Literaturgefluester

2010-12-23

Chuzpe

Filed under: Uncategorized — jancak @ 02:51

Andreas Pittler dreht mit seiner Bronstein-Saga das Rad der Geschichte zurück. Handelt doch Teil 1 „Tacheles“ im Sommer 1934, „Ezzes“ im Juli 1927, beim dritten Band „Chuzpe“ ist er im November 1918 angelangt und die Monarchie zerfällt.
Die jüdische Herkunft des Polizeimayors David Bronstein wird in den ersten zwei Teilen wohl eine größere Rolle spielen, hier kommt der Antisemitismus nur an einer einzigen Stelle vor, dort wo Mayor Bronstein in das Bezirkskommissariat in die Franzensgasse geht und vom dortigen Revierinspektor als „Itzig“ bezeichnet wird, worauf er sich als Protestant vorstellt.
Der Roman spielt zwischen dem 7. und dem 13. November 1918 und beginnt mit einem Alptraum. Mayor Bronstein liegt in seiner kalten Dornbacher Wohnung, erlebt aber immer noch die Giftgasattacke vor Tarnow Gorlice, der er mit Mühe entkam, wacht schweißbegadet auf und befindet sich in einer Welt, wo er nicht weiß, ob er jetzt kaiserlicher oder republikanischer Polizeibeamter ist.
Alles ist im Umbruch, es ist ein kalter Winter, es gibt nichts zu essen und zu heizen, die spanische Grippe hat Wien erfaßt und David Bronstein rennt durch die Wiener Straßen, da der Strom abgeschaltet ist und die Straßenbahn nicht fährt.
Der Weg von seiner Dornbacherwohnung, die günstig zum Holzsammeln ist, bis zum Polizeikommissariat ist weit, dazwischen läuft er noch zu seinen Eltern, da es ja noch nicht viele Telefone gibt und der Vater die spanische Grippe hat. Zwei Fälle hat er auch aufzuklären. Ist doch einerseits sein ehemaliger Kompaniechef, der der das Kommando von Tarnow Gorlice hatte, verschwunden, andererseits wurde in der Redergasse die Leiche einer erwürgten Zwanzigjährigen gefunden.
Mayor Bronstein tut was er kann, befragt den Tapezierermeister, geht in die Wohnung der Ermordeten und forscht deren Liebhaber aus. Dazwischen trifft er im Cafe Herrenhof auf Egon Kisch, Franz Werfel, der später vor der Universität steht und „Nieder mit der Monarchie!“, schreit und die wunderschöne rothaarige Revolutionärin Jelka, die ihn „Kieberer“ nennt und ihn in ihrem Bett schlafen läßt.
Man lebt nur von Erdäpfelschmarrn und Schnaps und nur im Parlamentsrestaurant gibt es gefüllte Truthahnbrust, Hirschragout und Prager Schinken, aber das kann sich ein gewöhnlicher Polizeimayor nicht leisten.
Zeit gibts dagegen genug und so verfolgen wir den Tagesablauf von Mayor Bronstein sehr genau, erleben ihn, wie er von der Wohnung seiner Eltern, zum Vater der ermordeten Modistin geht, dazwischen im Kaffehaus sitzt, am Abend mit Jelka säuft und tagelang nicht in seine Wohnung kommt. Als er ziufälligerweise am Sonntag doch dort ist, wird er von seinen ehemaligen Regimentskameraden in den Wald gebracht, die den ehemaligen Kompaniechef entführt haben und hinrichten wollen. Mayor Bronstein begnadigt ihn aber, nicht ohne ihm vorher eine hinunterzuhauen, genauso wie er zwei ums schlechte Brot streitende Frauen zu einem besseren verhilft und sich am Schleichweg für den kranken Vater von seinem Untergebenen Pokorny ein Hendl organisieren läßt.
Am elften November dankt Kaiser Karl ab, die Monarchie zerfällt, Bronstein hat Dienst im Parlament, wo er Zugang zu den Luxusgerichten hat, aber auch beobachtet, wie die Revolutionäre mit den roten Fahnen anrücken, die neue Regierung sich verschanzt, herausschießen läßt und die vielen Leichen, die der Republiksbeginn forderte, verleugnen läßt. Einen großen Teil der Zeit verbringt Mayor Bronstein auch mit Zeitungslesen. So werden wir in das Jahr 1918 eingeführt und erfahren was dort verknüpft mit einem Kriminalfall wirklich passierte.
Andreas Pittler wurde 1964 in Wien geboren, wo er Geschichte und Politikwissenschaften studierte und sich dem Journalismus zuwandte. Seit 1985 veröffentlichte er dreiundzwanzig Sachbücher meist historischen Inhalts und der Roman führt einen auch sehr lebendig in die vergangene Zeit. Es gibt ein Glossar zur Erklärung der Dialektausdrücke. Die Sprache ist deftig, der Alltag in dem hungernden Wien wirkt lebendig erzählt. Ein paar Details scheinen nicht zu stimmen, so ist die ermordete Modistin römisch-katholischer Konfession heißt aber Hannah Feigl, obwohl man sie ohnehin nur Hannerl oder Hanni nennt.
Das dann von der Frau Feigl gesprochen wird, solte man in einer zweiten Auflage vielleicht in das damals sicher übliche Fräulein verändern, ansonst ist die Idee sicher interessant Geschichte in einen Krimi zu verpacken, da liest sie sich viel spannender.
Interessant war für mich auch, das das Ganze in Gegenden spielt, die ich gut kenne, daher Mayor Bronsteins Wege durch Wien gut nachvollziehen konnte. So erschien mir das Jahr 1918 sehr lebendig, allerdings weiß ich natürlich nicht, ob es die beschriebenen Lokale damals schon gegeben hat und ob jemand aus Hamburg beispielsweise, die Dialektpassagen versteht, ist mir ebenfalls nicht klar. Die Hausmeister werfen aber mit tschechischen Schimpfwörtern um sich und so wirds damals schon gewesen sein.

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