Jetzt kommt noch ein Buch, das 2010 den großen Preis für Literatur aus dem Osten und dem Südosten Europas gewonnen hat, nämlich Boris Chersonskijs „Familienarchiv“ Roman in Versen aus dem Russischen von Erich Klein und Susanne Macht übersetzt, erschienen bei Wieser, in der Edition Zwei und mit dieser Form hat er einen Sonderpreis gewonnen, bieten diese Prosagedichte ja eine höchst interessante literarische Zwischenform. Boris Chersonskij entnehme ich dem Internet, die Wieser Bücher dieser Edition haben ja keine Biografien und keinen Klappentext, wurde 1950 in Czernowitz geboren, lebt und arbeitet in Odessa, daß er das als Arzt beziehungsweise als Psychiater tut, ist dem Text zu entnehmen, gibt es da ja eine Stelle:
„Mag sein, dass das hier nicht passt,
aber mich erinnert es daran, was ein
Schizophrenie-Kranker einmal sagte.
„Mein Sohn kam um,
er fiel vom Baume der Erkenntnis
und spießte sich auf – an der Absperrung
zwischen Menschen.“
Es gibt in dem Buch aber dankenswerter Weise ein Nachwort von Arkadij Schtipel, dem man entnehmen kann, „daß das „Familienarchiv“ das zwanzigste Jahrhundert von Anfang bis zu seinem Ende umspannt. Das erzählerische Grundmuster stellen übersichtartige Lebensbeschreibungen von nahen und entfernten Verwandten des Dichters dar, die ihren Ursprung in Fotografien, Briefen, Tagebüchern, mündlicher Überlieferung, offiziellen Dokumenten und diversen, aus der Erinnerung an die Kindheit aufgetauchten Sätzen und Bildern haben.“
So beginnt es in „Kremenez, Juni 1910, „wo zwei Gymnasiastinnen Steine in den Brunnen werfen“ und endet mit einem Gebet. Dazwischen kann man viel erfahren von dem russischen bzw. ukrainischen Jahrhundert, wo die Grenzen und die Staaten mehrmals wechselten und die Psychiater wahrscheinlich immer noch viel über Traumatisierungen lernen.
„Als die sowetischen Truppen kamen, wurden der
Vater und die Söhne noch in derselben Nacht verhaftet.
….
Dem war nicht so! Alle jene, die damals von den Sowets verschon wurden,
brachten die Nazis und die Rumänen um.“
„Den Hintergrund bilden die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – der Erste Weltkrieg, die Revolution, Stalins Terror, der Zweite Weltkrieg, der Holocaust.
„Vier Generationen sind vertreten: Kleinbürger und mittleres Bürgertum, Ärzte, Lehrer, sowjetische Beamte, Geschäftsleute, Kommandanten der Roten Armee und sogar ein orthodoxer Priester“.
So kommentiert Rebbe Izchak Steinmacher auch in dichten Worten immer das Geschehen:
„Besser hundert Feinde,
als der Fluch eines Verwandten.
Vor den Feinden kann man sich verbergen,
doch wohin fliehst du vor dem Fuch“
Allerdings, als die Deutschen kamen,
da stellte sich heraus,
dass auch vor den Feinden keine Rettung ist.“
Immer wieder geht es auch um Jadaika-Auktionen“
Beispielsweise „Los 5. Keter – Tor. Torakrone. Silber. 20. Jahrhundert. Galizien
„du weißt, ob rein ist, was sie zu Mittag essen,
ob sie Hühner, Kälber und Schafe richtig schlachten“
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Und dazwischen erleben wir das Familienleben, die Tragödien, Leiden, Ehebrüche immer wieder in klaren, dichten, starken Bildern,
angedeutet geheimnisvoll
„Morgens, als sie aufwachte und
den Mann nicht neben sich fand,
stand die auf und begann, gekleidet
in ein langes Nachthemd,
weiß fast durchsichtig,
mit fantastischen Spitzen daran,
schweigend, oh, warum -schweigend?
einen Gang um das Haus“
Den Gedichtpassagen, wie beispielsweise „Beltsy, 1940 – Lwow, 1993
folgend dann immer wieder lapidare Sätze, wie
„Er schaute zu, dachte nach – und blieb“
So erzählt uns Boris Chersonskij die ukrainische Geschichte des vorigen Jahrhunders und führt uns mit seinen „charakteristischen lyrischen Timbre“ in seinen poetischen Texten durch sein Familienarchiv.
„Wenn ich die Poetik von Boris Cheronskij mit drei Worten charakterisieren müsste, wären es folgende Begriffe: Kompetenz, Sparsamkeit im Ausdruck, Klarheit des Verstandes. Kein einziges Adjektiv, keine einzige Methapher dient bei ihm zur „Verschönerung“ des Textes“, schreibt Arkadij Schtipel in seinem Vorwort und der Versroman gibt in seiner Verknappung, seinen Andeutungen und Beschreibungen, tasächlich ein dichtes Bild vom Leben einer jüdischen Familie zwischen Holoucost und Stalin. Am Ende hat man zwar nicht sehr viel von den handelnden Personen erfahren und weiß vielleicht auch nicht immer wer jetzt der Großvater, der Vater, die Tante und die Mutter ist und hat trotzdem eine Ahnung, wie es ihnen in dieser Zeit gedangen ist und auch das Gefühl in schönen Bildern gebadet und in schönen Gedichte von einer sehr schrecklichen Zeit gelesen zu haben.
Das Buch ist, wie erwähnt in der Edition Zwei herausgekommen, die diesen Namen gar nicht mehr verdient, da es nur die deutsche Übersetzung enthält, lediglich eine Seite kann man in Originalsprache zur Probe sehen, was mir, die ich nicht Russisch spreche, nichts macht. Ich wundere mich nur, weil ich dachte, daß die Zweisprachigkeit zum Verlagskonzeptgehört und vermute Einsparungsgründe. Allerdings wurden die Besucher der Festveranstaltung im November ja großzügig mit den Büchern beschenkt, was man, wenn man nachgooglet sofort bemerkten kann, denn da sind sie angeboten „Letzte Gelegenheit vor Weihnachten!! Bekam das Buch geschenkt, ist aber nicht mein Geschmack“ Ungelesen noch original-verpackt in Folie!“
Was schade ist, denn der Versroman ist durchaus lesenswert, man lernt sehr viel aus der Geschichte in einer schönen Sprache, so daß ich Boris Chersonskijs „Familienarchiv“ wirklich nur empfehlen kann.
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