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Daniel Dennett zur Evolution der Religion

Von Willem WarneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willem Warnecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die offensichtliche Extravaganz religiöser Praktiken lässt sich streng nach den Begriffen der Evolutionsbiologie klären." Dies ist die These, die Daniel C. Dennett in seinem vor kurzem auch in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen" nachdrücklich und gewohnt selbstsicher vertritt. Wie Richard Dawkins in "Der Gotteswahn" propagiert er einen weiteren Vorstoß naturalistischer Erklärungen: "Anthropologen und Religionshistoriker theoretisieren seit Generationen über Bedeutung und Funktion religiöser Rituale, wobei sie üblicherweise Scheuklappen aufhaben, die den Blick auf den evolutionären Hintergrund versperren." Dennetts Ansinnen ist ambitioniert, sucht er doch eine Institution, die von vielen zum Grundgerüst jeglicher menschlichen Kultur gezählt wird, als bloß einen von vielen evolutionären Auswüchsen zu entlarven und diese dabei auf das ihm gebührende Maß zurechtstutzen. Religiosität sei eben doch nur Mittel, nicht Selbstzweck.

Die im Buch vorgestellte rigorose Sicht- beziehungsweise Forschungsweise, die etwa auch in der einflussreichen lebenswissenschaftlichen Teildisziplin der Soziobiologie anzutreffen ist respektive zum Einsatz kommt, findet sich in den letzten Jahren auch immer stärker in ihrer populärwissenschaftlichen Form und nimmt darüber starken Einfluss auf das Alltagswissen. Schließlich ist durch alle Infotainment-Formate wie auch indirekte Tradierungen zu erfahren, dass unsere Vorfahren die Fähigkeit zum Schwitzen (unter anderem) deswegen erworben hätten, weil sie durch den schlüpfrigen Film auf der Haut für Gegner und gefährliche Tiere - dem in solchen Schilderungen obligatorisch angeführten Säbelzahntiger - schwerer zu fassen gewesen seien als ihre nicht-schwitzenden Artgenossen. Sie lebten somit durchschnittlich länger als jene und konnten sich entsprechend erfolgreicher fortpflanzen, kurz: Sie waren gegenüber jenen im evolutionären Vorteil. Transpirieren und An-Gott-Glauben - dazwischen besteht in der evolutionären Sichtweise kein Unterschied. Bei dieser kommt es letztendlich immer nur darauf an, dass das natürliche (also gänzlich unnötigerweise auch dem jüdisch-christlichen Gott zugeschriebene) Gebot befolgt wird beziehungsweise werden kann: "Seid fruchtbar und mehret Euch!" Auch Religiosität wäre allein zu diesem Zwecke evoluiert, hierzu stellt Dennett einige im Abstrakten verbleibende - nicht einmal für einen Säbelzahntiger reicht es - Szenarien vor.

Aber muss es denn für jedwede Erklärung unbedingt immer genau diese eine Sichtweise sein? Ist sie wirklich der Universalschlüssel zu allen Eigenschaften aller Lebewesen? Scheitert man mit ihr nicht zumindest an einigen kulturellen Errungenschaften des Menschen? "Wie üblich", meint Dennett, "verrät diese Frage einen Mangel an evolutionärer Vorstellungskraft", denn "[d]aß wir Menschen Bedeutungsgewebe spinnen, steht außer Frage, nur können diese Gewebe sehr wohl mit Methoden analysiert werden, bei denen Experimente und strenge naturwissenschaftliche Verfahren eine große Rolle spielen." Dies ist durchaus kein neuer Gedanke, nicht erst Johann Wolfgang von Goethe machte sich indes darüber lustig: "Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, / Sucht erst den Geist herauszutreiben, / Dann hat er die Teile in seiner Hand, / Fehlt, leider! nur das geistige Band."

