Ein bewegtes Leben

Nachruf auf Per Olov Enquist (1934-2020)

Von Holger WolandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Holger Wolandt

Per Olov Enquist, der über Jahrzehnte erfolgreichste und vielseitigste schwedische Autor der letzten Jahrzehnte, ist am 25. April in Vaxholm bei Stockholm gestorben. Gemeinsam mit Sara Lidman und Torgny Lindgren verankerte er die tausend Kilometer nördlich von Stockholm gelegene Provinz Västerbotten auf der literarischen Landkarte.

Über sein Leben und Schaffen gab er in seiner 2008 erschienen Autobiografie Ett annat liv (Ein anderes Leben) Auskunft. Neben den Autobiografien von August Strindberg, Selma Lagerlöf und Ingmar Bergman gilt sie als eines der Hauptwerke der autobiografischen Literatur in Schweden. Die Konstruktion von Leben beschäftigte Enquist immer wieder: In einer Erzählung aus dem Band Berättelser från de inställda upprorens tid (Erzählungen aus der Zeit der abgesagten Revolten) von 1974 geht es um den Attentäter Rudi Dutschkes, 1984 schrieb er das Drehbuch zu einem aufwändigen Fernsehsechsteiler über August Strindberg und 1996 das Drehbuch zu einem Hamsun-Film.

Untypisch für die schwedische Literaturszene war Enquists großes Sportinteresse. Es verband ihn allerdings mit dem von ihm verehrten Bertolt Brecht. Sein Roman Sekonden (Der Sekundant) von 1971 handelte von einem nordschwedischen Hammerwerfer. Im Jahr 1972 berichtete er für die Zeitung Expressen von der Olympiade in München  und 1986 von der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko.

Enquist wuchs in dem aus einigen Dutzend Häusern bestehenden Hjoggböle im Hinterland von Skellefteå auf. Seine Mutter war Lehrerin. Das grüne Haus hatte sein Vater, ein Stauer und Holzfäller, mit Hilfe seines Schwiegervaters zwei Jahre vor Per Olovs Geburt gebaut. Ein älterer Bruder Enquists, Per Ola, war bei der Geburt gestorben. Enquist schlief als Kind in dem Bett, das eigentlich für den Bruder bestimmt war. Enquists Vater Elof starb sechs Monate nach der Geburt seines Sohnes im Alter von 31 Jahren. Enquist wuchs mit seiner Mutter im Kreis einer Freikirchengemeinde auf. Das „bönhus“ (Bethaus) der Evangeliska Fosterlandsstiftelse (Evangelische Vaterlandsstiftung), einer Erweckungsbewegung, lag schräg gegenüber, zwanzig Meter von ihrem Haus entfernt.

Enquist mythologisierte das Haus seiner Kindheit und schrieb darüber zuerst in einem Artikel in Expressen 1987 (I morfars hus; die deutsche Übersetzung erschien in der Anthologie Unter Mördern und Elchen), 1988 in dem Drama I lodjrurets timme (In der Stunde des Luchses), 1992 in der Essaysammlung Kartritarna (Die Kartenzeichner) und schließlich in seiner Autobiografie. An diesem Ort, in dem die Drähte der zum Giebel führenden Telefonleitung zur Himmelsharfe werden und Per Olov die Geheimnisse des Universums mitteilen, verbrachte er jedoch nur wenige Jahre. Seine Mutter verkaufte das Haus, und sie zogen in eine Wohnung, die in einem anderen Ortsteil lag.

Nach dem Realschulabschluss hätte Enquist wie seine Mutter das Volksschullehrerseminar in Umeå besuchen können, entschloss sich jedoch, in Skellefteå Abitur zu machen. Auf dem Gymnasium lernte er Deutsch und seine spätere Frau Margarete kennen. Nach der Wehrpflicht (Dienstrang „överfurir“) studierte Enquist ab 1955 an der Universität Uppsala Geschichte, Staatswissenschaft und Literaturwissenschaft. Im Jahr 1957 unternahm er seine erste Auslandsreise. „Im Herbst 1957 ist er auf dem Weg nach Greifswald; es ist das erste Mal, dass er die Grenzen Schwedens verlässt. Die Universität Greifswald feiert ihr 500. Jubiläum, und eine Gruppe Sport treibender Studenten sind aus Schweden eingeladen worden. Er soll am Hochsprungwettbewerb teilnehmen […]. Nach den Ereignissen in Budapest ist die politische Situation aufgeheizt, aber er ist noch eine politische Unschuld […]. Alles ist anders, als er es gelernt hat, alles hat im Grunde eine sowjetische Erklärung.“ (Ein anderes Leben)

Im Jahr 1966 schloss er das Studium mit einer Magisterarbeit (nicht publiziert) über die Kriminalerzählungen von Thorsten Jonsson (1910-1950) ab, einem Meister der schwedischen Kurzgeschichte aus Nordschweden, der sich stark an Hemingway orientiert hatte.

Die frühen Werke Enquists entstanden in einem abgelegenen Vorort Uppsalas im Heizungskeller eines Einfamilienhauses. Unter seinem Schreibtisch stand hier der Korb mit seinem Sohn Mats, der sich an der großen Zehe des Schriftstellers festklammerte, während dieser arbeitet. Die Mutter arbeitete in der Schule und finanzierte die ersten schriftstellerischen Versuche ihres Mannes.

