Wagner, Wagner, Wagner…

Verschiedenes von und über den umstrittenen Dichterkomponisten

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ebenso reich an Widersprüchen wie die Person Richard Wagners ist das Werk Richard Wagners, und beider Widersprüchlichkeit wird wohl nur noch von der Widersprüchlichkeit der Rezeption des Wagner'schen Werkes in den Schatten gestellt. Seitdem Wagner im Verlauf der 1840er-Jahre seinen Weg weg von der herkömmlichen Opernform und hin zu seinem Ideal des Musikdramas einzuschlagen begonnen hatte und sich infolgedessen irgendwann in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre der Typus des "Wagnerianers" (der Begriff selbst kam etwas später) und bald auch des Anti-Wagnerianers herauszubilden begann, sind er und sein Werk unablässig Gegenstand unterschiedlichster Wertungen und Auslegungen gewesen. Von den einen vergöttert, von den anderen verspottet, als musikalischer Revolutionär gefeiert, als Reaktionär geschmäht, vom nationalsozialistischen Unrechtsregime aufgrund seiner antisemitischen Äußerungen vereinnahmt, aber aufgrund seines weitaus vielschichtigeren Werkes immer wieder als Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Mythos gewählt und letzten Endes doch als Künstler angesehen, auf den sich, in den Worten Thomas Manns, "jeder zukünftig gerichtete Wille" getrost berufen dürfe.

Dem seit über 160 Jahren ungebrochen hohen und immer noch stetig wachsenden Interesse an Wagner entspricht eine kaum noch überschaubare Sekundärliteratur, welche ihrerseits wieder eines mehrbändigen Einführungswerks bedürfte, um dem Neuling wie dem Fachmann Orientierung zu verschaffen - wie man sinngemäß immer wieder in Musikführern liest. Andererseits ist es geradezu erschreckend verwunderlich, dass die editionsphilologische Grundlagenforschung noch sehr viele Wünsche offen lässt. Wer heute über Wagner schreibt, ist stets zu einem Spagat zwischen Editionen der letzten Jahrzehnte, die höchsten herausgeberischen Anforderungen gerecht werden, und älteren Ausgaben bis zurück zur Jahrhundertwende genötigt, die in der Regel kaum noch heutigen Standards zu entsprechen vermögen, aber unumgänglich sind, da es in sehr vielen Fällen bislang keine späteren Textzeugen gibt.

Die vorliegende CD-Rom der Digitalen Bibliothek, herausgegeben und eingeleitet von Sven Friedrich, dem Direktor des Richard-Wagner-Museums zu Bayreuth, bietet nun eine denkbar umfassende Sammlung von Wagners dichterischen und theoretischen Schriften, Briefen, Tagebüchern sowie einigen zusätzlichen Dokumenten zu Leben und Werk und gibt zugleich einen eindrucksvollen Überblick über diese höchst widersprüchliche gegenwärtige Lage der editorischen Befindlichkeiten des literarischen Teils des Wagner'schen Werkes. Für seine Dichtungen und seine Schriften zur Kunst, seine Gelegenheitsgedichte, frühe Pariser Musikjournalistik und sonstigen über sein ganzes Leben verstreuten Einlassungen unterschiedlichsten Niveaus zu Themen aller Art diente die sechzehnbändige Volksausgabe seiner "Sämtlichen Schriften und Dichtungen" von 1911 als Grundlage. Eine Ausnahme bilden die Bände 13, 14 und 15, in denen Wagners Autobiografie "Mein Leben" enthalten ist, welche hier nach der von Martin Gregor-Dellin 1963 besorgten Ausgabe wiedergegeben wird.

Bei Wagners rund 10.000 erfassten Briefen griff man hier vorwiegend auf die seit 1967 im Entstehen begriffene und auf 30 Bände veranschlagte Ausgabe "Sämtliche Briefe" zurück. Da diese von der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth betreute Edition mit ihren bislang 14 Bänden erst bis zum Jahr 1862 vorgedrungen ist, zog man zudem die Ausgabe "Richard Wagners Briefe in Originalausgaben" aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu Rate. Zusätzlich wurden wichtige Briefwechsel Wagners, insbesondere mit Ludwig II., Franz Liszt oder Friedrich Nietzsche, miteinbezogen - ersterer in der fünfbändigen Ausgabe von 1936, letztere in Ausgaben der 1980er- und 1990er-Jahre.

