Literaturgefluester

2020-03-01

Sibylle

Filed under: Textbeispiel — jancak @ 00:01
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Und noch ein weggestrichenes Stück, das ursprünglich, glaube ich, die erste Anhangszene des „Fräulein Nos“ werden sollte.

„Hier geblieben, du Arsch!“, sagte Sibylle Neumayer und stellte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Salontüre, so daß Moritz den Raum nicht verlassen konnte, ohne sie zur Seite zu drücken und umzustoßen. Was er, wie sie sehr wohl wußte, körperlich imstande war und seine physische Überlegenheit auch schon oft genug zum Ausdruck gebracht hatte, was ihr ein blaues Auge oder Blutergüße an den Armen eingetragen hatte, die sie dann mühsam vor ihren Freundinnen verbergen und Ausreden ersinnen hatte müssen, die ihr diese, wie sie vermutete, ohnedies nicht glaubten. Aber heute war es anders. Da war sie  sicher und das gab ihr die Kraft, sich noch ein Stückchen größer aufzurichten, so daß es jetzt sie war, die ihm bedrohlich gegenüberstand und es waren nicht nur die Schritte, der Haushälterin, die im Flur zu hören waren und die sich gerade mit dem Gärntner und  Chauffeur Umit unterhielt, da war sie  sicher, daß es die Kraft des Briefes war, den sie in ihrer Jackentasche trug. Der Brief eines Berliner Notars, der ihr mitgeteilt hatte, daß irgendeine Tante, eine Hildegard Sibelinsky, die sie kaum kaum kannte und an die sie sich nur unscharf erinnern konnte, in einem Seniorenheim in Schöneberg verstorben war und ihr, der offensichtlich einzigen Verwandten, ihr ganzes Vermögen, das eine beträchtliche Summe, sowie einige Schmuckstücke zu umfassen schien, vermacht hatte, was ihr die Kraft gab, sich endlich gegen Moritz aufzulehnen und, was sie bisher nie gewagt hatte, weil sie seine Schläge fürchtete und auch von seiner Brieftasche abhängig war, Kontakt mit Fabian aufzunehmen, der den Schritt schon vor einigen Jahren unternommen hatte, was ihr fast einen Schädelbruch eingetragen  und es ihr viel Mühe gekostet hatte, die Ärzte in dem Privatspital, in das Moritz sie dann doch unter den drängenden Blicken der Haushälterin einliefern hatte lassen, zu überzeugen, daß sie gestolpert und gegen eine Wand gefallen war und kein Fremdverschulden vorlag.   Das war jetzt vorbei. Die Wunde konnte heilen und sie, wie sie Dank des Briefes sicher war, eine freie Frau. Ein Koffer und eine Reisetasche waren gepackt und standen im Schlafzimmer bereit. Das Taxi war bestellt und würde in einer halben Stunde erscheinen und diese hatte sie Zeit mit Moritz abzurechnen und ihm endlich, das zu sagen, was sie vorher nicht gewagt hätte. War sie doch, da hatte Fabian schon recht, noch von der alten Schule. Ein Heimchen am Herd, das in ihrer Mädchenoberstufe, die sie besucht hatte, zwar Französisch und Klavierspielen, aber nicht einmal Buchhaltung und Stenographie gelernt hatte und zu einer pianistischen Karriere, die sie eigentlich anstreben wollte, hatte es nicht gereicht.  Erstens waren dazu ihr Talent und ihr Durchsetzungsvermögen nicht groß genug gewesen und dann war bei einem ihrer ersten Bälle, die sie mit ihren Eltern besucht hatte, die sie wahrscheinlich unter die Haube bringen hatten wollen, Moritz aufgetaucht und die Zwanzigjährige hatte sic h in den acht Jahre älteren Burgschauspieler  verliebt. Ein Jahr später war sie verheiratet .  Kurz darauf wurde Fabian geboren und sie war  fortan Hausfrau und Mutter gewesen. Hatte sich von Moritz betrügen lassen, dem seine Verehrerinnen zu Füßen lagen, die ihm für einen charmanten Kerl hielten, während er zu Hause, in der Grinzinger Villa, wo es eine Haushälterin, eine Putzfrau und einen Gärtner gab, von dem sich Moritz auch ins Theater chauffieren ließ, die Sau herausließ, mit dem Haushaltsgeld sehr sparte, so daß sie manchmal, wenn sie sich, wenn er auf den Proben war, sich mit ihren Freundinnen in einem Cafe traf, nicht einmal einen kleinen Braunen leisten hatte können. Das war jetzt endgültig vorbei. Der Flug nach Berlin, um mit dem Anwalt alles zu besprechen und dem Begräbnis beizuwohnen, war schon bestellt. Vorher würde sie aber den Kontakt zu Fabian aufnehmen, den sie, sie gab es zu, kaum anzurufen getaut hatte, weil Moritz auch ihr Handy kontrollierte und ihm sagen, daß sie ihn in diesem Cafe gesehen hatte und daß sie stolz auf ihn war.

„Was soll das jetzt, du Hure?“, hörte sie Moritz keuchen, der nun doch versuchte, sie wegzuschieben. Aber da gab sie sich einen Ruck und rief „Du hörst mir jetzt einmal zu! Ich habe dir etwas zu sagen und wenn du das nicht freiwillig tust, werde ich den Umit und die Frau Danuta dazu holen, damit sie mir beistehen werden!“ und drückte auf den Knopf der Fernbedienung, die sie in der Hand hielt.

„Das wirst du dir jetzt ansehen! Es ist dein Sohn, den du immer so verächtlich Versager nennst, der aber, obwohl ich hoffe, daß er nicht in deine Fußstapfen steigen wird, ein großes Talent ist! Ich habe mit seinen Professoren am Reinhardt-Seminar gesprochen, die mir das versichert haben und stellt dir vor, er wird den „Faust“ in der Abswchlußvorstellung spielen! Das ist doch deine Rolle, von der du immer behauptet hast, daß außer dir, sie keiner zu spielen vermag! Der Fabian wird es aber sicher besser und morderner können!“ sagte sie und blickte zu dem Bildschirm auf der jetzt die Aufführung in dem Cafe zu sehen war, bei der sie heimlich gewesen war und die sie mitgefilmt hatte.

„Da ist dein Sohn, sieh dir ihn an!“, sagte sie noch einmal, dann drehte sie sich um und rief  in den Gang hinaus, um die Haushälterin anzuweisen, ihr doch bitte ihren Koffer und die Reisetasche zu holen, weil sie unerwartet zum Begräbnis ihrer Tante nach Berlin reisen müße und lächelte, den jetzt sehr verdutzt aussehenen Moritz fast mittleidig an, während am Bildschirm eine schreiende Kopftuchrau und ein Fabian mit Schal und Rollkragenpullober zu sehen waren, der sie genauso, wie es jetzt Moritz bei ihr tat, verblüfft anzustarren schien.“

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