Einmal Spion - immer Spion
William Boyd lässt in seinem Thriller "Ruhelos" weder Agenten noch Leser zur Ruhe kommen
Von Jörg von Bilavsky
Sie wechseln ihre Namen, ihre Haarfarbe, ihre Kleidung, ihre Sprache. Das antrainierte Misstrauen werden Agenten bis ans Ende ihrer Tage nicht mehr los. Wenn also eine alte Dame plötzlich mit dem Feldstecher misstrauisch die Gegend auskundschaftet, sich ohne erkennbare Behinderung einen Rollstuhl zulegt oder erst nach einem vereinbarten Klingelcode den Telefonhörer abhebt, dann könnte mehr dahinter stecken als altersbedingte Verwirrung. Zum Beispiel die längst nicht bewältigte Vergangenheit als Agentin des britischen Geheimdienstes, genauer gesagt einer Spezialeinheit, deren Missionen dem Zweiten Weltkrieg eine neue Wendung gegeben haben.
So ungeheuerlich dieser Vorspann auch anmutet, William Boyd lässt ihm einen klug konstruierten Agententhriller mit zeitgeschichtlichem Tiefgang folgen. Wie die Vergangenheit in die Gegenwart hineinspielt, offenbart die alte Dame ihrer nichtsahnenden Tochter in schriftlich fixierten Dossiers. Der Leser wird in dem Roman aber nicht nur Zeuge der abenteuerlichen Aufträge einer ehemaligen Spionin, die eigentlich Eva Delektorskaja und nicht Sally Gilmartin heißt, sondern er darf auch die 35-jährige Ruth Gilmartin dabei beobachten, wie sie das "Coming-Out" ihrer Mutter und ihr ebenso wenig alltägliches Leben verkraftet.
Während Boyd mit sicherem Gespür für Atmosphäre, Plot und Dialoge ein historisch wie sprachlich überzeugendes Spionageszenario der 1940er-Jahre entwirft, bleiben die daran gekoppelten Sequenzen aus dem Alltag der als Sprachlehrerin arbeitenden Tochter eher blass. Dass ein iranischer Schüler, der sie begehrt und ihr deutscher Schwager, die bei ihr Unterschlupf findet, als potenzielle Terroristen verdächtigt werden sollen, ist dann doch zuviel der Geheimniskrämerei. Auch und gerade wenn um der historischen Logik willen 1976 als erzählte Gegenwart herhält. Letztlich muss Ruths Geschichte unspektakulärer ausfallen als die ihrer Mutter. Denn ihre Existenz rechtfertigt sich allein durch das Schicksal und die Pläne ihrer Mutter. Die Vertrauenskonflikte zwischen enttarnter Agentin und enttäuschter Tochter geraten dabei schnell an den Rand der Erzählebene.
Aber dafür ist es umso spannender zu beobachten, wie 1939 eine russische Emigrantin angeworben, dann perfekt ausgebildet und zu gefährlichen Missionen ausgeschickt wird. Der Auftrag ihrer Einheit: Über eine gut getarnte Nachrichtenagentur Falschmeldungen auszustreuen, die den Amerikanern einen triftigen Grund zum Kriegseintritt und damit zur Rettung des europäischen Kontinents geben sollen. Dank ihrer Talente empfiehlt sie sich nicht nur für Sondereinsätze, sondern auch als Geliebte ihres geheimnisvollen Chefs Lucas Romer. Doch als sie merkt, welches Spiel er mit ihr und ihren Kollegen treibt, wird es Zeit zu fliehen. Eine Flucht, die sie zurück nach England in geordnete Verhältnisse, aber nicht zur Ruhe bringt.
Ob sie diese Ruhelosigkeit mit Hilfe ihrer Tochter und eines gerissenen Coups überwinden kann, wird nicht verraten. Klar wird nur, dass das Ende eher unbefriedigend als aufklärend wirkt. Denn bis dahin hat der Autor ungemein viele Fährten gelegt, die reichlich Raum für plausible Spekulationen bieten. Natürlich will Boyd damit auch den Leser nur in Unruhe versetzen. Dass das Schicksal "unsere Sterblichkeit, unsere Menschlichkeit" ausmache, wie Ruth bilanziert, trägt jedoch nicht zur Entspannung bei. So steuert der spannend erdachte und erzählte Thriller am Ende in eine philosophische Sackgasse. Er lässt uns nicht nur ruhelos, sondern auch etwas ratlos zurück.
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