternenkinder“ schreibt.

Eine Hilfe, um dieses Schweigen zu brechen, bietet Doris Meyers „Sternenschwester“. Die Idee zu diesem Bilderbuch entsprang ihrer eigenen Betroffenheit als Sternenmama. Ihre erste Tochter kam tot zur Welt. Doris Meyers Suche während ihrer zweiten Schwangerschaft nach einem geeigneten Bilderbuch zu diesem Thema blieb erfolglos. Das nahm sie zum Anlass, selbst ein Buch zu gestalten. Der „Erdenbruder“ erzählt darin in einfachen klaren Sätzen von seiner „Sternenschwester“ Maja, die vor ihm auf die Welt gekommen, jedoch nach kurzer Zeit gestorben war. Seine Eltern halten das Andenken an sie wach mit kleinen Erinnerungsstücken wie ein rotes Tuch, in das Maja eingewickelt war, oder ihre Hand- und Fußabdrücke auf einer Karte. Sie beziehen ihren Sohn in dieses Gedenken ein. Dadurch gelingt es ihm, zu seiner toten Schwester eine Verbindung aufzubauen, in dem er zum Beispiel ein kleines Windspiel für sie bastelt. Und natürlich taucht die Frage auf, wo Maja jetzt wohl sei. Das Wohltuende an der Antwort der Eltern ist, dass sie keine Antwort darauf wissen und ihren Sohn nicht mit (religiösen) Erklärungen zu beruhigen versuchen.
Die ganzseitigen, in freundlichen Farben gehaltenen Aquarellbilder sowie freie Seiten zum Selbstgestalten laden ein zu eigenen Gedanken/Bildern, vor allem dann, wenn Worte fehlen.

Danke an Doris Meyer für dieses Buch, das für Kinder ab 4 Jahren und Erwachsene gleichermaßen geeignet ist.

Petra Öllinger

Doris Meyer: Sternenschwester. Ein Buch für Geschwister und Eltern von tot geborenen Kindern. Mit einem Nachwort von Franziska Maurer.
Mabuse Verlag, Frankfurt/Main, 2. durchgesehene Auflage 2016.
32 Seiten, €17,40 (Ö)

© Cover: Mabuse Verlag/Doris Meyer

1: Gabi Horak: „Sternenkinder“. In: an.schläge. Das feministische Magazin. September 2014.

Ben und die Wale. Eine wunderbare Reise

Mittwoch, 10. August 2016

Vom Abschiednehmen und fliegenden Giganten

Cover Ben und die WaleSeit mittlerweile zehn Jahren erscheinen im Mannheimer Kunstanst!ifter Verlag (Bilder-)Bücher, die den LeserInnen ein visuelles Vergnügen bereiten. Und erst die Inhalte! Beispiel gewünscht? Bitte sehr: „Ben und die Wale“.

Die südafrikanische Bilderbuchautorin Ingrid Mennen widmet sich darin einer Tatsache, der wir alle früher oder später ins Auge sehen müssen: dem Tod.

Bei ihren Spaziergängen entlang der Küstenpfade beobachten Ben und sein Großvater die Wale. Beide arbeiten an Opas Sammelalbum über diese „fliegenden Giganten des Meeres“, wie Bens Großvater diese Tiere nennt. Bereits auf der dritten Seite ist jedoch das Unvermeidliche eingetreten. Bens Opa stirbt. Am selben Nachmittag lädt Bens Vater ihn zu einem Spaziergang ein. Beide gehen denselben Weg, den Ben auch mit seinem Opa entlanggewandert ist, und Bens Vater erzählt ihm eine Geschichte. Es ist eine Geschichte über ein Walkind und einen alter Buckelwal, der strandet und nicht mehr zurückfindet ins Meer. Das Walkind aber muss zurück zu seiner Herde; es wird den alten Wal loslassen. So wie Ben von seinem Opa Abschied nehmen muss. Dabei scheinen dem Jungen Flügel zu wachsen, wie bei den „fliegenden Giganten des Meeres“.

