Literaturgefluester

2012-12-28

Stalins Kühe

Filed under: Uncategorized — jancak @ 00:25

„Drei Frauen, drei Generationen, drei aufeinanderaufbauende Lebensgeschichten“, steht am Buchrücken des vierhunderneunzig Seiten dicken Buches, der 1977 geborenen estnisch finnischen Schriftstellerin Sofi Oksanen „Stalins Kühe“, das ich auf meine Geburtstagsbücherliste setzte, da wir ja im Sommer, sowohl zwei halbe Tage in Tallinn und ein Wochenende in Saaremaa waren, als auch mit Fähre nach Helsinki und von dort nach Turku fuhren.
Im Gepäck hatte ich eine eine Tasche von Literatur über Litauen, da das Land 2002 Gastland in Frankfurt war und mich sehr geärgert, als ich in Riga daraufgekommen bin, daß ich ja die „Hunde von Riga“ mitnehmen hätte können, weil ich den Mankell Krimi im Bücherschrank gefunden habe.
Von Sofi Oksanen habe ich dann wahrscheinlich auch in einem der Reiseführer gelesen, von ihr hatte ich aber kein Buch und auch nicht viel Ahnung, wenn ich im Herbst aber durch den Morawa in die Alte Schmiede ging, bin ich an den Stößen von „Stalins Kühe“ vorbeigekommen und jetzt habe ich das dicke drei Generationenbuch gelesen, das einen langen ersten und zwei kurze andere Teile hat und in genau solcher Ausführlichkeit, fast wie im Lehrbuch oder einem Selbsterfahrungsseminar, die Bulimanorexie oder starke Eßstörung, der Ich Erzählerin Anna, die manchmal auch in die dritte Person wechselt, erzählt.
Diese Teile tragen die jeweils ersten Sätze als Kapitelüberschriften, während die Teile, die von der Mutter Katariina und der Großmutter Sofia bzw., deren Familie handelt, die von Stalin nach Sibirien verschleppt oder zum freiwilligen Übertritt in die Kolchose gezwungen wurde, Jahreszahlen als Überschriften haben.
Katariina die Estin, die als Jekatharina Arnoldowa, nach Finnland einheiratet, ist in Tallinn aufgewachsen, Bauingenieuerin und 1971, als ihr erstes Kaptiel beginnt, hat sie schon ihren Finnen, der später von Anna auch Vati genannt wird und der während Katariina in Finnland lebt, seine Zeit hauptsächlich in der finnischen Botschaft von Moskau verbringt, dort die Mutter mit russischen Frauen betrügt und die Tochter bei seinen Heimaturlauben in die Geschäfte zum Einkaufen mitnimmt, damit er Kleider und Parfums für seine Freundinnen besorgen kann, während die Mutter mit der kleinen Anna mit der Fähre nach Tallin zu ihren Verwandten nach Tallinn oder auch zu der Tante aufs Land fährt, Schmuggelware im Gepäck, denn die Esten wünschen sich alle finnischen Kafffee oder finnische Jeans von Katariina, der reichen Verwandten, die sie dann zu überhöhten Preisen verkaufen oder zum Bestechen verwenden.
Das war in den Siebzigerjahren zu einer Zeit, wo die Estinnen in Finnland als Huren galten, die sich für Geld aushalten ließen, so daß Katariina in der ständigen Angst lebte, man könnte sie als solche erkennen und Anna das Estisch sprechen verbot.
Es geht sehr viel um die Geschichte Estlands, um geschminkte Estinnen mit den Stöckelschuhen, während die Finnen Turnschuhe und Hosen trugen, um das Schmuggeln und den kleinen Grenzverkehr, um Spitzeln, auf das Warten auf Katariinas Visum bzw. Heiratserlaubnis und auch um die Vergangenheit der späten Vierziger und frühen Fünfzigerjahren, um den Hunger in den sibirischen Lagern und den zu kleinen Brotrationen.
