Literaturgefluester

2009-10-05

Fütter mich

Filed under: Uncategorized — jancak @ 01:25

Auf dem Titelbild des hundertsechzehn Seiten dicken Erzählbandes von Cornelia Travniceks „Fütter mich“ sind kitschig große rosa grüne weiße und orange Schaumgummi oder Marzipanpastillen abgebildet. Elf Kurzgeschichten sind darin enthalten, die nicht nur, aber oft vom Essen handeln. Die Autorin ist eine sehr junge Frau, Eßstörungen und die dazu passenden Störungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern ect. ein immer größer werdendes Thema unser streßgeplagten krisengeschüttelten angstbesetzten Zeit, das uns alle, vor allem aber die jungen Frauen betrifft und so packt Cornelia Travnicek diese Themen auch gekonnt in ihre Geschichten ein.
Nicht in allen, aber in sehr vielen. Es gibt auch Geschichten, die mit wenig Essen auskommen. Die packenden Themen von Liebe, Sehnsucht, Einsamkeit und unerfüllter Liebe sind aber in allen enthalten.
Aus wechselnden Perspektiven werden intensive Szenen geschildert, die angestammte Grenzen überschreiten, steht in der Buchbeschreibung und die kurzen Geschichten, die so viele Themen aufgreifen, tun das manchmal auch.
Bizarr, geheimnisvoll, dann wieder realistisch. Erstaunlich, die Themenvielfalt und die verschiedenen Stilrichtungen.
Die Sprache ist sehr schön und kunstvoll, manchmal auch ein wenig distanziert.
Da gibt es die Geschichte von der jungen Frau, die mit der Pflege ihres Vaters und der Obsorge des autistischen Bruders, der wie eine Elster die bunten Plastikgegenstände in sich hineinstopft, überfordert ist und von der Schule alleingelassen wird, die die Psychologin natürlich sehr berührt.
Dann die Titelgeschichte „Alere – fütter mich“ von der Frau, die mit 178 Kilo gestorben ist, als sie ungeschickt das Bad besteigen wollte, weil sie ihr Liebster zu Tode gemästet hat, um die Internetzuschauerzahl zu steigern, da er die Liebesspiele ins Netz stellte und sich von den Kommentaren anfeuern ließ.
Sehr modern und zeitgemäß in einem anderen oder ähnlich brutalen Sinn, auch die, in der es zwar um mangelnde Liebe, aber weniger ums Essen geht, nämlich der von dem Musterknaben, der als Kind nicht fernsehen durfte, dafür mit dreizehn sowohl „Mein Kampf“, als auch „Das Kapital“ gelesen hat, Wittgenstein interessant, Nietzsche dämlich fand und dann mit der Waffe aus dem Schrank des Vaters, ein Blutbad in der Schule anrichtet.
Erschreckend brutal, leider kennen wir solches aus unseren realen Fernsehbildern und können es immer wieder vor Schulschluß oder zu Weihnachten erleben.
Zwei „leichtere“ Geschichten zu Drüberstreuen über Eßstörungen, dem sich Abwiegen und zu Tode hungern, folgen. Auch das kennen wir aus den Medien, den Psychotherapieberichten oder der eigenen Familie und dann die skurillste Geschichte, die von dem alten Mann, dessen Nase im Wirtshaus nach zwei Tee mit Rum und dreimal Bier rinnt, der daraufhin mit einem Jüngeren in dessen Wohnung geht, sich bekochen läßt, um anschließend freiwillig die Tiefkühltruhe zu besteigen, um dort die eingefrorene Geliebte glücklich zu küssen und zufrieden stirbt, fast ein bißchen lächerlich und dann, wie ich von Cornelia Travniceks Blog weiß, die sie berührendste Geschichte vom Tod der Urgroßmutter, die im Stil wieder ganz anders ist, in dem sich das kleine Mädchen, die unbegreifliche Vergangenheit begreiflich zu machen versucht.
Ein geballtes Potential an Katastrophen, sprachlicher Schönheit und menschlichen Abgründen von einer hoffentlich nicht selbst so überforderten jungen Frau in hundertsechzehn Seiten eingepackt, die den Leser, die Leserin sprachlos, ratlos machen müßten, wären wir ein solches Überangebot an unbegreiflichen Grausamkeiten nicht so gewohnt, daß wir uns distanzieren und abschalten können, weil wir uns sonst wahrscheinlich übergeben oder die kitschig geilen Schaumrollen in uns hineinstopfen müßten, umgeben von dem Elend dieser schillernd schaurig schönen Welt.

3 Kommentare »

  1. Ihrem letzten Absatz entnehme ich, dass die Lektüre Sie doch sehr bewegt hat. Ein schöneres Kompliment kann man einer Autorin meiner Meinung nach nicht machen.. Die meisten der bunten Teile sind übrigens Lakritze, wie sie gerne im Norden gegessen wird: Außen süß und bunt, innen bitter und dunkel.

    Kommentar von Cornelia Travnicek — 2009-10-06 @ 09:25 | Antworten

  2. Lakritze genau, dieses Wort ist mir nicht eingefallen, obwohl ich auch schon in solchen Geschäften war, wo die kitschig herben Magenkleber in Mengen angeboten werden, wie gut die Hilfestellung der Autorin zur Wortschatzsteigerung zur Seite zu haben und berührt hat es mich natürlich.
    Habe ich ja, wenn ich mich nicht mit Literatur beschäftige, in meiner Praxis genau mit diesen Alltagskatastrophen zu tun

    Kommentar von Eva Jancak — 2009-10-06 @ 10:55 | Antworten

  3. […] gibt es einen Lesebericht/Rezension zu „Fütter mich“, wer auch das lesen will, hier bitte. Und auch von ihr ein paar Schöne Sätze: „Ein geballtes Potential an Katastrophen, […]

    Pingback von Fm4 Wortlaut und Rezensionen. « FrauTravnicek in Wien — 2009-10-06 @ 21:20 | Antworten


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