„Geschichte ist nicht nur das, was sich schon ereignet hat, Geschichte heißt, das kommt erst!“, schreibt Thomas Stangl in seinem dritten Roman „Was kommt“, mit dem er 2007 einen der Bachmannpreise bekommen, 2009 auf die Shortlist zum deutschen Buchpreis kam und vor kurzem den ersten Alpha Literaturpreis gewonnen hat.
Das Buch, das in den Rezensionen mit Andrea Winkler und sogar mit Thomas Bernhard verglichen wird, liest sich anfangs etwas schwer und zwingt zur Konzentration, denn Thomas Stangl hebt von den, wie im Klappentext steht, „zahllosen Lebenden und Toten, die Wien bevölkern“, Emilia Degen, die schon in einem seiner früheren Romane vorkommt, 1937, siebzehnjährig bei ihrer Großmutter lebt und den Jugendlichen Andreas, der in den Siebzigerjahren ebenfalls bei seiner Großmutter lebt, hervor und springt mit diesen Protagonisten mit großen historischen Kenntnissen und einer sehr genauen Beschreibung, nach vor und zurück, erzählt, was damals passierte und was wir vielleicht schon öfter gelesen haben.
Das erste Kapitel beginnt mit einer Beschreibung des Films „The Wedding March“ von Erich von Strohheim, der im Sommer im Kino unter Sternen gezeigt wurde, der in Nußdorf in einer Heurigenstube spielt und Nußdorf kommt in dem Roman mehrmals vor. Dort gehen die Protagonisten spazieren, dazu die Zirkusgasse, ein beliebter Ort für Romane, Manfred Rumpl z.B. Im „Literarischen Leben der Dora Faust“, spielt sie auch eine Rolle.
Bei Thomas Stangl dürfte Emilia Degen mit ihrer Großmutter und dem Dienstmädchen, das froh ist, bei keinem Juden zu arbeiten, im zweiten Bezirk wohnen, sie geht zur Schule um die Mautra zu machen, hört die Rufe der Händler vom Markt „wienerische, polnische und jiddische fließen dabei zusamme“, grüßt den dünnen alten Schneider mit den melancholischen Lächeln und den Tränensäcken“ und lernt Georg kennen, dessen Eltern in der Zirkusgasse eine Buchhandlung betreiben, auf deren Rolläden, wenn die Geschichte gekommen ist, in großen Lettern „ist in Dachau“, mit einem Judenstern gemalt sein, wird.
Emilia wird Georg nie mehr wieder sehen und lange darüber grübeln, ob er entkommen ist und warum er sich nicht von ihr verabschiedet hat. Vorher wird sie eine Sommerfrische im Salzkammergut, in der Villa ihres Vaters, der im Ausland lebt, von dort eine zweite Frau mitgebracht hat und die Großmutter nicht besucht, verbringen. Auch hier wird Emilia mit dem Dienstmädchen kommunizieren, das im Dirndlkleid, mager, grau im Gesicht „Grieaßgoud, gnädiges Fräulein!“, sagt und darüber grübeln, was sich das Bauernmädchen denkt, daß sie um zehn Uhr Vormittags noch „Guten Morgen!“ antwortet.
Später wird Emilia nicht studieren, sondern den Krieg in einem Fabriksbüro Schriftstücke ordnend verbringen, aber von den Nachbarn für das Kummerl und die spinnernde Frau Doktor gehalten zu werden. Mit vierzig wird sie ihre Tochter Dora auf die Welt bringen und noch später ins Wasser gehen, um das Buch Thomas Bernhard ähnlich, ohne, daß dessen Stil in Stangls Sprache zu bemerken ist, mit dem Satz „Oder brauchst du das Leben nicht, nur diesen einen Punkt, an dem du Nein sagst, zu allem, was noch kommt; und nein; und Nein-„, zu beenden.
Dazwischen gibt es den fünfzehnjährigen Andreas, der in der Schule den Kontakt nicht findet und von der Großmutter mit Rindfleisch und Schweinefleisch bekocht wird, vor dessen Fettfasern ihm graust. Die Großmutter, habe ich in einer Rezension gelesen, ist Antisemitin, ich habe nur die Aussage von der großen Nase Bruno Kreiskys, der in den Siebzigerjahren österreichischer Bundeskanzler war, gefunden. Andreas, sagt seinen Freunden und dem Mädchen, das er begehrt, diesen Satz nach und wird von ihnen ausgeschlossen. Irgendwann kommt er nach Hause, findet den Krankenwagen vor der Türe, weiß sofort, daß die Großmutter gestorben ist und das dürfte ihn schon als Fünjähriger, als er im Kinderpyjama vom Babysitter betreut, im Bett lag, bei seinen Eltern passiert sein.
Andreas interessiert sich für Bücher und malt während der Schulstunde einen RAF-Stern, ein Hakenkreuz und Hammer und Sichel ins Physikheft, alles mit dem man die Lehrer und die Erwachsenen schokieren kann. Später wird er delogiert, es zieht ihn ebenfalls an die Donau oder den Kanal mit den Rettungszillen, er kommt aus dieser, wenn ich es richtig verstanden habe, aber wieder hinaus und tarnt die nassen Kleider mit einem Hut, während Emilia, der er dabei begegnet, den umgekehrten Weg wählt.
Andere Verbindungen zwischen den beiden habe ich nicht entdeckt und mich, wie geschrieben, mit den oftmaligen Orts- und Zeitwechseln schwer getan, weil ich eine bin, die alles sehr konkret haben will, um sicher zu sein und sich auszukennen. Das scheint Thomas Stangl mit seinen „überwältigenden, auch schockierenden Bildern“, ich zitiere wieder den Klappentext, nicht gewollt zu haben, „da er die Räume des Übergangs, der Unschärfe, der Ahnungen, des deja-vus sucht und die Grenzen zwischen Innen und Außen auflöst.
Heraus ist ein hochgelobtes Buch, das die Geschichte mit einer wunderschönen Sprache erzählt, die Verwinklerung der Sprache, von der ich immer schwärme, gekommen. Es wird auch genau recherchiert, so gibt es ein Kapitel mit Zeitungsausschnitten eines Tags im Frühling 1937 und noch andere, aus dem Siebzigerjahren, die den Kampf gegen die Atomkraftwerke, die Schwierigkeiten eines traumatisierten Jugendlichen, für den Ö3 sehr wichtig ist, während die Rindfleisch kochende Großmutter in der Küche Radio Burgenland und „Autofahrer unterwegs“ hört, andeuten.
Die Kritiker sind, wie erwähnt, begeistert. Wieviele der bei der Alpha Preisverleihung ausgeteilten Bücher, gelesen werden, würde ich gern wissen. Ich bin eine davon und lege den Roman ein wenig ratlos weg. Denn die schöne Sprache und die genauen Detailkenntnisse beeindrucken natürlich, andererseits bin ich eine realistische Schreiberin, die alles gern von hinten nach vorn und verständlich erzählt bekommen will, auch wenn man damit keine Preise gewinnt. Die Titelfrage wird auch nicht sehr beantwortet, ich denke aber, es bleibt schon, wie es ist.
2010-11-14
Was kommt
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