Die Autorin arbeitete an diesem Buch gemeinsam mit ihrer Tochter Irene Berg, die die Geschichte illustrierte. Fast kann man es riechen und hören das Meer, in seinen vielen (Farb-)Facetten vom „lieblichen“ über das arktische Blau bis zum aufgewühlten Grau. Im Meer immer wieder Wale; schwimmend, springend, tauchend. Den Tod des Großvaters symoblisiert ein leerer Ohrensessel und ein Basset, der mit traurigem Blick davor liegt. Er wird zwar nicht im Text erwähnt, trotzdem begleitet dieser Hund den Jungen in vielen Szenen.

Ein Küstenabschnitt aus der Vogelperspektive zeigt bei genauem Hinschauen die Szene, als der alte Buckelwal sterben muss und der kleine Wal zu seiner Herde schwimmt. Doch bietet dieses Bild etwas Tröstliches: die am Horizont aufgehende, leuchtend gelbe Sonne. Genaues Hinschauen lohnt sich auch beim liebevoll gestalteten Vor- und Nachsatzpapier: Es sind Seiten aus Opas Sammelalbum, voll mit Notizen, Skizzen, eingeklebten Zetteln und vielen Informationen über Wale. Und wer über den Buchdeckel streicht, erlebt eine reizende Überraschung.

Petra Öllinger

Ingrid Mennen (Text), Irene Berg (Illustration, Coverillustration, Lettering), Yimeng Wu (Buchgestaltung): Ben und die Wale. Eine wunderbare Reise.(Originaltitel: „Ben and the Whales. The Extraordinary Journey“/“Ben en de Walvisse – `n wonderbaarlike Reis, ins Deutsche übersetzt von Ingrid Mennen und Irene Berg)
Kunstanst!fter Verlag, Mannheim 2016.
32 Seiten, € 18,60 (Ö)

© Cover: Kunstanst!fter Verlag

Der Geruch der Welt

Montag, 18. Juli 2016

Ein olfaktorischer, und manchmal sehr mühsamer, Weg durch die Welt.

Cover: Der Geruch der Welt Es gibt Wege, die einen dermaßen anstrengen, dass sich Zweifel breitmachen, je ans Ziel zu gelangen. Es gibt Wege, die einen am eigenen Verstand zweifeln lassen, weil man die Besonderheiten auf dieser Strecke, die von MitgeherInnen bestaunt und bejubelt werden, nicht sieht. Aber es gibt auch Wege, die von Labstationen gesäumt sind, an denen man die Hoffnung schöpft, nicht völlig umsonst unterwegs zu sein.

Diese sehr gemischten Gefühle beschleichen einen, wenn man sich auf den Weg durch Paul Divjaks Essay begibt. Der Autor, Künstler und Kunstwissenschafter ist u.a in der Olfaktorik tätig und – „schenkt uns ein raffiniertes literarisches Plädoyer zum verfeinerten Gebrauch unserer Nase“. Und da taucht er schon auf, der Zweifel. Warum will sich die vom Verlag formulierte literarische Raffinesse nicht bemerkbar machen? Warum will sich die an „Wittgenstein erinnernde Strenge“, wie Rainer Rosenberg sie in der Ö1-Radiosendung „Von Tag zu Tag“ formulierte, nicht auftun? Ist man zu dumm, zu ignorant, zu oberflächlich, weil man sich diesem Staunen nicht recht anschließen mag?

Also ein paar Schritte zurück auf dem Weg und nochmals lesen. „Die prägenden Moleküle eines Geruchs verhalten sich auf ganz bestimmte Art und Weise zueinander. Die Art und Weise, wie die prägenden Moleküle eines Geruchs sich zueinander verhalten, bestimmt seine Charakteristik.“ S. 18
„Zum objektiven Geruchsbild gehört alles, was zum Geruch gehört, nicht aber die Projektionen / die Zuschreibungen / die (individuelle) Interpretation.“ S. 38
Das „No, na“ schwindet trotzdem nicht.