Diese umfangreichste Ansammlung veröffentlichter Briefe Richard Wagners und einiger seiner Zeitgenossen wird ergänzt durch Tagebücher - durch Wagners eigene Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1865 bis 1882, das so genannte "Braune Buch" (benannt nach dem Einband, nicht wegen späterer politischer Vereinnahmungen!) in der Ausgabe von 1975, sowie die 1976 / 1977 von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack herausgegebenen Tagebücher Cosima Wagners.

Zur Abrundung wurden noch zwei maßgebliche Wagnerbiografien mit aufgenommen, die ihrerseits wiederum den Wandel in der Rezeption von Wagners Leben und Werk plastisch markieren. Carl Friedrich Glasenapps erst von Wagner selbst und in späteren Auflagen von Cosima autorisierte Biografie, hier in ihrer definitiven, sechsbändigen Fassung von 1905, weist den Vorteil auf, vieles aus erster Hand erhalten zu haben - aber eben auch den erwähnten Nachteil, autorisiert worden zu sein. Viele fantasievoll ausgeschmückte Details wurden mittlerweile als frei erfunden entlarvt, vieles wurde geschönigt, nicht zu schönigendes mehr oder weniger elegant übergangen - ein Werk, dass selbst nur noch die Bedeutung eines, wenn auch sehr aussagekräftigen, Zeitdokuments besitzt. Martin Gregor-Dellins Wagnerbiografie von 1980 hingegen, hinsichtlich der Darstellung von Wagners Leben die Frucht detailliertester und umfassendster Auswertung des verfügbaren Materials an Dokumenten und hinsichtlich der Deutung des Wagner'schen Werks in Pro und Contra auf einer Höhe mit den entscheidenden geistigen Auseinandersetzungen mit Wagner von Nietzsche über Thomas Mann bis hin zu Bloch, Adorno und Carl Dahlhaus, stellt seit ihrem Erscheinen die profilierteste biografische Annäherung an Wagner überhaupt dar - wahrlich "der" Roman des Lebens, des Werks und des Jahrhunderts Richard Wagners. Im Gegensatz zu den meisten anderen Biografen deutete er Wagner von seinen revolutionären Anfängen her und sah in ihm vor allem den zeitlebens um ein, wenn auch nur verschwommenes, Ideal von Sozialismus ringenden politischen Menschen, bei dem allerdings Antikapitalismus und Antisemitismus häufig deckungsgleich waren - auch in diesem Punkt ist Wagner (leider!) aktuell geblieben. Als Zugabe gibt es dann noch Gregor-Dellins Bildband "Richard Wagner. Eine Biographie in Bildern" von 1982.

Walter Hansens Wagnerbiografie markiert nicht den allerneuesten Stand der Forschung zu Wagners Werk, Wirken und Weilen auf Erden, muss aber aufgrund ihres Erscheinungsjahrs mit Fug und Recht als allerneueste Wagnerbiografie bezeichnet werden. Mit 360 Seiten ist sie wesentlich weniger weit gespannt als viele ihrer voluminösen Vorgänger. Dem Autor ist es nicht um die Ausbreitung neu erarbeiteten Materials oder die kritische Sichtung früherer Lebensbeschreibungen Wagners zu tun (wie der innere Klappentext des vorderen Buchdeckels missverständlicherweise zu suggerieren angetan ist), sondern um eine überschaubare und leicht zu lesende erste Annäherung an Wagner auf den Schultern großer Vorgänger, was dem Autor auch weitgehend gelungen ist.

In seinem Einleitungskapitel verweist Hansen auf den gemeinsamen Nenner vieler Episoden aus Wagners Leben, der ihm als Richtschnur seiner Darstellung diente, nämlich die merkwürdige Kombination von "Tragik und Würde mit Groteskem und Komödienhaftem", die frühere Biografen gerne vernachlässigt hätten. Seit Glasenapp hat sich aber doch einiges geändert, möchte man hier einwenden, und gewiss nicht erst bei Martin Gregor-Dellin, den Hansen hier als eine der rühmlichen Ausnahmen nennt. Sei's drum - irgendwie muss man ja anfangen, und Hansen fängt nicht nur großartig an und kommt rasch in die Gänge, sondern hält sein Tempo bis zum Schluss durch und verliert den angestimmten Grundakkord nicht aus den Augen. Hansen ist ein unübertrefflicher Meister des Bonmots, mit einem untrüglichen Gespür für die subtile Komik einer Situation und die effektvolle Ausmalung der dazugehörigen Intrigengespinste. Sein besonderes Verdienst ist es, eine Unzahl von andernorts vielfach kolportierten Anekdoten zur Zitierfähigkeit geadelt zu haben, und es ist anzunehmen, dass viele seiner Resümees dereinst als geflügelte Worte in die Wagner-Literatur Eingang finden werden: "Richard Wagner war klein - und blickte auf alle anderen herab." Wer wollte da widersprechen?

