„Valerie ist das Modell des Malers Franz und seine Geliebte. Franz aber lebt nur für seine Kunst, hinter der alles zurückzustehen hat. Valerie erkrankt an Krebs. Statt ihr in ihrer Krankheit beizustehen, stellt Franz die Krankheit dar. Aber Valerie hat gelernt, mit eigenen Augen zu sehen. Sie will leben – mit anderen Augen, mit anderen Bildern“, steht in der Beschreibung über Erica Pedrettis „Valerie oder Das ungezogene Auge“.
Zu dem Text mit dem die 1930 in der CSR geborene und in der Schweiz lebende Erica Pedretti 1984, den Bachmannmannpreis gewonnen hat (Das Modell und sein Maler) gibt es eine reale Vorgeschichte. Nämlich den Expressionisten Ferdinand Hodler, der 1908, fünfundfünfzigjährig und in zweiter Ehe verheiratet, die zwanzig Jahre jüngere Valentine Gode-Darel trifft, die 1912 an Krebs erkrankt und ein Jahr später ein Kind von ihm erwartet, daß dann von seiner Frau Berthe aufgezogen wurde. Die Bilder von der Krankheit und dem Sterben Valentines und der Veränderungen ihres Körpers, sind die erschütternsten Darstellungen des Sterbens, die in der Kunstgeschichte existieren.
Erica Pedretti, die durch die 1976/77 stattgefundene Hodler-Ausstellung „Ein Maler vor Liebe und Tod“ und durch Max Frisch zur dichterischen Gestaltung des Stoffes ermuntert wurde, hat die Geschichte in die Gegenwart verlegt, das Buch ist 1986 bei Suhrkamp erschienen, verwendet andere und doch sehr ähnliche Namen und beschreibt, die Krankheit Valeries in eindrucksvollen Szenen, „mit tastend fragmentarischer Sprache, in der die verschiedenen Erzählebenen übergangslos, bruchstückhaft, in keiner erkennbar konstruierten Chronologie in einander montiert werden. Erinnerung, Dialogfragmente, Tagebuchnotizen, Phantasien, Berichte, Zitate scheinen wuchernd und unmotiviert zu folgen“, vom Gang durch die Ambulanzen, Bestrahlungen und Operationen, dann wird wieder von einer China-Reise, die die Protagonistin machen soll, bzw. in ihrer Phantasie erlebt, erzählt und die Beziehung zu dem Maler, der sie alleine läßt und „schon vier Monate nichts mehr von sich hören sehen oder hören hat lassen.“
Vor allem die Krebsbehandlung, wie sie wohl in den Achtzigerjahren in den Schweizer Spitätern passierte, wird trotz der kunstvoll schönen Sprache, sehr realistisch beschrieben und ganz behutsam in Frage gestellt.
„Nochmals röntgen? – Das ist ganz ungefährlich, sonst wär ich selber ja nicht mehr da, sagt die Röntgenassistentin. – Kein gesunder Beruf, meint Valerie. – Man muß halt optimistisch sein, sagt die Assistentin.“
Oder „Ich würde aus dem Fenster springen, hatte eine Kollegin gemeint: mit vierzig schwanger, schon im fünften Monat und von so einem Typ. Der ist mindesten sechzig. Und siehtst du denn nicht, was ihm seine Frau bedeutet?“
Bzw. die Stelle, wo sich Valerie auf dem Weg zur Operation befindet. Sie wird durch die Spitalsgänge „als wärst du ein Gemüse und alles greift dich an“ geschoben, in „grüne Heinzelmännchenathmosphäre der Nakoseequipe, deren Unterhaltungen und Lachen im Vorzimmer, während alles zur ersten Operation vorbereitet wird- Schade, daß du nicht geblieben bist, wir sind dann zu Paul nach Hause gegangen – ja, wir waren zu viert bis heut früh, ich hab kaum geschlafen – demonstratives Gähnen und Lachen, wie so so hilflos daliegt.“
Es gibt auch die Geschichte vom Vater, „der mit der Pistole drohte, jeden, der ihm sein durchschossenes Bein amputieren wollte, sofort, oder, falls das unmöglich ist, dann eben später zu erschießen“ und der dann „ein Jahr zuvor im selben Bett an Krebs gestorben ist – ohne Pistole.“
Die Trennung von dem Kind wird im zehnten Kaptiel mit zwei Zeilen auf der leeren Seite erzählt „Das Kind – Daran darf sie nicht denken“ und der Maler Hodler mit den „gräßlich lila farbenen Zeichnungen der Toten oder sterbenden Valentine, werden vom Maler Franz immer wieder zitiert.
„Die Dürerscheibe, deren Hodler stets mehrere besessen und verwendet haben soll, erklärt Franz, besteht aus einer gerahmten Glasscheibe, die sich in den Fugen eines einfachen Holzgestells, leicht und transportabel, in senkrecher Richtung verstellen läßt.“
Es ist eine sehr beeindruckende Geschichte vom Leben und vom Sterben, der Gewalt am und im Leben und der Frauenemanzipation, mit der Erica Pedretti 1984 den Bachmannpreis gewonnen hat und sie erzählt wahrscheinlich von einer anderen Frau, als die es war, die 1915 gestorben ist, denn damals wird es wohl in den Spitälern und Ambulanzen anders ausgesehen und Valentine Gode-Darel die als selbstbewußte Frau beschrieben wird, wird wahrscheinlich keine solche Gespräche mit den Ärzten, die sich um 100 % der Strahlendosis verschätzen und dann noch der Patientin zum Erfolg der Behandlung gratulieren, geführt haben. Eine sehr kunstvoll erzählte Geschichte, die dennoch nichts an der tragischen Realität ausläßt. Zwei Realitäten, das Sterben mit und nach Krebsbehandlung in den heutigen Krankenhäusern und dem, wie es Maler und Modell 1912 – bis 1915 wohl erging, die die Fragen aufwirft, ob es moralisch vertretbar und verantwortbar ist, mit den Bildern einer Sterbenden Kunstgeschichte zu machen und ob es Ferdinand Hodler damit nur um das Malen oder vielleicht doch auch um sprachlose Krisenbewältigung ging? Das Wort Traumatherapie hat man damals wahrscheinlich genausowenig gekannt, wie Strahlenbehandlungen und Chemotherapie.
Ein interessanter Versuch, beides zu verbinden und ein leiser stiller Text, der mich, was ja nicht so oft geschieht, ob seiner Authenitizität sehr beeindruckt hat.
Schade, daß das Suhrkamp Taschenbüchlein, das vor zwei Jahr bei „Buchlandung“ in der Abverkaufskiste lag und wenn man fünf Stück nahm, nur einen Euro kostete, so unbeachtet blieb. Ich habe, glaube ich, noch ein zweites Buch von Erica Pedretti, die auch bildnerisch tätig ist und mir ihren Namen wahrscheinlich seit dem Bachmannpreis eingeprägt.
2011-11-02
Valerie oder Das unerzogene Auge
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