Wer sich mit dem menschlichen Riechorgan und der Wahrnehmung des Geruchs der Welt beschäftigen möchte, ist bei den eingangs erwähnten Labstationen besser aufgehoben. Davon gibt es in Paul Divjaks Text eine große Anzahl. Zitate, Hinweise, Querverweise zu Literatur, Musik, Werbung sowie zu wissenschaftlichen Erkenntissen und Erfahrungen aus der Welt der Olfaktorik, z.B. die Präsemantik – die unmittelbare Wahrnehmung abseits des Verbalen – als Merkmal bei der Bezeichnung/Beschreibung von Gerüchen.
Duftassoziationen durchbrechen in unregelmäßigen Abständen den Text auch typographisch. In Grossbuchstaben eingestreute Wörter – z.B. BACDEO. EINE KARBIDLAMPE. MERFEN ORANGE. TIPP-EX. – lösen Überlegungen aus wie: Gibt’s das überhaupt noch? Wie riecht so etwas? Vernachlässigen und unterschätzen wir unseren Geruchssinn tatsächlich? Warum fehlt’s an geeigneten Worten, um diesen zum Ausdruck zu bringen?

Wer durchhält, wird am Ende des olfaktorischen Weges mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis belohnt, dass Möglichkeiten bietet, Antworten auf diese Fragen zu erhalten.


Petra Öllinger

Paul Divjak: Der Geruch der Welt. Essay. Gebunden mit Lesebändchen.
Edition Atelier, Wien, 2016.
80 Seiten, € 15.- (Ö)
Über Paul Divjak

Des Pudels Kern – Quartett der Weltliteratur

Montag, 20. Juni 2016

Cover Des Pudels KernZocken mit Tolstoi
oder
Gut geschützt zwischen Jägerwurst

Lange Nachmittage und Abende vor und im Zelt. Man spielte Mensch-ärgere-dich-nicht, Halma und Mühle. Und wenn ein Würfel oder ein Spielemanderl verlorengingen – kein Problem. Irgendjemand hatte immer eine Alternative dabei; zwischen Jägerwurst-Dosen, Zwieback-Packungen und Kondensmilch-Tuben gut aufgehoben und stets vollständig: ein Quartett-Spiel. Schon ging sie los, die Jagd nach je vier zusammengehörenden Sportwagen, Flugzeugen oder Schiffen. Später folgten Ausgaben mit Atomkraftwerken, Ungeziefer und Tyrannen.

Ist man denn nun eine Tyrannin, wenn man Mitmenschen jenseits des Zelt-Abenteuer-Alters bittet, ein Quartett der Weltliteratur zu testen? „Quartett ist eines der bekanntesten und beliebtesten Kartenspiele für Kinder. Wegen seiner einfachen Regeln ist es schon für die Kleinsten geeignet, …“, das behauptet eine Internetseite, die sich den Regeln von Kartenspielen widmet.

Na also, es geht doch

Zu dritt nimmt man Platz. Die Spielkarten aus Karton liegen mit 10,5 mal 14,8 Zentimeter gut in der Hand. Man fragt die Mitspielerin zur linken Seite, ob sie die Karte 1A besitze. Es kommt kein Ja, es kommt kein Nein, stattdessen der Satz: „Das war soooo langweilig. Aber die Illustration hier ist toll.“ Die Mitspielerin zur linken Seite zeigt die Karte, ein Raunen geht durch die Runde. Man gemahnt, sich an die Regeln zu halten, dazu gehört auch, die Karten NICHT offen darzulegen. Zu spät. Die Spielrunde betrachtet die Thomas-Mann-Buddenbrooks-Karte. Es ist die Karte 1B und wäre mit 1A bereits eine Hälfte des Quartetts. Wäre. Denn die Mitspielerin zur linken Seite denkt gar nicht daran, Thomas Mann herauszurücken, sondern fragt, wer 1C und 1D habe. Mitspieler Nummer drei zückt Gustave Flauberts „Madame Bovery“. Laut Karte – 1C! – hat die Lesbarkeit des Romanes auf einer Skala von 1-10 den Wert 5. Das kostet Mitspieler Nummer drei ein müdes Lächeln, seinen Erfahrungen nach hätte Madame Bovary bei ihm mindestens 8 bekommen. Man selbst outet sich als Besitzerin von Karte 1D und legt Leo Tolstois Werk auf den Tisch: „Krieg und Frieden“.

