Wieder einmal macht mich ein Buch ein bißchen ratlos, fällt es mir doch schwer Andrej Kurkows „Der wahrhaftige Volkskontrolleur“ einzuordnen. Was ist das nun ein Schelmenroman, eine Farce über die ehemalige Sowetunion, ein Märchen über das schöne Leben im schönen Russland der Neunzehndreißigerjahre im Stil von Gogols „Der Revisor“ nacherzählt? So etwas wahrscheinlich. Im Klappentext des 2011 bei Haymon erschienenen Buches steht etwas von „Schwarzen Humor und echten Kurkow“ und von dem 1961 in St. Petersburg geborenen, das damals wohl anders hieß und seit seiner Kindheit in Kiew lebenden Andrej Kurkow habe ich schon „Picknick auf dem Eis“, gelesen, eine Farce auf das neue Leben in der Ukraine und ihn einige Male bei Lesungen gehört. Das erste Mal, glaube ich, bei Ukrainischen Tagen in der Kunsthalle, dann bei der „Literatur im Herbst“ und bei der Buch-Wien 2008 und 2011 und ich habe mir wohl eine ähnlich scharfe Satire erwartet.
„Der wahrhaftige Volkskontrolleur“ ist aber vergleichsweise sanft und märchenhaft. Nirgendwo eine wirkliche Anklage oder Systemkritik, sondern alle Menschen scheinen glücklich in dieser märchenhaften Volksdiktatur.
„Trotz abstruser ins extreme oder surreale verfremdeter Situationen verliert Kurkow nie den ernsthaft-liebevollen Blick auf seine Figuren“, steht bei Wikipedia.
Es gibt vier voneinander unabhängige Handlungsstränge, die alles von diesem schönen guten sowetischen Leben erzählen.
Da ist der Bauer Pawel Dobrynin glücklich mit seiner Manjascha, seinen beiden Kindern und dem Hund Mitka, der wird zum lebenslangen Volkskontrolleur ernannt. Manjascha packt ihm einen Reisesack mit einer Axt, weil man ja nie wissen kann, wozu man eine solche braucht und ab geht es nach Moskau in die Dienstwohnung, zu der Dienstehefrau und dann in den Kreml zum Genossen Kalinin. Alle trinken ständig Tee und ein Büchlein über Lenin erhält der Held auch zum Geschenk, denn der Name Stalin, der ja wirklich in der SU herrschte, taucht in dem Roman nicht auf. Andrej Kurkow sagte vorige Woche auf der Buch-Wien, daß er den nicht verwenden wollte, dann wäre es wohl auch weniger Märchenhaft geworden.
Der Held wird aber gleich mit einem Pferd, das er auch geschenkt bekommen hat, mit einem Flugzeug nach Sibirien verfrachtet, dort spielt er mit dem Piloten und seinem Quartiergeber, während eines Scheesturmes eine Weile Karten, ißt Zwieback und Kekse, die beiden Männer brechen in ein Militärlager auf, um Nachschub zu holen und erfrieren, das Pferd flüchtet ebenso in die Kälte. Der Held wird weiter in die Polarlandschaft geflogen und begegnet dort einem Volksaufstand, dazwischen liest er Lenins gesammelte Geschichten, träumt nachts darüber und als er nach Moskau zurückgeflogen wird, weiß er nicht recht, wie er sich seiner dienstlichen Ehefrau gegenüber verhalten soll, ist traurig, weil sein Hund Mitka gestorben ist und wird auf seine aufrechte Gesinnung mit Hilfe verschiedener Apparaturen überprüft.
