Literaturgefluester

2009-11-22

Atemschaukel

Filed under: Uncategorized — jancak @ 22:43

Nachdem ich heute mit dem Durchkorrigieren von „Heimsuchung oder halb eins“ fertig war, jetzt hat es 49.086 Worte und 84 Seiten mit 38 Szenen, also gar nicht so wenig, habe ich mich nach dem Ex Libris und dem Ausdrucken von Jacky Vellguths Nanowrimo-Wochenbericht mit Herta Müllers „Atemschaukel“ in die Badewanne begeben.
Das Buch hat ja eine eigene Geschichte. Nämlich zuerst die Nominierung auf die deutschen Buchpreislisten. Ich habe Herta Müller für die Favoritin gehalten, dann ist der Nobelpreis dazwischen gekommen, vorher gab es schon Rezensionen und Besprechungen im Ex Libris, so daß ich immer ein bißchen darüber wußte. Danach gab es die Behauptung, die ich auf deutschen Blogs mehrmals las, kein Mensch würde Herta Müller kennen. Was mich verwunderte, da mir der Name sehr lang und sehr genau bekannt war und ich bin gar keine Expertin der deutschen Literatur.
Ich habe mir das Buch zum Geburtstag gewünscht, kam wegen dem Nanowrimo nicht zum Lesen, aber Herta Müller hätte ja bei der Literatur im Herbst auftreten sollen, Ilija Trojanow hat ein Stück daraus vogestellt und zwar die Stelle, bei der ich damals zufällig gerade war und dann kommt das Buch auch in meiner Nanowrimo-Geschichte vor, gibt es da ja drei namenlose Szenen und ein bißchen Blog Bezug.
Also hat es mit dem Lesen meines ersten Novemberbuchs gut gepasst und das ist auch sehr beeindruckend.
Die Geschichte der zur sowetischen Zwangsarbeit bzw. Wiederaufbau deportierten Rumänen. Herta Müllers Mutter war fünf Jahre in einem solchen Lager. Oskar Pastior wurde mit siebzehn hindeportiert.
2001 begann sich Herta Müller mit dem Thema zu beschäftigen und traf sich regelmäßig mit Pastior zu Gesprächen. Sie wollten das Buch gemeinsam schreiben und haben 2004 die ehemaligen Zwangsarbeitslager in der Ukraine bereist. 2006 ist Oskar Pastior überraschend während der Frankfurter Buchmesse gestorben. Herta Müller hat das Buch dann allein geschrieben.
Der Ich-Erzähler ist ein siebzehnjähriger junger Mann namens Leopold Auberg. Es besteht aus vierundsechzig Abschnitten mit sehr poetischen Überschriften und läßt sich grob in drei Teile, dem Vor- und Nachher und dem eher breiten Lagerteil einteilen und lebt von der starken Sprache. Ich habe ein paar Buchmessen Interviews gehört, wo Herta Müller darüber genauer Auskunft gab.
So kommen die Methaphern der „Atemschaukel“ vor, die „Herzschaufel“ und der „Hungerengel“, der immer wieder als zentrale Figur eine eigene Gestalt, einen eigenen Charakter und eigene Stimme bekommt.
Es zentrieren sich bestimmte Personen um die Ich-Figur, die eigentlich ziemlich geschlechtsneutral erscheint. Der Kapo Tur Prikulitsch, der Leopold Auberg seinen Seidenschal stiehlt ohne dafür, wie ausgemacht mit Salz und Zucker zu bezahlen, seine Helferin Bea Zakel, über die er die Passierscheine bezieht, der Advokat Paul Gast, der seiner sterbenden Frau Heidrun das Essen stiehlt und nach ihrem Tod ihren Mantel mit dem abgewetzten Bubikragen der Sängerin Ilona Mich übergibt, damit sie ihn unter ihre Decke läßt und berührend, die schwachsinnige Planton-Kathi, die alle beschützen und bewahren, so sehr man sich auch sonst die Brotration stiehlt.
Eine große Rolle spielen die poetischen Beschreibungen des Hungers und die Phantasien, die sich die Zwangsarbeiter, die erst im dritten Jahr Geld für ihre Arbeit bekommen, über das Essen machen.
So gibt es drei Sorten Brot im Lager, das die Kaderfrau Fenja unter einem hygienisch weißen Tuch bewahrt, das alltäglich siebenbürgische, dann das Vollkornbrot von Hitlers goldenen Ähren und zuletzt das russische, es gibt auch drei verschiedenene Ratioenen, für Leicht-, Normal- und Schwerarbeiter, man ernährte sich von Kapustasuppe in der kein Kraut zu finden ist und hatte zu entscheiden, ob man seine Brotration gleich zum Frühstück aß oder sie standhaft über den ganzen Tag verteilte, es gab den Brotraub und das Brotgericht. Vor allem aber die wunderschönen Beschreibungen, was man in Friedenszeiten alles so gegessen hat: Ischler, Mohrenköpfe, Savarins, Cremeschnitten, Erdbeereis im Silberbecher, Schokoladeeis im Porzellanschälchen etc. und dann noch das Kartoffelmenü in drei Gängen, wobei man die Kartoffelschalen beliebig, als Vorspeise, Hauptgericht und Dessert verteilen konnte und das ganze Elend von fünf Jahren Zwangsarbeit, von Hunger, Kälte und Erfrieren wird in einer wunderschönen poetischen Sprache geschildert, wo der Hungerengel die stärksten Schatten wirft, die Großmutter an den Ich-Erzähler glaubt, der all das vielleicht nur überlebte, weil er immer ihre Worte „Du kommst zurück!“ hört.
Realistischer als der Lagerteil wird das Vor- und das Nachher erzählt, wo auch wahrscheinlich die Lebensgeschichte Oskar Pastiors enthalten ist, die Herta Müller, wie sie in ihrem Nachwort beschreibt, in vier Heften handschriftlicher Notizen gesammelt hat.

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