So spannend wie die graue Theorie
Scheitern am Zu-viel-Wollen: Juli Zehs neuer Roman "Schilf"
Von André Hille
Man nehme: Ein halbes Dutzend Wie-Vergleiche, eine mit überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattete Figur, irgendeine Theorie und ganz viel Stimmung - fertig ist eine Seite eines Juli-Zeh-Romans.
Nach "Spieltrieb" und der darin verarbeiteten Spieltheorie folgt nun "Schilf" und die Viele-Welten-Theorie. Aber auch Determinismus, Materialismus, Urknall und Quantenphysik spielen eine Rolle. Juli Zeh, promovierende Juristin, mag Theorien. Und sie mag es, in ihren Romanen so zu tun, als hätte sie sie verstanden, als könne sie sich notfalls bis in tiefste physikalische Tiefen vorrecherchieren und in kürzester Zeit mal eben ein Physikstudium samt Promotion und Habilitation nachholen. Juli Zeh will die Welt im Ganzen begreifen, drunter macht sie es nicht - und scheitert an diesem Anspruch grandios.
Am Anfang von "Schilf" steht eine große Freundschaft zwischen den beiden Physikstudenten Oskar und Sebastian, nein, nicht eine große - die einzige, die wahre Freundschaft. Mit Oskar und Sebastian haben sich, um in der Terminologie des Romans zu bleiben, Teilchen und Antiteilchen gefunden. Wenn sie miteinander diskutieren, hält die Welt den Atem an, ihre Professoren stecken die beiden schon im Grundstudium in die Tasche und wenn sie sich umarmen, ist "die Mischung ihrer Körpergerüche ein unsichtbares Zuhause." Doch bald leben sich die beiden fachlich auseinander. Oskar hängt der Quantenphysik an und Sebastian entscheidet sich nicht nur für die obskure Viele-Welten-Theorie, sondern auch für seine Frau Maike und seinen Sohn Liam.
Doch die Geschichte soll ein Krimi sein. Um Sebastian die Absurdität der Viele-Welten-Theorie zu beweisen, entführt Oskar Sebastians Sohn, der auf dem Weg zum Ferienlager ist. "Doublethink muss weg", lautet die geheimnisvolle Botschaft Oskars an Sebastian beim entsprechenden Entführeranruf und er spielt damit auf George Orwells Roman "1984" an, in dem "Doppeldenk" eine Foltermethode ist. Doch Sebastian versteht "Dabbeling muss weg". Dabbeling wiederum ist Arzt und ein guter (wie gut, bleibt unklar) Freund seiner Frau. Sebastian glaubt tatsächlich, die Tötung Dabbelings sei die Bedingung für die Freilassung des Sohnes und bringt den Arzt auf brutale Weise um. Kommissar Schilf, eine Art schachspielender Columbo, wird von Stuttgart nach Freiburg beordert und löst den Fall innerhalb weniger Stunden dank seiner genialen Intuition.
Die Geschichte ist insgesamt recht dünn, aber dafür randvoll angefüllt mit typischen Juli-Zeh-Bildern. Da ist die Luft "erfüllt [...] von einem Wind, der hoch am Himmel mit Schwalben jongliert", da "gleitet der Sommer als grünblaues Band vorbei" oder es "tragen die Laternen am Rand des Parkplatzes weite Röcke aus Licht." Das grenzt manchmal fast an Nötigung, denn diese Bilder dienen nicht dem Leser, sondern der Selbstdarstellung der Autorin. Es ist, als raunten sie dem Leser permanent zu: "Seht her, wie toll ich die Welt beschreiben kann." Zeh traut ihren Beschreibungskünsten mehr als dem Imaginationsvermögen des Lesers und diese überhebliche Position ist auf Dauer anstrengend.
Es ist dieses Zuviel-Wollen, an dem der Roman auf allen Ebenen scheitert. Die Figuren sind derart eindeutig auf Wirkung hin entworfen, dass allein das sie unglaubwürdig macht. Dabbeling, das Mordopfer, ist ein muskelbepackter "Kerl, dessen Ehrgeiz Stahlbeton zum Schmelzen bringt", Rita Skura, die unbeholfen und unnötig im Roman herumtapsende Kommissarin, die stark an das Mädchen Ada aus "Spieltrieb" erinnert, läuft mit "großen Schritten und wiegt sich dabei wie eine Boje in der Dünung", und der homosexuelle, Kette rauchende und Whisky trinkende Dandy Oskar wäre vielleicht bei einer Vernissage in Soho gut aufgehoben, aber sicher nicht am Cern in Genf. Zeh beschreibt ihre Figuren zu Tode. Seitenweise findet die Autorin Bilder dafür, wie ihre Figuren sind, ohne dieser Beschreibung eine entsprechende Bestätigung durch die Handlung folgen zu lassen.