Dann gibt es noch einen Engel, der sich wundert, daß aus der SU niemals Seelen in den Himmel kommen, so steigt er auf die Erde herab, um die zu suchen, vertauscht sein Engelsgewand gegen den Rock eines geflohenen Soldaten und begegnet ständig Deserteuren und geflohenen Kolchosebauern, was eine Anspielung sein könnte, daß doch nicht so alles eitel Wonne ist. Mit diesen bricht er auf und zieht einem Stern nach, um das gelobte Land zu suchen. Dort lassen sich die Enflohenen nieder, um wieder mit Milch und Honig eine gerechte soziale Marktwirtschaft mit allen ihren Schikanen aufzubauen. Ein buckliger Buchhalter läuft herum und schreibt alle Namen auf, die kommunistische Lehrerin Katja unterrichtet die Kinder und die Analphabeten und verliebt sich ein bißchen in den Engel, bei dem sie es nur schade findet, daß er an die unsterbliche Seele glaubt, obwohl sie doch weiß, daß es die nicht gibt. Der erste Deserteur nennt sich Oberdeserteur und die Sabotage muß man natürlich auch bekämpfen.
Dann gibt es einen Schuldirektor, der nachts auf die Dächer seiner Schule steigt und vom Volkskommissariat für Bildungswesen genannt Narkompros seltsame Auträge erhält. So müßen alle Schüler einen Aufsatz schreiben, der dann unkorrigiert eingesammelt und abtransportiert wird. Die Themen lauten „Wofür ich mein Vaterland liebe“ „Meine Familie – die Erbauer des Kommunismus“ oder „Wovon mein Papa träumt“.
Dieses Thema wählt nur ein einziger Schüler und der hat keinen Papa mehr, nur eine Mama, die eigentlich seine Tante ist und die träumte davon Pilotin und Fallschirmspringerin zu werden. Der Direktor liest den Aufsatz, besucht die Tante, verliebt sich in sie und organisiert ihr einen Fallschirmsprung.
Dann gibt es noch eine Blutspendeaktion, wo allen Genossen Blut in großen Mengen abgezapft wird und das bringt die Handlungsstränge, die sonst so nichts mit einander zu tun haben, irgendwie zusammen.
Der vierte Strang ist ein Künstler, der mit einem Gedichte aufsagenden Papagei durch die Gegend zieht und auch den geheimen Auftrag erhält, den eigentlich schon verstorbenen Genossen Lenin, der aber irgendwie in einem unterirdischen Keller weiterzuleben scheint, ein Geburtstagsständchen zu bringen.
Danach kommt er in ein Erholungsheim ans schwarze Meer, der Direktor bekommt den Blutspendeauftrag in seiner Schule durchzuführen, die dienstliche Ehefrau des Pawel Dobrynin hat auch etwas damit zu tun und die Entflohenen gebären friedlich ihre Kinder für die neue Zeit.
So geht es vierhundert Seiten scheinbar ohne Zusammenhang dahin. Sehr friedlich und sehr schön und dennoch voll mit Ironie und Sarkasmus wird in vielen Episoden die Geschichte der wunderbaren Sowetunion, wo Milch und Honig fließen und die Rotarmisten, den Schuldirektor in der Nacht zum Schlafen auffordern, damit er am nächsten Tag gesund und fröhlich dem Staat seine Kräfte zur Verfügung stellen kann, erzählt.
Was sonst noch geschah wissen wir und auch ein bißchen, wie es heute in Moskau, in der Ukraine, etc aussieht und was dort geschieht.
Ich glaube auch vorige Woche bei der Lesung gehört zu haben, daß das Buch der erste Teil einer Trilogie darstellt, die 1927 beginnt und bis 1974 mit denselben Personen weitergeht und das Andrej Kurkow, das jetzt auf Deutsch erschienene Buch schon vor einiger Zeit geschrieben hat.
Es gibt auch eine Facebook-Seite die dem Roman gewidmet ist und von Andrje Kurkow ist noch zu erwähnen, daß er sieben oder mehr Sprachen spricht und seine Lesungen auch manchmal auf dem Klavier begleitet.
2011-11-20
Der wahrhaftige Volkskontrolleur
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