Literaturgefluester

2011-04-21

Das stille Haus

Filed under: Uncategorized — jancak @ 12:07

Im “ Stillen Haus“, dem 1983 erschienenen, zweiten Roman des 1952 geborenen Orhan Pamuk, zeigt sich wie Wolfgang Schneider in FAZ-Net schreibt, die frühe Meisterschaft des türkischen Autors.
Das stille Haus steht in Cennethisar am Marmarameer ein paar Kilometer von Istanbul entfernt und wird von der neunzigjährigen Fatma und ihrem kleinwüchsigen Diener Recep bewohnt, die Besuch von ihren Enkeln Faruk, Metin und Nilgün bekommt und dann gibt es noch Rezeps Bruder, den hinkenden Losverkäufer Ismail und seinen Sohn Hasan, der in Mathematik durchgefallen ist und sich statt zu lernen, den Nationalisten angeschlossen hat, um die Wände mit Parolen anzuschmieren und den Geschäftsleuten Geld abzupressen. Der Roman spielt im im Sommer 1980 vor dem Militärputsch und die sechs Protagonisten treten in den abwechselnden Kapitel als Ich-Erzähler auf, was das Lesen Anfangs etwas schwierig macht, denn sie haben alle ihre Phantasien, Träume, Ängste, Schuldgefühle, wie in den alten russischen Romanen, reden aneinander vorbei, scheitern am Leben und die alte Fatma liegt in ihrem Bett und läßt, während sie von Rezep, der der illegitime Sohn ihres Mannes Selahattin ist, ihr Leben und ihre Schuldgefühle an sich vorbeiziehen.
Mit Zwanzig wurde sie als schönes junges Mädchen mit einer Schatulle voller Schmuckstücke, an einen hoffnungsvollen jungen Arzt verheiratet, der wurde aus Istanbul verbannt, ließ sich am Marmarameer nieder, um dort das stille Haus zu bauen und an seinem Lebenswerk, einer Enzyklopädie zu schreiben, von der er Fatma, die sich bald in ihr Zimmer zurückziehen wird, fortan erzählt. Daß es keinen Gott gibt, hat er herausgefunden und was es mit dem Tod auf sich hat, daß das der Unterschied zwischen den Europäern und dem Orient ist. Er beginnt zu trinken, zwei illegitime Kinder hat er mit dem Hausmädchen auch und da es keine Patienten gibt und die Enzyklopädie nichts einbringt, muß er regelmäßig den Juden holen, um ihm Fatmas Schmuck zu verkaufen, bis die Schatulle schließlich leer im Kasten überbleibt. Fatma, die nicht nur nicht zuhörte, sondern auf die Nebenbuhlerin und ihre Kinder auch mit ihrem Stock einschlug, trägt sich mit Vorwürfen schuld am Hinken Ismails und an Rezeps Zwergenhaftigkeit zu sein und hat Angst, daß er das den Enkelkindern, die jedes Jahr auf Besuch im Sommer kommen, erzählen könnte.
Aber die sind ohnehin in ihre eigenen Probleme eingesponnen, so hat der Älteste, der Historiker Faruk, den seine Frau Selma verlassen hat, inzwischen, wie der Vater und der Großvater zu trinken angefangen und besucht jeden Tag ein Archiv, um die Geschichte seines Landes aufzuschreiben, was aber nicht gelingen will. Nilgün ist Kommunistin, liest Turgenjew und studiert Soziologie, während Metin noch auf die amerikanische Schule geht und von einem Studium in Amerika, einer großen Erfindung und Reichtum träumt, dazu braucht er aber Geld und so will er die Großmutter überreden, ihr Haus abzureißen und den Grund zu verkaufen und verbringt die Nächte mit seinen reicheren Freunden trinkend und kiffend am Meer, bzw. mit rasenden Autofahrten, wo sich die Jugendlichen damit amüsieren, die Autos der Gastarbeiter vor sich herzuhetzen. Hasan ist dagegen in Nilgün verliebt, beobachtet sie beim Baden und verrät seinen nationalistischen Freunden, daß sie täglich beim Krämer die kommunistische Zeitung kauft und weil er ihr auch noch einen Kamm gestohlen hat, wird er von ihnen aufgezogen und soll ihr die Zeitung aus der Hand reißen, was schließlich, zuvor stehlen die Nationalisten noch Metins Geld, das er sich durch Nachhilfestunden im Hause seiner Tante in Istanbul verdiente, damit endet, daß er Nilgün niederschlägt, die schließlich, während die Großmutter in ihrem Zimmer immer und immer wieder ihr Leben durchgeht und nach Rezep ruft, an einer Gehirnblutung stirbt und das Buch mit einer Erinnerung der Großmutter, als sie als kleines Mädchen von ihren Freundinnen, die auch besser, reicher und schöner waren, “ Robinson Crusoe“ schenken ließ, endet, die hervorragend zum kommenden Tag des Buches passt. „Wenn die einmalige Lebensreise vorbei ist, kannst du sie nicht von neuem beginnen, aber wenn du ein Buch in der Hand hast, und mag es noch so verworren und unverständlich sein, dann kannst du, wenn du willst, um das Unverständliche und das Leben doch noch zu begreifen, das Buch noch einmal von vorne lesen, nicht wahr, Fatma?“
Das trifft für Orhan Pamuks von 1980-1983 geschriebenen Roman, in dem an einer Stelle auch ein Orhan vorkommt, der an einem Roman schreibt, sicherlich nicht zu, hat er doch 2006 den Nobelpreis bekommen und ist mit seinen Romanen, in denen er zwischen dem modernen europäischen Roman und der mystischen orientalischen Tradition vermitteln will, berühmt geworden.
„Herr Cvedet und seine Söhne“ ist, glaube ich, der zuletzt auf Deutsch Erschienene und wird auf der ORF-Bestenliste vorgeschlagen.
„Istanbul – Erinnerungen an eine Stadt“, habe ich mir von dem Buchgutschein, den ich bei der Szene Margarten gewonnen habe, gekauft, dann kam der Nobelpreis, den Friedenspreis des deutschen Buchhandels in Frankfurt, hat er schon ein Jahr früher bekommen.
Zwei Zitate von ihm gibt es bei Wikipedia auch zu finden, die einiges über den Schriftsteller erzählen können: „Meine Aufgabe besteht nicht darin, den Europäern die Türken, den Türken die Europäer zu erklären, sondern gute Bücher zu schreiben“ und „Wissen Sie, es gibt Leute, die lieben ihr Vaterland, indem sie foltern. Ich liebe mein Land, indem ich meinen Staat kritisiere.“

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