„Ich habe noch etwas Unvorhergesehenes getan. Bis heute!“, hatte Natalie gedacht und ertappte sich dabei, daß sie sich mit der Hand über ihre Stirn fuhr und dann durch das kleine Zimmer schaute, das ihr im Hospitz am Weissensee, das sie seit einiger Zeit bewohnte, zur Verfügung stand.
Sie würde es nicht mehr lange bewohnen, das sah sie an den Blicken ihrer Ärzte, wenn sie morgens zur Visite, obwohl das hier nicht so hieß, ihr Zimmer betraten und mußte, ob der Verlegenheit, die sie darin sah, fast ein wenig lachen.
Denn sie machte das nicht verlegen und war das genausowenig, wie das nichts Unvorhergesehene in ihrem Leben vorgekommen war. Bei ihr und da war sie stolz darauf, war alles geplant und durchdacht geschehen.
Obwohl der Krebs natürlich nicht. Den hatte sie nicht eingeplant und der hielt sie jetzt fest, hatte sie in das Hospitz gebracht und würde sie nach ihrer Ärzte Meinung, wohl auch bald veranlaßen, dieses zu verlassen. Das heißt, da würde sie nicht selber gehen. Da würde man sie schon aus diesen hinaustragen und dann in Wien, am Zentralfrieddhof, im Grab der Eltern, auch das hatte sie geplant und ihren Notar veranlaßt, das für sie zu organiseren, begraben werden. Und der, Dr. Balthasar Höllmoser, er hieß wirklich so, da konnte sie nichts dafür und sie hatte ihn auch nicht seines Namens wegen ausgesucht, hatte verständnisvoll genickt und sehr vorsichtig hinzugefügt, daß es Zeit wäre, alles noch nicht Erledigte zuerledigen, wenn noch etwas offen sein solle.
„Aber daran brauche ich Sie wohl nicht zu erinnern, gnädige Frau, Frau Doktor Lichtenberg-Schmidt!“, hatte er noch hinzugefügt und, wenn sie es nicht verhindert hätte, wohl wirklich und wahrhaftig ihre Hand geküßt.
Sie hatte es verhindert. Denn sie war nicht sentimental. Hatte kühl und beherrscht „Selbstverständlich, Herr Doktor, keine Sorge, da müssen Sie nichts befürchten!“, gewantwortet und jetzt lag sie in ihrem Hospitzbett umgeben von Apparaten, Schläuchen und Medikamenten, erwartete ihren Tod und hatte nachzudenken, ob noch etwas Vergessenes zu erledigen war?
Das hatte sie, früher, als sie noch in ihrer Praxis in der Tautenzienstraße tätig war, immer zu ihrem Patienten so gesagt, denn sie war Zeit ihres Lebens mit Leib und Seele Psychoanalytikerin gewesen und hatte höchstwahrscheinlich doch etwas vergessen.
Denn sonst hätte sie nicht mit vierundsechzig der Krebs eingeholt, der ihrem Leben bald ein Ende machen würde, sagte man doch, daß er nur kam, wenn man etwas verdrängte und, daß das nicht passierte, damit hatte sie sich ihr ganzes Leben befaßt.
Bei den anderen hatte sie das getan, denn sie war eine perfekte Analytikerin gewesen. Das sagten ihr auch ihre Feinde nach und trotzdem mußte es so sein, daß sie etwas vergessen hatte. Sonst wäre das kleine Schalentierchen, ihr Pankreatzerl, wie sie es mehr oder weniger liebevoll zu nennen pflegte, nicht gekommen und hätte sie von innen aufgefressen.
„Wenn Sie etwas zu erledigen haben, gnädige Frau, Frau Kollegin, wäre es jetzt an derZeit dafür!“, hatte auch Dr. Wallner, der Primar dieses Hauses heute morgen zu ihr gesagt, ihr dann die Hand gedrückt und sich verlegen nach der Oberschwester gewandt, die ihn begleitet hatte, um mit dieser hüstelnd und verlegen das Zimmer zu verlassen.
So war es gewesen. So ging es in diesem Hospitz zu, das ihr wegen der hervoragenden ärztlichen und auch psychologischen Betreuung von ihrem Freunden empfohlen worden war, als es so weit war, daß sie ein solches brauchte.
