Einundzwanzig der interessantesten Autorinnen und Autoren des modernen Rußland, von denen die meisten wahrscheinlich nur Ljudmila Ulitzkaja und Vladimir Sorokin kennen werden, sind in diesem, 2003 im deutschen Taschenbuch Verlag erschienen und von Galina Dursthoff herausgegebenen Buch, versammelt, das ich bei Thalia in der Kremsergasse um einen Euro erworben und zur Seite gelegt habe. Erzählungen lese ich ja nicht und es reuig wieder aus dem Bücherregal holte, weil ich dieses Vorurteil ja spätestens seit dem Short-Cut-Festival ändern will und es scheint auch ein sehr interessantes Buch zu sein.
Mit einem Bild und Nachwort der Herausgeberin, die auf diesen mit Hut, schwarzer Jacke und einem rußischen Buch vor der Brust abgebildet ist und es gibt vor jeder der einunzwanzig Geschichten ein Bild und eine Seite Biografie des jeweiligen Autors, auf der er oder sie sich selbst beschreiben und man trotzdem nicht allzu viel erfährt. Zumindest keine Geburtsdaten oder doch natürlich, denn Sergej Nossow verrät auf seiner Seite, daß er beim Heumarkt geboren wurde und aufgewachsen ist. Das ist ein Platz in Peterburg um den herum Dostojewskis „Schuld und Sühne“ handelt und in seiner Geschichte „Tabuthemen“ spaziert der Held auch auf den Heumarkt, hat Geld in der Tasche, weil er für seine schöne Frau ein schönes Geschenk kaufen will und gerät an einem, der ihm ein Gläschen Schnaps verkauft. Getrunken wird in den neuen rußischen Geschichten überhaupt sehr viel, die Wodkaflasche spielt eine sehr große Rolle und weil der Held behauptet Geschäftsmann zu sein, will ihm Michail gleich einmal eine Leiche verkaufen. Keine gewöhnliche, sondern eine ganz besondere, bei der nicht nur den „Wortkünstlern“ die Spuke wegbleibt, denn die Leiche behandelt „Tabuthemen“ und damit befaßt sich der Erzähler nicht, wurde über sie doch schon von Majakowski, Jewtuschenko etc geschrieben. Trotzdem kauft er sie um seine dreihundert Rubel, die dann gleich versoffen werden, um sie anschließend wieder einzugraben und dann steht er da mit zitternder Hand und schwört „Ich werde es nicht verraten, nein. Niemanden. Niemand wird des erfahren. Niemand.“
Irena Deneschkina hat in „Issupow“ ein ähnliches Begehren, denn sie studiert an der Journalistischen Fakultät, obwohl sie sich nicht vorstellen kann, eine Reportage über eine lebendige Person zu schreiben, sondern nur über „Issupow“ ihren Freund, der ein Clown und ein Gaukler ist, erzählen will.
Alexander Churgin wurde als Jude in Moskau geboren und lebt in der unabhängigen Ukraine, wobei er als Schriftsteller gleich in einige Dilemmi kommt und hat in „So was Dummes“ eine sehr witzige Geschichte, wo einer aus dem Gefängnis zu seiner Frau heimfährt, die gerade auf Nachtschicht ist, dann wird gegessen und gesoffen und als sie miteinander im Bett liegen, kann er nicht, denn im Gefängnis und auf der See schrupfen ja die Pimmel ein. So geht er am nächsten Tag zu seinem Zwillingsbruder und der geht dann statt ihm nachts zu der Ehefrau, die den Schwindel aber erkennt, aus dem Fenster springt und der Held landet wieder im Gefängnis und begeht dort, glaube ich, auch einen Mord.
Ljudmila Ulitzkaja habe ich, glaube ich, einmal, bei der Literatur im März Veranstaltung im vormaligen noch unfertigen Museumsquartier, das vielleicht noch Messepalast hieß, gehört, Alexandra Millner hat sie vorgestellt und in „Rußische Frauen“ wird gleich weiter gesoffen, diesmal in New York, wo sich drei ehemalige Rußinnen treffen und über ihre saufenden Exmänner schimpfen, dann versuchen sie es miteinander und veranstalten als der Wodka ausgeht, eine Hausdurchsuchung, weil man ja nach Ljudmila Ulitzkaja in russischen Wohnungen mehr Wodka als Bücher findet und am Schluß beschließt eine der Frauen, heim zu ihrem Liebhaber zu fahren.