Wo die Figuren keine Karikaturen sind, sind sie Klischees: "Im satten Licht gehört Maike mehr denn je zu der Sorte Frau, die ein Mann aufs Pferd ziehen will, um mit ihr in den Sonnenuntergang zu reiten." Das ist genauso wenig ironisch gemeint wie: "Beim Lachen lässt sie einen Kaugummi zwischen den Backenzähnen sehen und ist trotzdem unwiderstehlich mit ihren Kinderaugen und dem hellen Haar." Judith Hermann lässt grüßen.
Die Geschichte entfaltet sich nur langsam und ist an den entscheidenden, den tragenden Stellen am dünnsten. Würde der beste Freund, der Bruder im Geiste, Weltmann und Genie, auf eine solch schwachsinnige Idee kommen, den Sohn des geliebten Freundes zu entführen? Würde er ihm über eine Mittelsfrau ausgerechnet "Doublethink muss weg" ins Ohr raunen, so dass Verwechslungsgefahr mit dem Namen Dabbeling besteht, anstatt das deutsche Wort "Doppeldenk" zu verwenden? Würde ein Physikprofessor auf einen vagen Anruf hin tatsächlich in den nächsten Wald stolpern und einen Menschen auf grausamste Weise töten, anstatt am nächsten Tag im Ferienlager anzurufen und zu fragen, ob der Junge nicht doch heil angekommen ist? Die Fragen, die sich die Autorin nicht stellt, stellt sich der Leser. Und "Schilf" lässt eine Menge Fragen offen. Die Geschichte ist sichtbar eine Versuchsanordnung und "vergisst" darüber, auf einer ganz basalen Ebene zu funktionieren, der des gesunden Menschenverstandes.
Und dann gibt es da noch das naturwissenschaftliche Hintergrundrauschen des Romans. Urknall, freier Wille, Materialismus, Determinismus - dieser Roman ist ein Topf, in den die Autorin alles, was sie an interessanten Begriffen aufgestöbert hat, hineingeworfen und einmal kräftig umgerührt hat. Doch diese Begriffe bleiben nichts als Schlagwörter, die soviel mit echter Physik zu tun haben, wie Franz Kafkas "Landarzt" mit dem Medizinerberuf. Pseudophilosophisch, pseudotheoretisch, pseudokriminalistisch - alles ist pseudo an diesem Roman. Zeh hat das Thema anrecherchiert und wirft dem Leser die Brocken hin ("Kopenhagener Deutung", "Dopplereffekt", "Schrödingers Katze"), in der Hoffnung, dass er das Milieu schon schlucken werde. Die durch die Anlage der Figuren versprochenen Diskussionen auf höchstem physikalischen Niveau folgen nie, die Professoren geben kaum mehr als Allgemeinplätze von sich.
Ach ja, eine wichtige Rolle spielt auch das Schachspiel. Der Kommissar hat immer einen kleinen Schachcomputer bei sich und versucht, ihn zu bezwingen. Determinismus versus Intuition, Gut gegen Böse - alles bedeutet etwas in diesem Roman, nur was? Alles nur ein Spiel, ein Kampf? Doch wer kämpft hier gegen wen und wofür? Oder ist das Schachspiel nicht doch nur ein Symbol für die "allwissende" Autorin, die ihre Figuren auf dem Prosabrett bewegt und versucht, eine gute Partie abzugeben? Die Empathie gilt bei Zeh immer nur der eigenen Theorie, nie den Figuren - und das macht diesen Roman so unsympathisch. Dem Ermittler Schilf einen Gehirntumor zu verpassen, ist die beste Idee des ganzen Romans, denn paradoxerweise bringt ausgerechnet dieses todbringende Gebilde Leben in den Text: Die Trauer der Figur beim Abschiednehmen vom Leben. Der Rest ist reine Theorie. Und macht beim Lesen etwa ebenso viel Spaß.
![]() | ||
|
||
![]() |