Alles nur ein Jammertal?
László Darvasis unerhörte Begebenheiten
Von Daniel Kruzel
Die Bücher Darvasis liefern ihre Einteilung in unterschiedliche - wenn auch fiktive - Gattungen gleich mit. Das letzte Buch "Wenn ein Mittelstürmer träumt" nannte Darvasi seine "persönliche Weltgeschichte des Fußballs". Davor veröffentlichte er Kriegserzählungen, Legenden und chinesische Geschichten. Bei seinem neuen Buch "Herr Stern" handelt es sich, glaubt man dem Untertitel, schlicht und einfach um Novellen. Dieser Band ist eine Zusammenstellung zweier bereits in den 90er Jahren in Ungarn veröffentlichter Bücher. Neu ist lediglich der Text "Das vollkommene Leben des Fernando Asahar".
Im ungarischen Kontext der Gegenwartsliteratur ist Darvasis Werk einzigartig. Er schreibt weder wie György Konrád, noch wie Péter Esterházy oder Péter Nádas. Vielmehr ist Darvasi einer der wichtigsten ungarischen Autoren, die nach der politischen Wende die literarische Bühne betraten.
"Herr Stern" ist in seiner Gesamtkonzeption weniger hermetisch wie "Eine Frau besorgen" oder "Die Hundejäger von Loyang", die einzelnen Novellen sind es aber allemal. Darvasi scheint mit dem Ausspruch Cervantes zu spielen, dass eine Novelle nichts anderes sei, "als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit". Vermutlich hat sich der Autor der Herausforderung gestellt, so viel Unerhörtes wie möglich zu erzählen, ohne die Glaubwürdigkeit preiszugeben. Den zeitlichen und örtlichen Rahmen bieten in den vorangegangenen Büchern beispielsweise das türkisch besetzte Ungarn im 17. und 18. Jahrhundert oder die Jugoslawienkriege der 90er Jahre. Jetzt ist es Bayern im 17. Jahrhundert, Spanien während der Inquisition oder Ungarn um die Jahrhundertwende. Nicht immer werden Ort und Zeit genau benannt. In der Titelnovelle heißt es beispielsweise: "Zu der Zeit, als Herr Stern lebte, waren Heiligenlegenden nicht besonders gefragt. Genausowenig wie die Taten der Heiligen."
Darvasis Texte sind keineswegs genaue historische Beobachtungen, vielmehr dienen die zeitlichen und geografischen Bezüge dazu, eine Form der Gewalt glaubhaft zu machen, die direkt und unumkehrbar ist. Menschen werden gehängt, Familien niedergemetzelt, Gliedmaßen ausgerissen. Manchmal geschieht dies ohne jegliche Erklärung oder ist die Folge einer Rechtssprechung, die mit Gerechtigkeit nichts zu schaffen hat. Durch die unterschiedliche historische Kontextualisierung wird das immer Wiederkehrende universell.
Der Gattung entsprechend spitzen sich alle Novellen auf das Ende hin zu. Sie sind getragen von einem Geheimnis, das sich dem Leser kaum erschließt und dessen Simplizität am Ende doch erstaunt. Deutlich wird: Es gibt eine "Banalität des Bösen".
Darvasi ist - das zeigt sich an allen bisherigen Veröffentlichungen - ein großartiger Schöpfer originärer Erzählwelten. Und dies auf einem unglaublich hohen handwerklichen Niveau. In der Novelle "Kleophas-Comic" beispielsweise werden Bereiche zusammengebracht, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen: Biblisches wird mit Militärischem, Trash mit Hochkultur vermischt. Doch ebenso ist sie eine kleine Kulturgeschichte des Bildes und seiner erzählerischen Möglichkeiten. Ein weiterer Höhepunkt dieses Bands ist "Der gestrenge Vater oder die wahre Geschichte des Wernermädchens." Die Beteiligten in Verbindung zu bringen, ist nahezu unmöglich. Und doch sind die Schicksale der "Lächelmizzi", des Familienmörders János Schwarc, des Fleischermeisters Werner, der Selbstmörderin Ilonka Hoffer und des Bibliothekars Leininger schicksalhaft miteinander verwoben. Im letzten Kapitel dieser Novelle wird die zuvor dekonstruierte Geschichte zusammengesetzt und in Postkartenform linear nacherzählt. Können wir der Absenderin der Postkarten eigentlich trauen? Mit einem Medium, welches das Geschehene erneut zergliedert?