Bluffen zwecklos

Schon bald sind sämtliche Quartett-Regeln perdu. Die Spielegemeinschaft hat ALLE Karten auf den Tisch gelegt und erfreut sich an den ansprechenden Zeichnungen von Julia Krusch. Sie illustrierte „Dracula“, „Robinson Crusoe“ oder „Stolz und Vorurteil“.

Ein kurzer Schwenk vom Spiel zum Ernst des Lebens bzw. zur literarischen Quartett-Ausstattung. Als da sind: eine Pappbox, 32 Karten mit jeweils 155,40 Quadratzentimetern, darauf Informationen zu 30 klassischen Romanen und 2Dramen. Die sind in 8 Kategorien unterteilt, diese wiederum mit Zitaten aus Shakespeare-Stücken betitelt. Auf jeder Karte findet sich der Erscheinungstermin des Buches, das Alter des/der AutorIn bei Erscheinen des Werkes, die Lesbarkeit auf einer Skala von 1 bis 10, der Hinweis darauf, um den wievielten Roman es sich handelt, die Anzahl der Verfilmungen sowie der Umfang des Werkes (sehr wenig bis sehr viel).

Nicht viele Worte verlieren

Lesemuffel kommen auf ihre Kosten, hält sich doch die Anzahl der Buchstaben in Grenzen – und trotzdem ist dem Quartett ein literarisches Bildungspotential nicht abzusprechen. Lernen en passant, quasi. Die Auswahlkriterien beschreibt Autorin Andrea Baron so: „Es wurden Klassiker gewählt, die ihr Genre auf besondere Weise geprägt oder gar erst etabliert haben, die eine Blaupause bildeten oder einen Skandal verursachten.“

Wer sich nun echauffiert, weil das eigene Lieblingsbuch nicht darunter ist oder weil es diese Klassiker sind und keine anderen, möge einen Blick ins Begleitbüchlein werfen: „Wir haben noch überlegt eine Liste mit ‚Titeln, die es nicht in dieses Spiel geschafft haben‘ anzulegen. Aber mal ehrlich, dann wäre dieses Begleitbuch umfangreicher geworden als Krieg und Frieden, …, ebenso die Buchhändler, der Regale eingestürzt wären, …“ Da ist was dran …

Literatur zwischen Camping-Proviant

Überhaupt, das Begleitbüchlein! Das macht jeder Reclam-Sekundärliteratur-Ausgabe alle Ehre. Die 32 Werke sind kompakt und kompetent beschrieben.

Nach dem Zocken können die Karten bis zur nächsten Runde in die Pappbox gelegt und diese in einem maßgeschneiderten Schuber verwahrt werden. Derart geschützt überstehen Tolstoi und Co. sogar einen „Aufenthalt“ zwischen Jägerwurst-Dosen, Zwieback-Packungen und Kondensmilch-Tuben.

Petra Öllinger

Andrea Baron (Text), Julia Krusch (Illustration): Des Pudels Kern: Quartett der Weltliteratur
Edition Büchergilde. Frankfurt/Main, 2015. € 20.-

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© Coverbild: Büchergilde Gutenberg / Julia Krusch

Amra und Amir. Abschiebung in eine unbekannte Heimat

Dienstag, 19. April 2016

Amra und Amir CoverHeimat oder Geschlecht – wodurch werden wir (eher) definiert?

