Intellektuelle als paradoxe Wesen
Der Sammelband "Zwischen den Fronten" von Ingrid Gilcher-Holtey untersucht intellektuelle Positionskämpfe im 20. Jahrhundert
Von Torsten Mergen
Intellektueller, Akademiker, Verstandesmensch, Geisteskoryphäe, Intelligenzbestie sowie Wolkenkuckucksheimbewohner - im Alltag finden sich viele Synonyme mit positiver wie negativer Konnotation, um dem Phänomen gerecht zu werden, das Ingrid Gilcher-Holtey in Anlehnung an Maurice Blanchot folgendermaßen beschreibt: "Er mischt sich ein in Aktionen, aber er handelt nicht. Sein Medium ist die Sprache, die Macht der Worte. Er verfügt über Macht, obwohl er keine politische Machtposition innehat. Seine Autorität beruht auf dem Ansehen und Prestige, das er außerhalb der Sache, für die er sich einsetzt, gewonnen hat." Entsprechend vielfältig sind die intellektuellen Profile, die Gilcher-Holtey, zur Zeit Lehrstuhlinhaberin für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld, als Ergebnis einer 2005 stattgefundenen Tagung zum Thema "Das literarische Feld - eine Welt für sich? Interdependenzen, Binnendifferenzen und Internationalisierung" vorstellen und herausgeben kann.
Nach einer kurzen begriffsklärenden und problemschärfenden Einführung gliedert sich der Sammelband daher in zwei große Bereiche: "Der Kampf um die Definition, Rolle und Funktion des Intellektuellen" sowie "Transferprozesse, externe Konflikte und ihre Wirkungen auf das literarische Feld". Neben der deutschen Perspektive auf "Eingreifendes Denken" (Bertolt Brecht) und Strategien intellektueller Einmischung am Beispiel der Gebrüder Mann wird eine genuin europäische Sichtweise gewählt. Sowohl die Schweizer Debatte (am Beispiel Adolf Muschgs) als auch die sehr stark soziologie-, beziehungsweise Bourdieu-orientierte französische Schule der Intellektuellenforschung sind vertreten.
Dabei zeigt sich, dass Ingrid Gilcher-Holteys Typologie des Intellektuellen als sehr tragfähig und zielführend gelten kann, unterscheidet sie doch nach Auswertung der relevanten Literatur vier intellektuelle Profile: So ist der "allgemeine" vom "öffentlichen" sowie der "spezifische" vom "kollektiven Intellektuellen" zu trennen. Während der eine Intellektuellentyp als Verteidiger der Wahrheit und der Vernunft firmiert, ist der andere daran ausgerichtet, am öffentlichen Diskurs zu partizipieren und diesen maßgeblich mitzugestalten. Der "spezifische Intellektuelle" versteht sich hingegen im Sinne Foucaults als wissenschaftlicher Experte, der "aufgrund des Wissens, dessen Inhaber er ist, in politische Kämpfe interveniert." Schließlich gibt es die Intellektuellen Bourdieu'scher Prägung: Diesen schreibt er die "Aufgabe zu, sich in die Kämpfe um Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt, das heißt um Wahrnehmungs-, Denk- und Klassifikationsschemata, einzumischen und dafür Kräfte zu mobilisieren."
Dieser Klassifizierung entsprechend wenden sich die sieben Aufsätze des zweiten Teils des Sammelbandes eben jenem Einmischen zu, sei es in Form von Netzwerkbildungen kommunistischer Übersetzer osteuropäischer Literatur in Frankreich oder in Form von Aktionskunst nach 1995 als Antwort auf das Ende der Avantgarde.
Wie immer bei Sammelbänden fällt auch in diesem Fall ein eindeutiges Fazit schwer. Viele interessante, lesenswerte wie lesbare Aufsätze stehen hier neben Aufsätzen, deren Erkenntniswert sich in Grenzen hält. Als besonders lobenswert ist festzuhalten, dass alle Beiträge die (Literatur-) Soziologie am konkreten Material verorten und auf diese Weise auch methodisch solide und mustergültig arbeiten. Entsprechend kann für die weitere Beschäftigung mit Literaten und dem intellektuellen Habitus als gesichert und durch vielfältige Einzelbelege als bewiesen gelten, was Bourdieu zum Thema "Revolutionen, Volk und intellektuelle Hybris" formuliert hat: "zunächst einmal beruht ihre [der Intellektuellen] Beziehung zur Welt auf einer Negation des Materiellen, der weltlichen Interessen. Nicht anders als vorkapitalistische Gesellschaften schließt der Kulturbetrieb unserer Gesellschaften den offen anvisierten ökonomischen Profit aus, verlangt in diesem Sinne eine interesselose Haltung."