Tallinn verändert sich langsam in die Stadt, die ich im Sommer gesehen habe. Anna erkennt sie, als sie als Erwachsene hinkommt, fast nicht wieder und Anna ist auch das Wunderkind, für das sich die Lehrer eigene Noten ausdenken, weil sie viel intelligenter, als die anderen war mit ihrer Prinzessinnenkrankheit, die die Lebensmittel in sichere und unsichere einteilt, bei ihren Essorgien zuerst mit Eis beginnt, denn das läßt sich am leichtesten herausbrechen, während man das Brot kaum aus dem Magen bekommt und die ihre Krankheit auch sehr lange vor allen verbergen kann, an ihren Zähnen merkt man es nicht und auch nicht an ihren makellosen Körper.
Seitenlang werden die Einkauftouren durch die Geschäfte beschrieben, all die Lebensmittel, die sie kauft und wieder hinausbricht, um den perfekten Körper zu bekommen, den sie zu brauchen glaubt. Später geht sie zu einem Essensarzt, aber nur um von ihm Medikamente zu bekommen, die Therapien bricht sie ab oder braucht sie nicht. Sie hat zwei Freunde zuerst den Finnen Hukka, im zweiten Teil lernt sie Wilen, der nach Wladimir Iljitsch Lenin benannt wurde, auf dem Schiff kennen, als sie nach Finnland zurückfährt, nachdem sie die Mutter zur Erholung nach Estland zur Tante brachte, denn, nachdem Anna ihr Studium abgebrochen hat, ist die Mutter doch besorgt geworden und hat die Lebensmittel und die hohen Essensrechnungen gefunden. Zwar hat sie zuerst geglaubt, die Tochter würde sich von einem Mann aushalten lassen und für ihn kochen oder richtiger Anna glaubte, die Mutter würde das glauben, während die zu Vati sagte, daß Anna eine schwere Eßstörung habe.
Im dritten Teil, als Anna sich einen Fuß bricht, weil sie, obwohl sie alles in Griff hat und stets Vitamine nahm mit fünfundzwanzig schon Osteoropose hat, spricht sie mit „ihrem kleinen Troll“, während sie vorher von „ihrem Herrn“ gesprochen hat und wir haben ein packendes spannendes Buch gelesen, daß gleich zwei, bzw. drei heiße Eisen anpackt, die Geschichte Estlands mit der sowetischen Besetzung und die sehr beeindruckende Schilderung einer Eßstörung, von der ich nur hoffen kann, daß es doch nicht Sofi Okksansen Geschichte ist, die sie da erzählt, da sie ja die Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters ist und in Helsinki Dramaturgie studierte.
Mit „Stalins Kühe“ 2003 geschrieben ist sie in Estland bekannt geworden. Mit „Fegefeuer“ ist ihr der Durchbruch auf nationaler Ebene gelungen und bei Wikipedia kann man auch lesen, daß Oksanen „Autofiktion“ schreibt, also autobiografische Erlebnisse mit Belletristik kombiniert und da fällt mir wieder Ana Znidar und ihr Ausspruch bei den Schnupperseminaren des Writersstudio ein, daß man das Schlimmste, was man erlebt hat, aufschreiben soll, weil das die anderen interessiert, während mir ja JuSophie einmal schrieb, daß man die Autobiografie aus seinen Texten heraushalten soll.
Sofi Oksanen ist auf jeden Fall ein sehr literarischer Roman gelungen, ich habe, glaube ich, noch nie eine so eindringliche Beschreibung der Bulimie gelesen, obwohl ich schon einige solcher Klientinnen betreute, die Verbindung mit dem Politischen, gibt aber eine sehr neue Sichtweise.
Sofi Oksanen hat auch eine frische, rotzfreche, jugendliche Sprache, trotzdem war es nicht ganz leicht in das Buch hineinzukommen, da es eigentlich keine Handlung hat, sondern das, was der Klappentext in ein paar Zeilen andeutet, chronologisch sehr durcheinander, sehr ausführlich erzählt. Durchhalten lohnt sich auf jeden Fall.

1 Kommentar »

  1. […] Literaturgeflüster […]

    Pingback von (Rezension) Stalins Kühe von Sofi Oksanen | Bücherphilosophin — 2015-02-22 @ 09:20 | Antworten


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