Das Jugendbuch „Amra und Amir“ wagt sich sehr einfühlsam an teils im dritten Jahrtausend immer noch tabuisierte Themen heran – Flucht und Abschiebung, Sexualität von Jugendlichen und geschlechtliche Stereotype sowie psychische Erkrankungen von Eltern. Die Geschichte einer jungen Deutschen, die ohne soziale Kontakte, Sprachkenntnisse oder finanzielle Mittel plötzlich in das alte Heimatland ihrer Eltern abgeschoben wird, steht stellvertretend für zahllose ähnliche Schicksale, die Autorin Monika Braig darin aufarbeitet.

Als Amra eines Tages einen Brief der Behörden öffnet, der ihre Abschiebung in den Kosovo feststellt, bricht für das burschikose Mädchen eine Welt zusammen. Mühsam war es für sie, ohne Vater für eine psychisch schwer kranke Mama da zu sein und gleichzeitig eine gute Schulausbildung zu absolvieren. Sich für Schwächere einsetzen und wenn nötig sich dafür prügeln wird ihr als „schlecht integrierte“ Frau später zum Verhängnis werden.

Amra will auf keinen Fall weg, sie kennt den Kosovo – die alte Heimat der Eltern, die während des Jugoslawien-Krieges geflohen sind – gar nicht, sie kann auch die Sprache nicht. Und was wird aus ihrer kranken Mutter? Lange glauben Amra und ihre zahlreichen Freundinnen und Freunde an einen Irrtum – Amra, eine faule, unredliche Ausländerin? Lächerlich! Doch kein „Kriegsrat“ der FreundInnen kann Amra beschützen, sie wird eines abends abgeholt und in ein Flugzeug verfrachtet. In Priština zieht sie zunächst zu Verwandten ihrer Eltern, die gar nicht glücklich darüber sind. Frauen leben hier völlig anders; vor allem Haushalt und Kinder sind der Mittelpunkt ihres Lebens. Amra kann nicht nach Deutschland zurück, ihr altes Leben scheint für immer verloren, ein neues kann sie hier als Frau alleine nicht führen. Also fasst sie einen Entschluss: Aus Amra wird Amir.

Abgesehen vom Handy der besten Freundin Nina ist er (Amir) völlig mittellos und muss sich umschauen, wie er zu Essen und einer Bleibe kommt. Auf einem Mistplatz beobachtet er Kinder beim Müllsortieren und überwindet sich, es ihnen gleich zu tun, um die Schrottplatzfunde zu Geld machen zu können. Dort erkennt der Besitzer Amirs Geschick für Autotechnik und stellt ihn zeitweise ein. Nach dem Winter scheint sich Amirs Situation zu verbessern – Nina und ein gemeinsamer Freund tauchen auf und schmieden gemeinsam mit ihm einen Plan, ihn wieder nach Deutschland zurückzuholen. Ob das gut geht?

Das Ansinnen Monika Braigs zahlreiche dieser schweren Schicksale darzustellen ist löblich. Auch die Themenauswahl ist zeitgemäß und spannend. Allerdings hat die Autorin zu viele Themen auf einmal eingeflochten, von denen, außer jenes der Abschiebung aus Deutschland, allerdings keines gründlich betrachtet wird. Das macht sich besonders bei Schlüsselstellen des Buches bemerkbar (zum Beispiel als Amra beschließt, als Mann zu leben!). Darin wird viel zu wenig genau darauf eingegangen, was in der Person alles vor sich geht. Außerdem wird viel Wert auf unterschiedliche Blickwinkel gelegt (Mutter, Freundin Nina, andere Personen um Amra/Amir), die der Geschichte massiv an Fahrt nehmen.

Empfohlen wird das Buch ab 13 Jahren, die Sprache ist an diese Altersgruppe angepasst. Bleibt zu hoffen, dass sich das junge Zielpublikum für das Leben von 18-Jährigen interessiert. Brisant sind die Themen und die Frage nach der eigenen Identität allemal – egal, wie jung oder alt man ist.