Sie mußte, wenn sie daran dachte, fast ein wenig lachen, kam doch der Gedanke in ihr hoch, sowohl Doktor Höllmoser, als auch Doktor Wallner, eine Psycnhoanalyse zu empfehlen. Aber dazu war es wohl zu spät. Sie könnte, auch wenn sie wollte, keine solche mehr an ihnen durchführen und hätte das auch früher aus den sogenannten ethischen Gründen abgelehnt.
„Also ich haben noch nie etwas Unvorhergesehenes getan, bis heute….“, nocheinmal denken, sich dann einen Schwung geben, mit der Hand nach der Halteschlaufe, die es an ihrem Krankenhausspezialbett gab, greifen, um sich an dieser hochzuziehen, und ihr Nachtkästchen errreichen.
Sie mußte es tun, jetzt ihren Grundsatz brechen, wenn sie ohne Schuldgefühle gehen und sich in Wien im Grab der Eltern auf diese Art und Weise eingegraben werden wollte. Mußte sie? Sie mußte natürlich nicht. Hatte noch nie etwas gemußt, denn sie war Zeit ihres Lebens eine willesnsstarke Frau gewesen, die gewußt hatte, was sie wollte und so wollte sie es auch heute. Würde es tun, obwohl sie sich noch gestern wahrscheinlich nicht vorstellen hatte können, daß sie an Mathilde und Moritz einen Brief schreiben wollte, um sich bei ihnen zu entschuldigen.
Und Lily, deren Tochter, die, wie sie wußte, als Kuratorin im Kultutinstitut in New Yorkt tätig war und außerdem noch bloggte, würde sie auch schreiben, hatte das Mädel doch, wenn sie richtig informierit war, keine Ahnung, wer ihr Vater war und die beiden, Mathilde und Moritz würden sie wohl mit Recht hassen.
Aber das tat nicht weh und hätte sie auch früher nicht belastet. Denn sie war, wie schon erwähnt, immer eine willensstarke Frau gewesen, die wußte, was sie wollte. Das war schon als kleines Mädchen, in der Wiener Wohnung, in der sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester Mathilde aufgewachsen war, so gewesen, die nur ein Kinderzimmer hatte.
Ein Kinderzimmer, daß die Mutter liebevoll für das kleine Töchterchen, das sie erwartete, geschmückt und hergerichtet hatte. Eine Wiege hatte sie gekauft, die Wickelkommode, die Strampler und die Windeln, das erste Spielzeug, wie das wohl in vorsorglichen Familien so war und dann war nach ihrer Geburt, nicht bloß die Nachgeburt, sondern eine halbe Stunde später auch Mathilde, von der Mutter vollig unerwaret aus ihr herausgekommen und hatte, die Eltern, die nur ein Kind wollten, überrascht und weil sie zufälligerweise, die erste war, die aus der Mutter Schoß gezogen wurde, hatte sie von der Angelegenheit profitiert.
Denn die Eltern hatte sie in die Wiege gelegt. Für Mathilde war wohl noch schnell ein zweites Bettchen aus einem Trödelladen angeschafft worden. Sie hatte, die von Freunden der Familie geschenkten und gebrauchten Strampler zum Anziehen bekommen, während die Mutter weiterhin nur „Für meine Tochter!“, in den Kinderboutiquen kaufte und zu Weihnachten hatten auch nur für sie Geschenke unter dem Christbaum gelegen, während Mathilde, die zu spät gekommene, Zeit ihres Lebens nur mitgelaufen war.
„Das ist ungerecht!“, hatte sich diese später, als sie das schon konnte, zwar beklagt, war aber an der Sturheit ihrer Eltern abgeblitzt, die sie verständnislos angeschaut und ungerührt gewantwortet hatten, daß sie sich nur ein Kind gewünscht hatten und auch nur eines leisten konnten.
Das war nicht nur ungerecht. Das war auch grausam, das wußte die Psychoanalytikerin und jedes Jugendamt würde auch sofort einschreiten und den Eltern enerrgisch klar machen, daß so etwas nicht ging und absolut verboten war. Aber damals war es gegangen und es war auch niemanden aufgefallen, daß die Eltern Zeit ihres Lebens so taten, als ob sie nur eine Tochter hätten und die zweite übersahen.