Gleichwohl zeigt dieses Talent auch Schattenseiten. Des Verfassers überdurchschnittliche Begabung für das Zugespitzt-Anekdotische erweckt stellenweise, etwa in Bezug auf das hier sehr ausführlich erörterte Gerücht einer möglichen illegitimen Abstammung Wagners aus dem Fürstenhaus Sachsen-Weimar, den Anschein der Gefahr des Abgleitens der Darstellung ins Boulevardesk-Voyeuristische. Auch wenn sich diese Tendenzen nur auf ganz wenige Seiten beschränken, so sind sie doch um so ernster zu nehmen, als der Autor hinsichtlich des Wagner'schen Werkes, seiner dichterischen und kompositorischen Intentionen sowie ihrer philosophischen Beeinflussungen, in seinen Ausführungen ausgesprochen dürftig bleibt - entgegen dem im rückseitigen Klappentext erhobenen Anspruch, "Wagners Ringen ums Werk" zu veranschaulichen.

Über das rein Biografische hinausgehend findet sich hier aber kaum etwas. Nicht zuviel Leben, möchte man sagen, aber entschieden zu wenig Werk. Hansen erweist in verschiedenen Punkten Martin Gregor-Dellin ausdrücklich seine Reverenz, was für seine Ehrlichkeit spricht, aber nur bedingt eigene Oberflächlichkeiten und Unzulänglichkeiten zu entschuldigen gestattet. Wenn es um die Erläuterung geistesgeschichtlicher Zusammenhänge geht, um die intendierte Wiedergeburt des antiken Theaters im Wagner'schen Festspielgedanken etwa oder um kompositorische Aspekte, ist Hansen immer dann am fundiertesten, wenn er ausführlich Gregor-Dellin zitiert oder ihn nachweislich gekonnt zusammenfasst. In der Tat gelingt es ihm passagenweise, so etwas wie "Gregor-Dellin-Light" zustandezubringen - leider braucht niemand eine solche "Light"-Version, und Gregor-Dellin braucht nicht zusammengefasst zu werden.

In seinen wenigen von eigenen theoretischen Anwandlungen Zeugnis ablegenden Nebensätzen witzelt sich Hansen salopp über "Schopenhauers triste(r) Philosophie" hinweg, was wohl auch als Wortspiel aufgefasst werden sollte - es ging um "Tristan und Isolde". Auch sind seine Inhaltsangaben bisweilen fehlerhaft bis unbrauchbar, beispielsweise im Falle des "Parsifal". Hier schafft es der Autor bei aller Lockerheit eben ganz und gar nicht, die "Story" gekonnt 'rüberzubringen. Auch beeinträchtigen kleine Fehler, wenn auch noch so geringfügig, den durchaus im Bereich des Positiven verbleibenden Gesamteindruck. Wo wir gerade beim "Parsifal" sind: Gustav Mahler kam erst ein Jahr nach Richard Strauss in den Genuss einer Bayreuther Darbietung des Bühnenweihfestspiels, und ein Stipendium hatte er auch nicht. Der Rezensent war damals zwar noch nicht dabei, weiß es aber aus anderen, absolut zuverlässigen Quellen.

Fazit: Hansen ist ein Buch mit hohem Unterhaltungswert gelungen, dessen Gebrauchswert aber aufgrund einiger - in einer späteren Ausgabe größtenteils behebbarer - Patzer als etwas gemindert zu bezeichnen ist, das dem Experten zur allgemeinen Gedächtnisauffrischung in biografischen Fragen, von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, stets gute Dienste leisten wird, dem Einsteiger in der vorliegenden Fassung jedoch nur mit einigen Bedenken empfohlen werden kann.


Titelbild

Richard Wagner: Werke, Schriften und Briefe. CD-ROM.
Herausgegeben von Sven Friedrich.
Directmedia Publishing, Berlin 2004.
49,90 EUR.
ISBN-10: 3898532070

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Walter Hansen: Richard Wagner. "Schönheit, Glanz und Licht muss ich haben" Biographie.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2006.
360 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3423245492

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