Vom 'biologistischen' Standpunkt aus ist diese Kritik nicht einmal nachzuvollziehen, in der Tat fehlt vor diesem Hintergrund per definitionem nichts. Dass Einwände jedoch berechtigt sind, sollte sich dem Biologen erschließen, der sich mit der entsprechenden 'chemistischen' oder 'physikalistischen' These konfrontiert sieht: "Biologen theoretisieren seit Generationen über die evolutionären Funktionen von Strukturen und Organen von Lebewesen, wobei sie üblicherweise Scheuklappen aufhaben, die den Blick auf den (rein) chemischen [respektive physikalischen] Hintergrund versperren." Denn interessanterweise fordert Dennett zwar, Religiosität evolutionär zu erklären, sie also auf die biologische Ebene herabzubrechen, hingegen ist gerade er es, der sich (in seinem Buch "Darwins gefährliches Erbe" aus dem Jahr 1995) ausdrücklich gegen einen 'gefräßigen Reduktionismus' verwehrt, der dann vorliege, wenn unsere systemimmanenten Überlegungen "uns dazu verleiten, die Existenz wirklicher Ebenen, wirklicher Komplexität, wirklicher Phänomene zu leugnen."

Daher wäre es ein nicht nur von vornherein aussichtsloses, sondern auch schlicht lächerliches Unterfangen, wenn jemand beabsichtigte, "beispielsweise einen 'Vergleich von Keats und Shelley aus molekularer Sicht' zu schreiben, [...] oder Erklärungen für die Entscheidungen des Obersten Gerichtes unter dem Vorsitzenden Rehnquist unter dem Gesichtspunkt der Entropieschwankungen'." Doch worin besteht eigentlich der konkrete - und dabei alles entscheidende, folglich absolute - Unterschied zwischen diesen hypothetischen Untersuchungen und den in der soziobiologischen Forschung durchaus denkbaren "Vergleich von Islam und Christentum hinsichtlich der evolutionären Fitness ihrer Anhänger" oder der Frage nach dem "Einfluss phänotypischer Variation auf die Ökonomie des Bekleidungsmarkts"? Warum können angeblich die Geisteswissenschaften - von Anthropologie bis Religionsgeschichte - nicht aber die Biowissenschaften mithilfe von Ansätzen 'grundlegenderer' Disziplinen (in weiten Teilen) ersetzt werden? Wie ist sicherzustellen, dass nicht Dennett selbst ebenfalls Scheuklappen trägt?

Mit diesen Unklarheiten in Zusammenhang steht das in mehrerlei Hinsicht problematische Selbst- und Wissenschaftsverständnis, das in "Breaking the spell" präsentiert wird. Unsauber reflektierte Ansichten sowie unqualifizierte, vermessene Äußerungen wie diejenigen Dennetts sind es, die der Philosophie und den Philosophen ein schlechtes Ansehen bescheren. Im folgend angeführten Gedanken stellt er etwa seine Überzeugungen gleich in doppelter Hinsicht als letztgültige dar: Glaubte er "an Poltergeister oder an das Ungeheuer von Loch Ness", so sähe er dies als "peinliche [...] Schramme in meiner ansonsten unfehlbar nüchternen und rationalen Ontologie" an, die es "zu heilen" gelte. Seine Sicht auf die Naturwissenschaften erscheint als von einem mit wissenschaftlichen Mitteln nicht zu rechtfertigenden Glauben an Entscheidbarkeit und Fortschritt geprägt: "[E]in paar besonders heftige [gegenwärtig noch bestehende naturwissenschaftliche Kontroversen] werden sich letzten Endes alle klären, und einige der Theorien werden keine bloßen Theorien bleiben, sondern sich als Fakten erweisen." Woher nimmt er nur diese uneingeschränkte Gewissheit?

Mindestens in puncto Entscheidbarkeit widersprechen sich einzelne seiner Aussagen sogar: "Auch bei den Naturwissenschaftlern gibt es oft Meinungsverschiedenheiten darüber, wie bestimmte unumstrittene und allen zugängliche Daten zu interpretieren sind; für sie beginnt damit jedoch die Lösungssuche: Wer von ihnen hat unrecht?" Hier unterstellt er schließlich, dass die Wahrheitsfrage in den empirischen (Natur-)Wissenschaften immer eindeutig beantwortet werden könne und solle. Hingegen sei die Ökonometrie "ein Feld, in dem zulässige Neuanordnungen der Daten oft erstaunlich andere 'Resultate' liefern, insofern sollte man nicht überrascht sein, wenn Theoretiker verschiedener Überzeugungsrichtungen zu unterschiedlichen Lesarten kommen." Ist es gänzlich verfehlt, Dennett hier Willkür vorzuwerfen?