Der Internet affine Wladimir Tutschkow entwirft in „Die Insel der Freiheit und des Glücks“ das Modell eines amerikanischen Lebens auf sibirischen Boden, das natürlich scheitert und im Faschismus endet.
Tatjana Nabatnikowa hat die „Nationalen Bestseller“ organisiert und ist auf dem Foto bei der Überreichung einer der Preise abgebildet. In ihrer Geschichte „Das Archimedische Prinzip“ geht es um eine alte Liebe und um das Wiederhestellen des urspünglichen Zustands. Ilja Stogoff schreibt in „Einfach am Abend“ von Sex an Drugs“, da wird einer zu einer Party in einen Club geladen, soll mit einer gelangweilten Schönen Pornos drehen und als er das ausprobieren will, ruft die Ehefrau, die im fünften Monat ist an und er muß nach Hause. Anatoli Gawrilows Geschichte „Die Berliner Flöte““ spielt natürlich dort und wird von einer offebar sehr musikalischen Erzählstimme berichtet, die der Tochter eine Flöte kaufen will, aber das Geld dazu nicht hat. Jana Wischnewskaja wurde in Kiew geboren und erzählt in „Durch alle Meere und Länder“ vom Krieg und den Soldaten, die sich dabei suizidieren oder durch das weiße feine Pulver zu Tode kommen. Dann folgt Andrey Bytschkow, der von sich nicht weiß, ob er sich als Realist, Surrealist oder Avangardist bezeichnen soll und in seiner Geschichte „Saint-Michel“, die offenbar in Frankreich spielt, auch von Sex und gekaufter Liebe erzählt, während Julia Kissinas Geschichte, wieder in Deutschland spielt, wo sie auch lebt, man sieht die neuen rußischen Erzähler haben viel erlebt und oftmals auch Migrationserfahrung. Michail Jelisarow wurde 1973 geboren und schreibt in „Der Stadtteil hieß Panilowka“ von einem Jugendlichen, der mit einem Monteur „bis an den Arsch der Arbeit geht“.
Der 1961 geborene Pawel Krussanow erzählt in höchst surrealen Tönen vom rußischen Winter, der ja auch beeidruckend ist. Da fährt einer im Bus nach Haus, die Frau und der Kartoffelauflauf verlocken nicht sehr, so geht er mit einem, der wie Mephisto gekleidet ist, auf Sauftour und wird am Schluß dennoch von seiner Frau erwartet, während Irina Borissowa in „Sommer auf dem Land“ von zwei Rentnerinnen schreibt, die Blumen züchten und sich in ihrer Einsamkeit damit gegenseitig bekriegen und Andrej Gelassimow läßt uns in „Zartes Alter“ ins Tagebuch eines Jugendlichen schauen, der von Audrej Hepburn träumt, Klavierspielen lernen will, während sich seine Eltern im Schlafzimmer zerstreiten, die Mutter verläßt ihn schließlich und die alte Klavierlehrerin stirbt, da hört er zu schreiben auf. Jegor Radow erzählt in „Tagebuch eines Klons“ was alles mit der Menschheit passieren kann und wer sich als Genie entpuppt und wer sich zu Tode säuft und dann trotzdem die Organe des anderen bekommt
Höchst eindrucksvoll und zu empfehlen, die Geschichten der einundzwanzig neueren rußischen Autoren, zu denen noch Marina Wischnewezkaja, die in „Sperlingsmorgen“, die Gedanken und Erlebnisse einer Säuferin und wahrscheinlich Prostituierten sehr eindrucksvoll beschreibt, Oleg Postnows „Kornett Jergunow“,Segej Bolmats „Shopping“ und Natalja Smirnowas „Park der Steine“ gehören.
„Komisch, klug, drastisch, verblüffend“, wie am Buchrücken steht und wo eigentlich alles beschrieben und nichts ausgelassen wird.
Vladimir Sorokin, von dem ich „Das Eis“ gelesen habe und der in seinem Vorwort davon erzählt, wie er als Kind im Arbeitszimmer seiner Eltern gegen das Heizungsrohr gefallen ist und seither phantastische Bilder in seinem Kopf hat, die er zu ebensolchen Geschichten formt, habe ich vor Jahren in einer sehr überfüllten Hauptbücherei gehört und da war auch etwas im vorigen Jahr zur noch neueren russischen Literatur. Im Bücherschrank habe ich vor kurzem Wladimir Kaminers „Schönhauser Allee“ gefunden, aber der wird, wie ich einmal auf einem Symposium im Literaturhaus hören konnte, ja nicht zu den richtigen Russen gezählt.
2012-04-06
Rußland – 21 neue Erzähler
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