Als Friedrich Engels vom Floh gebissen wurde

Der weltanschauliche Anspruch des Marxismus in der DDR und die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften - am Beispiel des Wissenschaftlers Robert Havemann in den Jahren 1956-1962

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christian Sachses verdienstvolle Studie beginnt mit einer präzisen Arbeitshypothese: die bisherigen Darstellungen des Wissenschaftlers und späteren Dissidenten Robert Havemann hatten dessen politisch-philosophische Stellungnahmen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in unzulässiger Weise voneinander getrennt. Christian Sachse unternimmt einen gut fundierten Versuch, die Verzahnung von Havemanns naturwissenschaftlicher Forschung und seinem Engagement als Marxist zu belegen, mehr noch, eine wechselseitige Verbindung nachzuweisen.

Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Robert Havemann sein Spezialgebiet als Physikochemiker entwickelt und ausgebaut. Als Kommunist und Antifaschist im Widerstand war Havemann vom Nazi-Richter Roland Freisler zum Tode verurteilt worden. Als Spezialist für physikalische Chemie war er jedoch zu wichtig für die Nazis. Sie hatten ihm eine Laborzelle eingerichtet, in der er unverzichtbare kriegswichtige Forschungen zu leisten hatte und von welcher aus er im Sinne des Widerstandes tätig zu werden verstand. Davon partizipierte unter anderem der spätere Staatsratsvorsitzende der DDR Erich Honecker, der im selben Gefängnis inhaftiert war.

Für die DDR war Robert Havemann ein idealer Vorzeigekommunist. Seinen internationalen Ruf als anerkannter Wissenschaftler stellte er der DDR bewusst zur Verfügung. Sein Bruch mit dem Stalinismus setzte mit Nikita Chruschtschows Auseinandersetzung mit Stalin während des XX. Parteitags der KPdSU ein. Havemann begann, die philosophischen Ergebnisse der modernen Physik auch auf das marxistische Denken anzuwenden. Seine Vorlesungen "Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme" aus dem Wintersemester 1963/64 bildeten eine Zäsur, die Havemann in einer neuen Weise landesweit bekannt machten.

Denkschemata marxistisch-leninistischer Schulphilosophie wie "Basis-Überbau", "freier Wille" und "Gesetzmäßigkeit" oder "Zufall und Notwendigkeit" konfrontiert Havemann mit den neuesten Forschungsergebnissen der naturwissenschaftlichen Forschung: Eine Herausforderung für ein Regime, dessen Herrschaftsideologie für sich den definitiven Schlüssel für die Interpretation der Geschichte und die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft beanspruchte. Havemann zielte auf den Weltanschauungscharakter des Marxismus, wenn er dessen kritisches Analysepotential zu retten versuchte. Der Sozialismus galt ihm als wünschenswerte Möglichkeit und keinesfalls als unabänderliche Notwendigkeit.

In seinem biografischen Buch "Fragen Antworten Fragen", das Robert Havemann nach der gewaltsamen Niederwerfung des "Prager Frühlings" 1968 geschrieben hat, gliederte er seine Lebenstationen anhand von sich wiederholenden Gesprächen mit Vertretern der Staatssicherheit. Neben seiner Haftzeit, der Befreiung und dem Einsatz für die junge DDR versucht Havemann seinen Vernehmern sein Verständnis des Marxismus als ein kritisches und zum Engagement aufforderndes Denken und Handeln zu vermitteln. Auch philosophische Fragen werden gestreift, die Havemann als Naturwissenschaftler zu beantworten sucht. Das Problem von "Zufall und Notwendigkeit" wird von einem Vernehmungsbeamten jedenfalls eindeutig, ganz im Sinne der marxistisch-leninistischen Parteiphilosophie Havemann gegenüber zur Sprache gebracht: "Wie können Sie als Naturwissenschaftler den Zufall für möglich halten? Sie haben es doch dauernd mit Vorgängen zu tun, die ganz gesetzmäßig ablaufen". Robert Havemann argumentiert listig und zieht zur Absicherung die Schrift "Dialektik der Natur" von Friedrich Engels heran. Dort belustigte sich Engels über die Deterministen, die glauben, "daß dieser bestimmte verwehte Löwenzahnsamen aufgegangen ist und jener nicht, daß mich vorige Nacht ein Floh um vier Uhr morgens gebissen hat und nicht um 3 oder 5, und zwar auf die rechte Schulter, nicht aber auf die linke Wade".

Es gab keinen schärferen Kritiker des "real existierenden Sozialismus" als Robert Havemann - und zugleich hielt er wie kaum sonst jemand den Gedanken einer marxistischen Philosophie samt ihrem emanzipatorischen Ansatz aufrecht. Den Ausspruch von Karl Marx, dass über alles zu zweifeln sei, übertrug Havemann ganz im Sinne angewandter Wissenschaftlichkeit auch auf die konkreten Gesellschaftssysteme des "real existierenden Sozialismus". Darin kam er seinem Freund Lucio Lombardo-Radice, Mathematikprofessor und ZK-Mitglied der italienischen Kommunisten entgegen, dem es ebenfalls darum gegangen war, "den Marxismus auf den Marxismus anzuwenden".

Eine informative Einleitung leistet das Vorwort von Manfred Wilke, der im Auftrag des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin auch Herausgeber dieser Reihe "Diktatur und Widerstand" ist.


Titelbild

Christian Sachse: Die politische Sprengkraft der Physik. Robert Havermann im Dreieck zwischen Naturwissenschaft, Philosophie und Sozialismus (1956-1962).
LIT Verlag, Münster 2006.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3825889793
ISBN-13: 9783825889791

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