Natascha Miljković

Maria Brai: Amra und Amir. Abschiebung in eine unbekannte Heimat
Verlag 3.0. Zsolt Majsai, Bedburg, 2015. 188 Seiten, € 11,80

© Coverbild: Verlag 3.0. Zol Majsai

Die Heimatlosen (Los surcos del azar)

Dienstag, 9. Februar 2016

Die Heimatlosen  Paco Roca BuchcoverVon Idealismus und den Irrungen des Zufalls

Die Heimatlosen präsentiert ein feinfühliges Porträt jener Republikaner, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg im Exil für ihr Ideal weiterkämpften. Paco Roca berichtet mit großem erzählerischen und künstlerischen Talent von der Odysee fern ihrer Heimat.

Die Handlung der Geschichte beginnt hier: Alicante, 1939. Am Ende des Spanischen Bürgerkrieges sind tausende von Menschen, ideologisch auf der Seite der Republikaner, im Hafen von Alicante eingeschlossen und hoffen auf Hilfe von Außen. Hier begegnen wir erstmals Miguel Ruiz, anhand dessen Erinnerungen die Geschichte von La Nueveerzählt wird. La Nueve war eine Kompagnie, die es tatsächlich gab, sie bestand größtenteils aus republikanischen Spaniern im Exil und trug einen wesentlichen Teil zur Befreiung von Paris aus den Händen der Nationalsozialisten bei.

Die Heimatlosen wird auf zwei Zeitebenen erzählt: Die Geschichte beginnt in der Gegenwart, in der Paco Roca, der Autor, den gealterten Miguel Ruiz in seinem französischen Exil aufsucht, um ihn zu seiner Vergangenheit zu befragen. Ruiz lebt alleine in einer französischen Kleinstadt und fristet dort ein zurückgezogenes Leben. Griesgrämig, launisch, einzelgängerisch. Sein Nachbar Albert ist seine einzige Bezugsperson, aber auch mit ihm hat er keine innige Beziehung. Anfangs möchte Ruiz nicht aus seiner Vergangenheit erzählen, nach und nach merkt er aber, wie wichtig es ist, sich daran zu erinnern und seinen Zuhörern Paco und Albert von der Vergangenheit zu berichten.
Ruiz berichtet von der Flucht aus Spanien und damit auch von der Flucht vor einem Krieg, der Flucht von Francos faschistischer Diktatur. Das spanische Exil war kein leichtes: Die turbulente Ausreise an Bord der Stanbrook, die Ankunft in Oran und eine anschließende Verfrachtung in ein unwirtliches Arbeitslager in der Sahara kosteten vielen Republikanern ihre Zuversicht. Dennoch hatte Miguel immer ein Ziel vor den Augen: Den Faschismus in Spanien zu bekämpfen, koste es, was es wolle.

So kommt es, dass sich Miguel und seine Kameraden nach einigen anderen Stationen schließlich der Kompagnie La Nueve unter General Leclerc anschließen und zur Befreiung von Paris beitragen. Ein Kampf, der eigentlich nicht der ihrige ist. Ihr Ziel, Spanien vom Faschismus zu erlösen, verwandelt sich erst Jahrzehnte später in Realität. Ihnen bleibt das Exil, fern von ihrer Heimat, die sie vergessen hat.

Die Heimatlosen beeindruckt und besticht vor allem wegen seiner Vielschichtigkeit. Die Geschichte mit ihren sorgsam recherchierten Fakten und unzähligen historischen Details wäre schon spannend genug, die narrative Struktur, die Roca wählt, macht das ganze aber besonders faszinierend und ermöglicht eine Vielzahl von Lesemöglichkeiten. Die detailreichen Zeichnungen demonstrieren das profunde Interesse und die ausgiebige Recherche Rocas, die er im Nachwort näher erläutert. Nicht zuletzt reflektiert das Buch auch über den kreativen Schaffensprozess und streift metaliterarische Überlegungen über den Autor und seine Beziehung zu realen Vorbildern und literarischen Gestalten. Ganz kurz gesagt: Ein Meisterwerk an narrativem Können, künstlerischem Talent und das Resultat einer sehr feinen Beobachtungsgabe.

