Die 2007 erschienenen „Die Habenichts“, für die die in Frankfurt am Main geborene Katharina Hacker, 2006 den deutschen Buchpreis bekommen hat, ein weiteres Buch des Abverkaufs von Alfreds bibliophiler WU-Kollegin, erzählt ein Stück unserer jüngsten Vergangenheit auf eine erfrischend neue Weise und sollte vielleicht eher die „Orientierungs-“ oder die „Ahnungslosen“ heißen, denn das Paar Jakob und Isabelle, in dem es darin geht, zählt eigentlich zur Erfolgsgeneration der Joung Urban Thirties und spielt in der Zeit nach nine elfefen bis zum Ausbruch des Irakkriegs.
„Jakob und Isabelle haben alles“, steht so auch im Klappentext, sie wohnen und arbeiten in Berlin, sie als Graphikerin, wo sie Kinderbücher illustriert, er ist Anwalt und spezialisiert auf die Ost-Deutsche Restitution, sie haben sich in den Neunzigerjahren kennengelernt und treffen sich auf einer Party am elften September wieder und beschließen zu heiraten. Da ein Kollege Jakobs im World Trade Center umkam, kann er seine Stelle in dem Anwaltbüro von Mister Bentham übernehmen. So ziehen sie nach London und geraten durch Zufall in eine nicht so tolle Wohngegend, ist der eine Nachbar Jim, doch ein ehemaliger Strichjunge und jetziger Kleindealer, der auf der Suche nach seiner verschwundenen Freundin Mae ist, das andere Reihenhaus oder Wohnung wird von einer Familie bewohnt, die offenbar trinkt und die zurückgebliebene bettnäßende Tochter Sara nicht in die Schule schickt und mißhandelt.
Dann kommen noch sehr viele Handlungsebene in diesen modern globalen Stadtroman, der Golfkrieg, wie erwähnt und Katharina Hacker schildert ein London, das sich dafür rüstet und den Einwohnern und auch Isabelle das Einlagern von Kerzen und Batterien empfiehlt.
Jakobs Chef, Mister Bentham, der als Jugendlicher vor den Nazis flüchtete und mit den Kindertransporten nach London kam, ist auch ein recht seltsamer Vogel, geht er doch sehr viel spazieren und manchmal verschwindet er in ein Strichhotel und wird von Jakob im Park in eindeutigen Situationen mit sehr jungen Männern beobachtet, außerdem hat er seinen Freund verloren und wird von seiner Sekretärin liebevoll bevormundet. In Isabelles Berliner Graphikbüro gibt es einen ungarischen Juden namens Andras, der als Kind von seinen Eltern nach Westberlin geschickt wurde und sich nicht entscheiden kann, ob er nach Budapest zurückgehen soll, er trauert auch Isabelle nach, die orientierungslos durch das Irak-Krieg alarmisierte London stolpert und dabei in Jims Arme fällt.
Der hat beobachtet, wie sie Saras Katze aus dem Fenster schmiß, erpreßt sie damit und läßt Dave, Saras Bruder bei sich wohnen und als Mister Bentham Jakob auf einen Flug nach Berlin mitnimmt, läßt er Isabelle zurück, hat sich das Paar in dem kriegsbereiten London doch entfremdet. Ein neuer frischer Ton in dem Katharina Hacker all das erzählt und sie führt auch in soziale Schichten ein, die man in der Buchpreis-Belletristik üblicherweise nicht findet, bzw. läßt sie sie zusammenkommen und aufeinander treffen, was für mich eine Erklärung ist, warum das Buch den deutschen Buchpreis bekommen hat, weil man darin etwas findet, das man vielleicht sonst noch nicht so oft gelesen hat.
Vielleicht nicht ganz so einfach durch seine abwechselnden Handlungsstränge, den verschiedenen Inhalten und Zeitensprüngen, aber faszinierend von einem London 2003 oder 2004 zu erfahren, das man eigentlich inzwischen schon vergessen hat, denn zumindest für mich ist der Irakkrieg inzwischen weit entfernt gewesen, so daß ich mich die Terrorängste, die man dort beim U-Bahn fahren oder auch im alltäglichen Leben erlebte, fast erstaunten.
Katharina Hacker ist 1967 geboren und hat, wie erwähnt, 2006 den deutschen Buchpreis bekommen, da habe ich zum ersten Mal den Namen gehört und der Titel hat mich, kann ich mich erinnern, neugierig gemacht, obwohl ich mir darunter wahrscheinlich etwas ganz anderes vorstellte. Inzwischen sind weitere Romane von ihr erschienen und sie hat, wie ich hörte, auch mit dem Suhrkamp Verlag Schwierigkeiten gehabt, der einen Roman von ihr, nicht so herausbrachte, wie sie es haben wollte, so daß sie zu Fischer wechselte und bei der Lese.Auslese voriges Jahr in der Gesellschaft für Literatur wurde auch eines ihrer Bücher vorgestellt.
2011-05-10
Die Habenichtse
2 Kommentare »
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Ich hab das in der Zeit gelesen als es rauskam, darübernachgedacht, ob es dieses London wohl später nicht mehr geben würde, habe ich damals nicht, der Irakkrieg war noch sehr nahe, es war für mich die Zeit, als ich das Gefühl hatte, dass das was die Literatur beschreibt und das was ich erlebe zwei verschiedene Straßen eingeschlagen haben, und für mich war das das erste Buch, gefolgt dann von Anna Katharina Hahns Kürzere Tage, was für mich eine erzählerische Auseinandersetzung mit dieser für mich unfassbaren Gleichzeitig war, die mich damals sehr beschäftigt hat (habe ich mich heute daran gewöhnt? Kommen die Nachrichten zu schnell als dass ich mich damit auseinandersetzen könnte? Gaukeln mir die Nachrichten vor ich könnte das alles verstehen?) von Menschen, die über das Mittelmeer fliehen, im Krieg um Handybaustoffe sterben, Hunger haben und Schuhläden wie der in dem Isabelle zu Beginn einkauft, dass das alles eine Welt sein soll. Und so ist es für mich ein Roman vom Weg- und selektiven Hinschauen, vom Nebeneinander und eingeschränktem Verstehen und der Wirklichkeit, die sich davon nicht beeindrucken lässt.
Kommentar von ankedoersam — 2016-05-17 @ 18:45 |
Ja, ich habe das auch schon vor einiger Zeit gelesen, so daß ich mich jetzt gar nicht mehr so gut daran erinnern kann, ich weiß nur, daß es mir eher nicht so besonders gefallen hast. Von der Anna Katharina Hahn habe ich auch einiges auf meiner Leseliste, was ich noch lesen werde.
Kommentar von jancak — 2016-05-17 @ 18:50 |