Wie viele der ihm Gleichgesinnten überschätzt er weiterhin nicht allein den faktischen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften, sondern sogar deren Erkenntnismöglichkeiten, wenn er schreibt: "Die theoretischen Größen, an die jene Stammesmitglieder freimütig glauben - Götter und andere Geister -, gibt es nicht. Diese Leute haben unrecht, und sie [der Leser] wissen das so gut wie ich." Nicht an Gott zu glauben ist schließlich eine Sache - doch woher will Dennett um seine Nichtexistenz wissen?

Auf Thesen, die etwa den phänomenalen Gehalt mentaler Zustände gegen reduktionistische Ansätze zu verteidigen suchen, reagiert er mitunter bloß polemisch: "Sollen wir uns also vielleicht alle in unsere isolierten Enklaven hocken und auf den Tod warten, weil wir einander ja doch nie verstehen können?" Nein. Aber es wäre vermutlich fruchtbar, die Zuständigkeit und Geltung des eigenen Ansatzes nicht einfach aus der eigenen Kurzsichtigkeit heraus für unbegrenzt zu halten. Der 'eigene Ansatz' ist in Dennetts Fall zudem nicht einmal ein genuin biologischer: Seine unzureichenden biologischen Kenntnisse stellt der Philosoph durch Verwendung zweifelhafter oder überkommener Beispiele, etwa aus der klassischen Vergleichenden Verhaltensforschung, mehrfach unter Beweis. Generell macht das bloße Erdenken mehr oder weniger plausibler hypothetischer Nacherzählungen, wie Religiosität evoluiert sein könnte - und mehr kann Dennett von seinem Schreibtisch aus nicht leisten - nur einen Teil der biologischen Arbeit aus. Die Art jedoch, in der er sich auf dieser Grundlage zum Richter über die gesamten Geisteswissenschaften aufschwingt, ist schlicht impertinent zu nennen: "Wenn die Verfechter der Geisteswissenschaften mit der gleichen Energie und Phantasie Evolutionsbiologie und kognitive Neurowissenschaft (und Statistik und den ganzen Rest) studieren, mit der sich die Naturwissenschaftler dem Studium der Historien, Riten und Glaubensbekenntnisse der verschiedenen Religionen gewidmet haben, werden sie würdige Kritiker der Werke sein, die sie fürchten." Zu dieser selbstgerechten Ansicht passt wohl eine Anmerkung Terry Pratchetts: "Mathematically, an almost insignificant amount of living things in Florida call it Florida. But they're the ones who matter. At least, in their opinion. And their opinion is the one that matters. In their opinion."

Auch wenn Dennett aus seiner szientistischen Haltung heraus eine solche Herangehensweise eigentlich unnötig oder gar verfehlt erscheinen dürfte - gerade für solche Methoden rügt er ja die Geisteswissenschaften -, könnte man versuchen, sein Werk in seinem eigenen Kontext zu verstehen. Er schreibt gleich in der Einleitung: "Ich bin ein amerikanischer Autor, und dieses Buch richtet sich in erster Linie an amerikanische Leser. [...] Hätte ich dem Buch nicht einen weniger provinziellen Anstrich geben können?" Die Bewertung des Buches fiele vor diesem Hintergrund milder aus, da es eben als Beitrag zu einer bestimmten populärwissenschaftlich geführten Debatte zu sehen wäre. Die Opponenten sind dabei etwa fundamentalistische Christen, generell Dogmen vertretende Evolutionsgegner, die mitunter auf einer göttlichen Schöpfung der Welt innerhalb von 144 Stunden und vor weniger als 7.000 Jahren bestehen. In diesem in den USA mit harten Bandagen geführten Kampf mag schnell jeder, der die szientistische Position nicht uneingeschränkt teilt - so auch die Vertreter der Geisteswissenschaften -, pauschal zu den (Wissenschafts-)Feinden gerechnet werden: ein Szenario, das in (Kontinental-)Europa, wo die Diskussion von weit moderateren Standpunkten aus und (noch) in gemäßigteren Tönen geführt wird, doch mindestens ziemlich befremdlich wirkt.

Das Schlusswort liefert Dennett in seiner Rezension eines anti-reduktionistischen Buches selbst: "[I]f your hostility to a world view prevents you from taking it seriously, you will be blind to your own blindness. [...] I do not view myself as immune to this disorder. I have tried, and failed, to make sense of a position that is presented as an antidote of sorts to my own world view. I shall bear in mind the possibility that I should simply have tried harder."


Titelbild

Daniel C. Dennett: Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Born.
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2008.
532 Seiten, 28,80 EUR.
ISBN-13: 9783458710110

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