Innovatives Mittelalter

Johannes Fried liefert eine altbackene Darstellung einer durchaus spannenden Epoche

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es nach dem Mediävisten Johannes Fried geht, hat sich das Mittelalter am eigenen Schopf aus dem Sumpf der allgemeinen Barbarei herausgezogen, in die Westeuropa nach dem Niedergang des Weströmischen Imperiums versunken war. Eigenartigerweise erweist sich der Protagonist dieser frühen Kulturrenaissance, die weder von dem damals angeblich blühenden Islam noch von Byzanz beeinflusst schien, selbst als ein Illiteratus, der sich erst im Erwachsenenalter, glaubt man der Überlieferung, das Schreiben angeeignet haben soll.

Weder seine zahlreichen Feldzüge beeindrucken Fried, noch irritieren den lobenden Verfasser die Genozide des ersten Frankenkaisers. Allein die Tatsache, dass Karl der Große in seiner langen Regierungszeit auch unablässig in seinem Reich Bibliotheken gründete und damit das Wissen der Antike zu bewahren half, verschaffen ihm aus seiner Sicht einen gleichrangigen Platz neben den beiden großen gregorianischen Päpsten.

Nicht nur im politischen Rang, auch geistig zog unter der Herrschaft Karls das Frankenreich mit dem eifersüchtigen byzantinischen Reich gleich. Der Germane wird somit zu einer der wenigen Lichtgestalten in dem fast 600 Seiten starken Opus des Frankfurter Emeritus, der den Schwerpunkt seiner Streifzüge durch zehn Jahrhunderte angeblicher Düsternis auf den erstaunlich frühen kulturellen Aufschwung Europas noch vor der Jahrtausendwende legt. Die stolze Dynastie der Staufer dagegen, deren unbestreitbarer Glanz, so durfte man bisher glauben, wenigstens ein bescheidenes Licht in das abgründige Dunkel von Aberglaube und Gotteswahn geworfen hatte, rangieren bei Fried überraschend am unteren Ende der Wertschätzungsskala. Insbesondere den verklärenden Ruhm des der Sage nach im Kyffhäuser thronenden Friedrich Rotbart, der noch dem verbrecherischsten Unternehmen des 20. Jahrhunderts seinen Namen geben musste, kann er nicht nachvollziehen und befindet über ihn kurz und knapp: „Ungebildete Machthaber sind besonders gefährlich.“

Zwar verwirft Fried zunächst wie schon viele andere vor ihm die überlieferte Epocheneinteilung, die alle Unterschiede nivellierend das Jahrtausend zwischen dem Ende Westroms und den ersten transatlantischen Entdeckungsfahrten schlicht als Mittelalter klassifiziert, akzeptiert jedoch schließlich die damit abgesteckten Grenzen, nur um zu zeigen, dass dieses von den späteren Aufklärern als abergläubig und fratzenhaft gescholtene Zeitalter viel mehr war, als nur eine peinliche Lücke zwischen antiker Hochkultur und Renaissance. Tatsächlich erweist sich das Mittelalter bei genauerem Hinsehen, so Fried, als eine eigene und höchst heterogene Epoche, in der viele Entwicklungen technischer und geistiger Art vorangetrieben wurden, ohne welche die spätere Expansion Europas in alle Welt kaum erklärbar ist.

Schon lange vor der Renaissance und dem von ihr initiierten Kulturtransfer aus dem 1453 untergegangenen Byzanz hatte sich in den ehemaligen germanischen Königreichen des Westens eine geistige Revolution vollzogen, in der Denker wie Peter Abaelard und Wilhelm von Ockam in bester aufklärerischer Manier das überlieferte theologische Weltbild in Frage stellten und sogar bereits die Grundlagen der späteren experimentalen Wissenschaft legten.

Für Fried war das so genannte Mittelalter sogar ein geistiger Riese, auf dessen Schultern ahnungslos die gefeierten Aufklärer saßen. War es doch, so sein beherzter Anwalt, „reifer und weiser, neugieriger, erfindungsreicher und kunstsinniger, revolutionärer im Vernunftgebrauch und Denken“ als eben jene die Nase rümpfenden Literaten des 18. Jahrhunderts ahnten und auch noch das beginnende 21. Jahrhundert meint.

Allerdings weist das von Fried so euphemistisch gezeichnete Bild des Mittelalters, das doch eigentlich anders heißen müsste, auch einige historiografische Schieflagen auf. So erwähnt er die Italienzüge des ersten Frankenkaisers nur mit milder Gleichgültigkeit, verdammt aber genau dieselbe Politik des Staufers Friedrich I. als „längst überholte Idee“, weswegen der so Gescholtene dann auch historisch gescheitert sei. Dabei übersieht der Verfasser jedoch, dass die antike Reichsidee, die hinter den deutschen Italienzügen stand, nur vor der Folie eines von ihm allzu modernistisch konstruierten Mittelalterbildes als überholt erscheint. Überhaupt ruht dieses Bild höchst einseitig auf den literarischen Errungenschaften der Zeit, die Fried mal mehr oder weniger ausführlich in Paraphrasen referiert. Ganze Kapitel seines Buches lesen sich wie eine Literatur- und Philosophiegeschichte, während er sozialgeschichtliche Entwicklungen wie etwa das Wiedererblühen der Städte oder technische Fortschritte wie Uhr und Wasserrad nur am Rande behandelt und dabei zu übersehen scheint, dass die Weisheiten seiner gelehrten Helden eben nur selten über die Schwelle ihrer Studierstuben in die Welt hinaus gelangt sind. Was aber hat es mit der von Fried gefeierten angeblichen mittelalterlichen Rationalität zu tun, wenn Jahrhunderte lang Scharen von reliquiengläubigen Pilgern über die Pyrenäen nach Nordspanien strömten?

Es ist schon irritierend, wenn Fried darüber mit seltsamem Stolz vermerkt, Santiago de Compostela sei „noch heute eine hochragende Burg des Glaubens inmitten anbrandenden Unglauben.“ War aber nicht bis heute das Vehikel eines anbrandenden Unglaubens stets die Kritik, die sämtliche Scheingewissheiten unterminierte? Von Frauen ist in Frieds Mittelalter, abgesehen von dem kurzen Kapitel über Jeanne d’Arque, nur beschämend wenig die Rede. Über Abaelards Liebschaft mit Heloise heißt es nur trocken: „Es war, wie gesagt, unerhört.“ Eleonore von Aquitanien sieht sich auf ihre Rolle als Mutter des Kreuzfahrers Richard Löwenherz reduziert und den Namen der Hildegard von Bingen findet man nicht einmal im Personenregister. Darüber hinaus wirkt der Text an manchen Stellen recht altertümlich, wenn Fried etwa wiederholt von „Buhlschaften“ spricht oder gar von einer „den Buckel senkenden Idonität“.

Trotz dieser Widersprüche im Detail wird man der Substanz seiner Argumentation zustimmen können: Das so genannte Mittelalter war erstaunlich schöpferisch und innovativ, wenn man regionale Unterschiede berücksichtigt, doch wirklich neu ist diese Erkenntnis nicht und findet sich überdies in vielen vergleichbaren Publikationen eleganter und überzeugender dargestellt.

Titelbild

Johannes Fried: Das Mittelalter. Geschichte und Kultur.
Verlag C. H. Beck, München 2008.
606 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783406578298

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