Gender by Numbers
Andrea B. Braidt untersucht Gender und Genre in der Filmwahrnehmung anhand cineastischer Filmnummern
Von Rolf Löchel
Dienen die Titel wissenschaftlicher Publikationen oft vor allem dazu, das Interesse potentieller LeserInnen durch ein ebenso griffiges wie originelles Wort zu wecken, so klingen deren Untertitel oft trockener, bieten aber einen genaueren Einblick in das behandelte Thema. Dies trifft zumindest zur Hälfte auch auf Andrea B. Braidts Dissertation zu, die im Untertitel eine Untersuchung zu "Gender und Genre in der Filmwahrnehmung" ankündigt, womit klar und deutlich gesagt ist, worum es geht. Nun kann man sich zwar auch unter dem eigentlichen Titel "Film-Genus" durchaus etwas vorstellen, ohne es allerdings sogleich genau fassen zu können.
Das ist allerdings auch nicht erstaunlich, handelt es sich doch um einen von der Autorin geprägten Neologismus, mit dem sie eine der Hauptthesen ihrer Arbeit auf den Punkt bringt. Mit dem Terminus bezeichnet Braidt den "Wahrnehmungszusammenhang" von Gender und Genre für narrative Filme, wobei die Wahrnehmung von Gender über die von Genre "funktioniert", wie eine weitere grundlegende These der Autorin besagt. Denn wie ein Film von den RezipientInnen verstanden werde, hänge zu einem nicht geringen Teil davon ab, über welches "Schema von ,Generizität'" er rezipiert wird. Die Wahrnehmung von Filmen werde also "fundamental davon beeinflusst, ob wir ihn als Western, als Horrorfilm oder als Dokumentarfilm rezipieren." Dies und die "mentalen Modelle", über die das Geschlecht der Figuren wahrgenommen wird - also deren "Geschlechtszugehörigkeit, Geschlechterrollen, geschlechtliche Selbst- und Fremdbilder" - beeinflusse ganz wesentlich, ob sie "plausibel und nachvollziehbar" sind und "zur Identifikation einladen".
Tritt die erste originelle Innovationsleistung der Arbeit bereits im titelstiftenden Neologismus zutage, so lassen weder Titel noch Untertitel die zweite auch nur erahnen. Sie besteht darin, die "Musiknummern" narrativer Filme zu explorativen Analysen des Filmgenus heranzuziehen. Dabei bestimmt sie den Begriff der "Musiknummer" als Filmszene oder -sequenz, "in welcher die Tonspur des Films von einem Musikstück dominiert wird, und zwar typischerweise so sehr, dass der betreffende Filmabschnitt von den RezipientInnen als eine Einheit innerhalb der Narration wahrgenommen wird", wobei das die Musiknummer definierende Musikstück einen Anfang und ein Ende hat und "gewissermaßen einer narrativen musikalischen Logik" folgt, die so von der herkömmlichen Filmmusik unterscheidet. Die derart bestimmten Musiknummern bilden der Autorin zufolge einen "idealen Ausgangspunkt für die Beobachtung jener Wahrnehmungsprozesse", welche die "Schemata zu Film-Genus" beinhalten, denn sie tragen "das Potenzial der Grenzüberschreitung von Gender und Genre" in sich und sind somit "probate Ausgangspunkt[e]" für die "Beobachtung der Funktion der Kategorien", anhand deren sich der Begriff Film-Genus "operationalisieren" lasse.
Braidt intendiert mit der vorliegenden Untersuchung nicht so sehr die Analyse bestimmter Filme um ihrer selbst willen. Vielmehr geht es ihr darum, über diese zunächst "eine Basis für die empirische Erforschung dieses Zusammenhangs zu schaffen." Der erste Teil des Buches bietet theoretische und methodische Auseinandersetzungen mit "Geschlecht und Gattung" und systematisiert wesentliche filmtheoretische Konzepte, die sich mit den Kategorien Gender und Genre befassen. In den vier Kapiteln des zweiten Teils prüft sie ihr Konzept "mithilfe von kulturwissenschaftlichen Theoriemodellen, die alle in unterschiedlicher Form mit dem Phänomen der Transgression umgehen", an je einer Musiknummer aus vier Filmen. Mit dem Theoriemodell der Ikonizität wendet sie sich einer Musiknummer in "Die Another Day" zu (2002), eine weitere aus "Je t'aime moi non plus" (1975) wird mithilfe von Michel Foucaults Heterotopiemodell beleuchtet. Michail Bachtins Theorie des Karnevalesken wird an der zentralen Musiknummer in "Moulin Rouge" (2001) erprobt. Der Rap "Battle Rhyme" aus "8 Mile" (2002) schließlich wird mithilfe von Butlers Performativitätstheorie unter die Lupe genommen.
Die Absolutheit von Braidts Anspruch, eine "Konzeption von Filmwahrnehmung" vorgelegt zu haben, die "für jedwede empirische, filmwissenschaftliche Beobachtung unumgänglich" sei, ist sicher zu hoch gegriffen. Gleichwohl argumentiert sie plausibel für ein "Forschungsdesign", dessen aus den beiden Begriffen Film-Genus und Musiknummer gespeiste Idee besticht. Die Tragfähigkeit dieser Idee kann die vorliegende Arbeit trotz der weithin überzeugenden beispielhaften Filmanalysen zwar nicht abschließend belegen. Doch wäre zu wünschen, dass andere AutorInnen sie aufgreifen und weiter erproben.