Enquist arbeitete als Literatur- und Theaterkritiker erst bei der konservativen Tageszeitung Svenska Dagbladet, dann bei der Boulevardzeitung Expressen.Einen literarischen Durchbruch erlebte er 1964 mit seinem dritten Roman Magnetisörens femte vinter (Der fünfte Winter des Magnetiseurs, 1966), einem historischen Roman, der im Jahr 1793 in einer fiktiven Stadt in Süddeutschland spielt. Sein Dokumentarroman Legionärerna. En roman om baltutlämningen (Die Ausgelieferten) sorgte 1968 für einen Skandal. Es ging um die Auslieferung von 146 Soldaten baltischer Abstammung, die in der Waffen-SS gewesen waren, an die Sowjetunion. Ein schwedisches Trauma aus dem Jahr 1946, über das bis dahin geschwiegen worden war. Enquist reiste nach Riga und sprach mit den Männern, von denen die meisten einige Jahre im Arbeitslager verbracht hatten. Ein Jahr später wurde dieser Roman mit dem renommiertesten Literaturpreis Skandinaviens, dem Literaturpreis des Nordischen Rates, ausgezeichnet.

Von 1970 bis 1971 lebte Enquist als Stipendiat des Berliner Künstlerprogramms in Westberlin. Enquist, der neunjährige Sohn Mats und seine Frau Margareta fuhren mit dem Auto nach Berlin, das sechzehnjährige Kindermädchen und die zweijährige Jenny flogen nach Schönefeld. Wegen Schneetreibens konnte die Maschine nicht landen. Enquist verhandelte mit den Ost-Grenzern am Checkpoint Charlie. Das führte zu nichts. Schließlich tauchten das in Tränen aufgelöste Kindermädchen und die gut gelaunte Jenny mit 24 Stunden Verspätung in der Wohnung in der Meinekestraße 6 in Berlin-Charlottenburg auf.

Mit Berlin begannen Euquists Jahre des selbstgewählten Exils. 1973 war er „visiting professor“ an der University of California, Los Angeles (UCLA). Er unterrichtete in einem „advanced course“ über Strindberg (damals will er auch die damals verbindliche Strindberg-Ausgabe in 64 Bänden komplett gelesen haben) und ließ sich zu seinem ersten Theaterstück Tribadernas natt (Die Nacht der Tribaden) über Strindberg, seine Frau Siri von Essen und ihre Freundin Marie David inspirieren.

Mit diesem Stück erlebte Enquist 1975 seinen Durchbruch als Dramatiker. Er kann für sich in Anspruch nehmen, der bislang einzige Schwede zu sein, von dem ein Stück am Broadway gespielt worden ist. Dort fiel das Stück allerdings durch, auch die erstklassige Besetzung mit Max von Sydow, Bibi Andersson und Aileen Atkins konnte es nicht retten.

An einem Romanprojekt über die Auswanderung aus Nordschweden nach Argentinien vor dem ersten Weltkrieg scheiterte Enquist. Er nutzte das Material allerdings dazu, sich mit der Vorgeschichte dieser Auswanderung zu beschäftigen. Daraus entstand 1978 der in Schweden erfolgreichste Roman seiner frühen Jahre Musikanternas uttåg (Auszug der Musikanten).

Im selben Jahr lernte Enquist seine zweite Frau, die dänische Kritikerin Lone Bastholm, kennen. Er zog zu ihr nach Kopenhagen und begleitete sie später nach Paris, als sie Kulturrätin an der dänischen Botschaft wurde. Erst 1993 kehrte Enquist nach Schweden zurück und lebte dort seit 1995 in seiner dritten und letzten Ehe mit der Staatssekretärin am Kultusministerium Gunilla Thorgren.

In den Jahren in Kopenhagen und Paris kämpfte Enquist mit dem Alkoholismus. An der Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf interessierte ihn folglich auch primär, wie sie mit dem Alkoholismus ihres Vaters umgegangen war. Die Dankrede bei der Entgegennahme des Lagerlöf-Literaturpreises 1997 betitelte er Den medberoende sagoförtäljerskan (Die co-abhängige Märchenerzählerin). Sein Drama Bildmakarna (Die Bildermacher) von 1998 handelte von der Verfilmung des Lagerlöf-Romans Der Fuhrmann des Todes durch Viktor Sjöström im Jahr 1921, eines Romans, in dem es laut Lagerlöf um die zu Beginn des 20. Jahrhunderts grassierende Tuberkulose ging, im Grunde genommen jedoch um den Alkoholismus.

Sich von ihm zu befreien, gelang Enquist erst 1990. Drei Anläufe waren dazu nötig: der erste im Huddinge Sjukhus in Stockholm (dem P.C. Jersild 1978 mit Babels Hus ein Denkmal gesetzt hat), der zweite in einer Klinik in der Einöde auf Island, der dritte in einer Privatklinik bei Fredensborg nördlich von Kopenhagen.

Dem Schloss Fredensborg verdankte Enquist das Sujet für seinen auch international größten publizistischen Erfolg. In Fredensborg lernte Johann Friedrich Struensee, der Leibarzt des dänischen Königs Christian VII., die Königin Caroline Mathilde kennen und begann mit ihr eine Affäre, die ihn 1772 den Kopf kostete. Der Roman Livläkarens besök (Der Besuch des Leibarztes) erschien 1999 und wurde mit dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis, dem Augustpriset (nach August Strindberg, wird seit 1989 verliehen) ausgezeichnet.

Seit 2004 wird von Enquists Verlag, dem Norstedts Forlag, ein mit 5000 Euro dotierter Enquist-Preis an  Nachwuchsschriftsteller/innen verliehen. Erhalten haben ihn bislang u.a. Juli Zeh, Daniel Kehlmann, Jonas Hassan Khemiri und Amanda Svensson.