Auch die Wichtigkeit in der politischen Aktualität ist bedeutsam: Am Anfang der Geschichte möchte Miguel nicht weiter über seine Vergangenheit sprechen und meint: „Das sind doch alte Geschichten. Wen interessieren die noch?“
Woraufhin Paco antwortet: „Ich finde, sie sollten jeden interessieren. Das faschistische Gedankengut darf nicht nochmal um sich greifen, finden Sie nicht auch?“

Indem Roca eine historische Geschichte in eine fesselnde und gleichzeitig äußerst informative Graphic Novel verpackt, trägt er genau dazu bei.

Paco Roca (Valencia, 1969) ist einer der bekanntesten Comicautoren Spaniens. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen erlangte er internationale Bekanntheit durch sein Werk Den Kopf in den Wolken (Originaltitel: Arrugas, Astiberri, 2007). Dieses Werk wurde auch verfilmt.

Teresa Mossbauer

Paco Roca: Die Heimatlosen Graphic Novel. Aus dem Spanischen von André Höchemer.
Reprodukt, Berlin, 2015. 328 Seiten, € 39,00 (D).

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Nachrichten aus der Normopathie

Donnerstag, 3. Dezember 2015

„Der Titel ‚Nachrichten aus der Normopathie‘ bezieht sich auf einen Essay Lutz Holzingers, der im Sommer 2007 im Augustin erschien.

Die bestehenden sozialen Instanzen (Familie, Freundeskreis, Firmenleitung, Arbeit- und Sozialamt, Hausverwaltung, Exekutive, Verein, Partei usw.), mit denen man fortwährend zu tun hat und mit denen die Welt gepflastert zu sein scheint, fühlen sich berufen, Menschen ständig zu wiegen und häufig für zu leicht zu befinden.

Mit der Unterstellung, jemand agiere pathologisch oder lege abweichendes Verhalten an den Tag oder sei schlicht nicht normal, wird geradezu herumgeworfen. Dieses Netz wird vom eingespielten Kontroll- und Herrschaftssystem so geschickt ausgeworfen, dass die Anpassung der meisten ZeitgenossInnen an die bestehenden Normen mehr oder weniger unbewusst vor sich geht bzw. hinter ihrem Rücken abläuft, obwohl diese Domestizierung erzwungen wird. …

Im Wiener Volksmund wird eine milde Abart dieses Menschentypus als Zwangler bezeichnet: ZeitgenossInnen, die in Fragen der Moral, Sauberkeit, Konformität usw. ein Übermaß an Anpassung an den Tag legen und so etwas wie vorauseilenden Gehorsam walten lassen. Diese Haltung ist meist mit übergroßer Vorsicht verknüpft und läuft im praktischen Lebensvollzug darauf hinaus, nur zu tun, was ausdrücklich erlaubt ist.

Es liegt auf der Hand, dass derartige zwanghaft agierende Personen als Untertanen der Obrigkeit gerade recht sind. Um frei entscheidende Individuen, die ihr Tun und Lassen nach ihrer eigenen Überzeugung steuern und die als grundlegend für das Funktionieren entwickelter Demokratien und lebendiger Bürgergesellschaft betrachtet werden, handelt es sich nicht. Das krankhafte Streben nach Normalität ist nicht auf Menschen beschränkt, die über jeden Verdacht erhaben sind.

Lutz Holzinger: Nachrichten aus der Normopathie, Essays zum Zeitgeschehen, 189 Seiten, 18 Euro, Bestellungen an tarantel-wien@gmx.at