Literaturgefluester

2010-09-14

Kurz nach 4

Filed under: Uncategorized — jancak @ 10:32

In dem 1955 spielenden, Roda Rodas Tochter Dana gewidmeten Roman von Ulrich Becher spielt Zeit eine große Rolle. Da fährt nämlich der vierzigjährige Akademieprofessor Franz Zborowsky mit seinem Fiat und einer Pistole von Wien nach Rom und übernachtet das erste Mal in Piacenza.
Es ist die Zeit des beginnendes Italientourismus nach dem totalen Krieg. So rollen die Reisebusse über die Straßen und auf diesen ist es sehr laut, obwohl der Hotelportier eine ruhige und friedliche Nacht verspricht.
So liegt Zborowsky bis kurz nach vier wach in seiner Hotelpritsche und denkt an das, was ihm passierte und das ist sehr viel. Er ist der Sohn eines Wiener Psychiaters und besuchte mit dem Sohn eines nach der Oktoberrevolution nach Wien geratenen Russen, Kostja Kuropatkin das Schottengymnasium. Die beiden gelten als Zwillinge und verliebten sich in dieselbe Frau, nämlich Lolita Aguirre Tochter des Generalkonsuls der jungen spanischen Republik, die klassisches Ballet studierte.
Zborowsky hatte mehr Glück und verlobte sich mit ihr, so daß Kostja ihn verleumdete und bei der nachfolgenden Naziherrschaft mitmischt.
Zborowsky mischt dagegen beim spanischen Bürgerkrieg mit, bekommt vom Hauptsturmführer Mehlgruber die Nase eingeschlagen und kommt nach Mauthausen, wo er zu den Partisanen flüchtet. Lolita wurde mit ihrem Bruder 1937 wie der Dichter Garcia Lorca erschossen und Kuropatkin, der nach dem Krieg einige Jahre im Gefängnis war, wartet in Rom auf den Akademieprofessor.
Der kommt am nächsten Tag aber nur bis Parma, trifft dort seine Jugendliebe, die Schauspielerin Alma Hasenreither mit der er Alkohol in verschiedenen Formen durcheinandertrinkt. Einen „Evviva il duce!“, schreienden Papagei gibt es auch. Er will aber an Kuro ein Telegramm aufgeben, bis zwölf hat das Telegrafenamt offen, das er auch erreicht um ohne Unterschrift den Satz „Es führt kein Weg nach Rom“ zu schreiben. Vorher hatte er noch die Vision, wie er mit seinem Fiat die Viale Bruno Buozzi erreicht und den Jugendfreund mit seiner Luger erschießt.
Das 1957 bei Rowohlt erschienene Buch des 1910 in Berlin geborenen und 1990 in Basel gestorbenen Ulrich Becher, wurde in den Neunzigerjahren von der Städtischen Bücherei Stumpergasse ausgeschieden. Von 1976 bis 1990 haben es vier Leute gelesen. Einer hat bei dem Satz „Aus Verdruß über das Mißlingen vom Februar-Aufstand der Wiener Sozis, aus Ärger über das Dollfuß-Schuschnigg-Regime ist er Nationalsozialist geworden…“, wie so viele andere echte Sozialisten dazugeschrieben. Ich hab es in einer Gratisexemplarkiste der Bücherei Gumpendorferstraße gefunden und den Namen Ulrich Becher nicht gekannt.
2005 habe ich in Leipzig aus einer Hugendubel Abverkaufskiste die Autoren-und Verlegerbriefe 1950 – 1959 des Aufbau Verlags gezogen. Da gibts ein paar Briefe von Ulrich Becher aus dem Jahr 1957, die sich auch auf „Kurz nach 4“ beziehen.
Ulrich Becher ist der Sohn eines Rechtsanwaltes und einer Pianistin. Er wurde mit seinem 1932 erschienenen Novellenband „Männer machen Fehler“ auf die Liste der entarteten Literatur für die Bücherverbrennung gesetzt. Heiratete 1933 Dana Roda, die Tochter von Alexander Roda Roda und wurde Österreicher.
1941 gelang dem Ehepaar die Flucht über Portugal nach Brasilien. 1944 übersiedelten sie nach New York zu den Schwiegereltern. 1948 kehrte Ulrich Becher mit dem berühmt gewordenen Theaterstück „Der Bockerer“ nach Europa zurück und ließ sich in Basel nieder.
Bei dem Bücherkistenfund befand sich auch „Nachtigall will zum Vater fliegen – Ein Zyklus Newyorker Novellen in vier Nächten“, das ich zu lesen angefangen, aber nicht beendet habe, weil ich damals so gar nichts mit dem Autor anfangen konnte.
Dabei habe ich mit meiner Mutter und Frau Fiala den „Bockerer“ noch bevor er durch die Antel Verfilmung so berühmt wurde, im Volkstheater gesehen und der 1969 erschienene autobiografische Roman „Murmeljagd“ wurde inzwischen neu aufgelegt, stand bei Anna Jeller einige Zeit im Schaufenster und auf der Orf-Bestenliste war das Buch, glaube ich, auch.

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