Sie hatten sie, das mußte sie dazufügen, nie mißhandelt. Mathilde hatte immer ausreichend zu essen bekommen, aber sie hatte die abgelegten Kleider, der Kinder ihrer Freunde getragen und zu Weihnachten und zu Geburtstag höchstens eine Tafel Schokolade oder ein Unterhemd geschenkt bekommen, während für Natalie, die Kerzen brannten und es war auch immer klar gewesen, daß Natalie studieren und Mathilde in die Hauptschule gehen würden, denn „Mehr können wir uns nicht leisten!“, hatten die Eltern freundlich gesagt, wenn sich Mathilde wieder einmal darüber beschwer hatte.
Das war ungerecht, ganz klar, aber es war nicht ihre Schuld. Das war ebenfalls klar und das war auch das Thema ihrer Lehranalyse gewesen und daher konnte das Pankreatzerl nicht kommen. Denn sie hatte sich nicht eingemischt, weder in der einen noch in der andern Richtung. Sie hatte Mathilde weder gequält, noch sie bei den Eltern verteidigt. Sie hatte einfach die guten Gaben ihrer Eltern angenommen und es eigentlich auch ganz selbstverständlich gefunden, daß sie, weil sie die Erste war und kein Geld zur ein zweites Sudium vorhanden, studierte.
Sie hatte sie nach dem Gymnasium Medizin studiert, während Mathilde nach der Hauptschule und dem neunten Pflichtschuljahr in einem Haushalt, als Mädchen für alles gegeben wurde. Dort hatte sie sich dann gewehrt, hatte die Handelsakademie besucht und war als Verlagssekretärin nach Berlin gegangen.
Da war sie schon mit ihrem Studium und der Lehranalyse fertig und hatte, weil das auch ein Thema dieser war, obwohl sie sich eigentlich nie sehr für ihre Zwillingsschwester interessiert hatte und sie bereitwillig aus ihrem Leben gelassen oder verdrängt, wie ihr Lehranalytiker bedächtigt meinte, auf seinen Rat nach Berlin begeben, um sich mit der Schwester auszusprechen.
Völllig emotionslos hatte sie das, wie sich sich erinnert hatte, getan und dort hatte sie Moritz kennengelernt, der als junger Lektor in dem Verlag arbeitete, in dem Mathilde Sekretärin war, während sie nach einer Praxis suchte, die sie sich in Wien einrichten hatten wollten.
Dann war alles anders gekommen. Aber das war nicht Unvorhergesehen, denn, daß sie sich, als Mathilde in Moritz Leben eingeschlichen hatte und diesen erst nach der Hochzeit ihren wahren Namen sagte und kalt „Selber schuld, wenn du das nicht bemerktes!“, hinzugefügt hatte, war von ihr geplant gewesen und auch Mathilde hatte sie kaltblütig und wohlüberlegt vor die Tatsache gestellt, daß sie Moritz heiraten würde, die daraufhin schlagtartig Berlin und den Verlag verließ und nach Wien urückgegangen war, während Natalie nach Berlin übersiedelte und ihre Praxis in der Tautenzienstraße errichtete. So war es geplant und es war auch nicht ihre Schuld, daß Moritz sie nach drei Jahren verlassen hatte und sich von ihr scheiden ließ oder doch natürlich war es so gewesen. Das wußte sie schon. Aber sie hatte nur mit vollen Händen nach dem, was ihr das Leben bieten konnte, gegriffen und wenn das der Grund war, daß das Pankreatzerl sich bei ihr eingeschlichen hatte, konnte sie es auch nicht ändern.
Konnte nichts, als würdevoll sterben, was sie, wie sie sowohl mit Dr. Wallner, als auch mit dem Notar besprochen hatte, auch tun würde und die hatten ihr geraten, das Unerledigte zu erledigen und das würde sie auch tun, dachte Natalie entschlossen und merkte, daß ihre Hände zitterten, als sie nach dem Briefpapier griff und zu dem Kuverts, die in der Lade laden, um an Moritz und an Mathilde zu schreiben, um sich bei ihnen zu entschuldigen, obwohl sie das nie vorgehabt hatte und sich wirklich und ganz ehrlich, bis heute auch nicht schuldig fühlte, daß sie sich an Mathildes Stelle in Moritz Leben eingeschichen hatte und sie bei den Eltern nichts gegen ihre Bevorzugung unternommen hatte.
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