Misstrauen ist in Darvasis Erzähluniversum angebracht. Denn permanent wird versucht, eine jeweilige Wahrheit als die einzig gültige an den Mann zu bringen. Die großen Antagonisten in diesem Novellenband sind Gott und der Schriftsteller, da beide als Schöpfer allmächtig sind. Dabei gibt es kaum einen anderen Gegenwartsautor, der Gott so physisch werden lässt. In den bereits veröffentlichten Büchern Darvasis hat er immer wieder mal seinen Auftritt.
Darvasis Erzählweise ist, auch wenn dieser Begriff nahezu beliebig verwendet wird, postmodern. Keine Utopie, keine gültige Erzählung ist mehr auszumachen. Seine Originalität schöpft er aus dem Zusammenführen der unterschiedlichsten Ebenen. Wie dieses Verfahren funktioniert, wird in der Novelle über das "Wernermädchen" in einer Szene eindrucksvoll demonstriert. Der Ich-Erzähler und die "Lächelmizzi" unterhalten sich während eines Kinofilms. Die Filmhandlung wird mit den Dialogsequenzen aneinandergeschnitten und immer mehr verschmelzen Fiktion und Realität zu einer neuen Wirklichkeit.
Dennoch erzählen Darvasis Novellen auch vom Ende der Postmoderne und von der Rückkehr in das Zeitalter der Ideologien. Und das macht sie so hochaktuell. Zahlreiche Händler versuchen, ihre unhinterfragbare Wahrheit unter Einsatz von Gewalt zu verkaufen. Dem Schriftsteller kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn er kann die jeweilige Ideologie bewerben und sie glaubhaft erscheinen lassen. Ein Gedanke, der bei Autoren Mittel- und Osteuropas sicherlich nicht unwesentlich ist. Noch nicht allzu lange ist es her, dass Schriftsteller sich in den Dienst des Staates stellten oder als Dissidenten opponierten.
Darvasis Novellen gehen nicht spurlos an einem vorbei. Sie berühren, nehmen gefangen, reißen mit in die Tiefe. Eine barocke Sinnlichkeit umgibt sie, so dass die Allgegenwärtigkeit des Todes spürbar wird. Verpflichtet sind sie oralen Erzähltraditionen wie den Märchen, Mythen oder Legenden. Man vermutet einen wahren Kern und kann nicht ausschließen, dass sie sich so oder so ähnlich zugetragen haben. Eine Moral hingegen fehlt ihnen. Nicht nur das Leben ist ein einziges Jammertal, auch im Jenseitigen Erlösung zu finden, erscheint unmöglich. Es sind archäologische Texte, die sich auf die Suche nach dem Verborgenen begeben. Dies lässt sich über alle bisherigen Bücher Darvasis sagen, doch bei "Herr Stern" ist der Blick auf die Welt ein wenig verhangener als bei den Fußball- oder Kriegsgeschichten. Der Humor, der das Leben erträglich macht, ist kaum präsent. Dass die Novellen einen nicht mehr loslassen, liegt natürlich auch an Heinrich Eisterer, der Darvasi ins Deutsche übersetzt. Bereits für die "Legende von den Tränengauklern" erhielten Darvasi und Eisterer den "Brücke Berlin"-Preis des Literarischen Colloquium Berlins. Eine Zusammenarbeit, die mehr als ein Glücksfall ist.
Zu hoffen bleibt, dass Darvasi mal wieder einen Roman vorlegt. Nicht, weil ignorante Rezensensenten dies immer fordern. Doch möchte man einer Stimme, die von Welten erzählt, die völlig fremd und doch so bekannt sind, ein wenig länger lauschen.