Massenmord und Vaterlandsliebe

Kathrin Orths Analyse der Konzentrationslager-SS

Von Sven KuttnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Kuttner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als eine der zentralen Forschungskontroversen über die NS-Zeit kann die Frage nach der Motivation von nationalsozialistischen Straftätern gelten. Auf den bislang gegebenen Antworten, seien sie herrschaftssoziologisch inspiriert, seien sie pauschal formuliert wie Daniel Jonah Goldhagens These vom "eliminatorischen Antisemitismus", lastete durchweg ein methodisches Manko: ihre Ergebnisse waren empirisch kaum gesättigt. Trotz der disparaten, von der Autorin auch explizit problematisierten Quellenlage ist Karin Orth eine beeindruckende Studie zur Konzentrationslager-SS gelungen, die nicht zuletzt aufgrund ihrer empirischen Ausrichtung die Forschungslücke zu schließen vermag. Im Zentrum ihrer Untersuchung stehen keine individuellen Charakterbilder, sondern die soziale Praxis der Führungsgruppe in den Konzentrationslagern. Der erste Teil ihres Buches beschreibt zunächst die Rahmenbedingungen anhand einer Zusammenfassung der Geschichte der Konzentrationslager, um vor dem Entstehungshintergrund und der Ausweitung des Terrorsystems den Blick auf die Lager-SS richten zu können. Dabei geht sie der Frage nach, inwieweit sich die von der NS-Forschung vermutete Expertengruppe der Konzentrationslager-SS empirisch überhaupt nachweisen lässt. Der zweite Teil der Studie untersucht exemplarisch neun Werdegänge. Die Analyse gliedert sich dabei in fünf chronologisch strukturierte Abschnitte. Thematisiert werden der Lebensweg bis zum Eintritt in die Lager-SS, die Ausbildung im SS-Staat, die Übernahme von Führungspositionen, das Verhalten während der enormen Expansion des KZ-Systems in der zweiten Kriegshälfte sowie beim Zusammenbruch des NS-Regimes und das Schicksal nach 1945.

Vor allem kann die Autorin trotz der schwierigen Quellenlage nachweisen, dass nicht Reflexion und Diskussion, sondern die gemeinsame Sozialisation sowie Dienstausübung die verbindlichen Vorstellungen und Handlungsmaximen darüber bestimmten, wie ein Konzentrationslager zu führen sei und wie die Behandlung der Häftlinge auszusehen habe.

Als kollektive Zäsuren des ausgeübten Terrors und Momente der Gruppen- wie Identitätsbildung erwiesen sich der jeweils erste Mord in den frühen Lagern, die systematische Einübung von Erniedrigungs- und Misshandlungstechniken sowie das eigenhändige Töten einzelner Häftlinge in Theodor Eickes "Dachauer Schule", die Gewaltexzesse gegen jüdische Bürger, die im Zuge des Novemberpogroms 1938 in die Konzentrationslager verschleppt wurden, und nicht zuletzt die beiden planmäßigen Massenmordaktionen des Jahres 1941, nämlich die unter dem Tarnnamen "14f13" erfolgte Ermordung kranker KZ-Häftlinge und die Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Führungsspitze der Konzentrationslager-SS zu einer homogenen Gruppe von Mordexperten entwickelt. Potentielle Hemmungen bestanden nun nicht mehr: In der zweiten Kriegshälfte ließen die untersuchten Männer Hunderttausende KZ-Häftlinge im brutalen Zwangsarbeitseinsatz umkommen oder absichtlich verhungern und organisierten den Mord an den europäischen Juden. Vor allem durch den antisemitischen und rassistischen Grundkonsens innerhalb der Lager-SS, der durch die gemeinsame verbrecherische Tat immer wieder neu begründet wurde, wusste der einzelne, welche Erwartungen die Gruppe an sein Handeln stellte.

Die von Orth analysierten Männer bezogen ihr handlungsleitendes Wissen in erster Linie aus dem "gesunden Menschenverstand", der als eigenständige Kategorie in den Personalberichten regelmäßig abgefragt und stereotyp mit der Formel "vorhanden" attestiert wurde. Gerade diese Kategorie beschreibt, wie die Autorin stringent herausarbeiten kann, die Orientierung an Grundsätzen, die zum einen die SS-Gemeinschaft als normal und unhinterfragt gültig empfand, zum anderen reflexionslos reproduzieren konnte. Der Rückgriff auf theoretische Maxime oder außerhalb der Gruppe verankerte Normen erschien ihnen hingegen als ebenso unnötig wie hochgradig suspekt. Mit der Analyse der facettenreichen wie handlungswirksamen Konstituierung eines sich nach außen abgrenzenden Gruppenkonsenses, an dem die SS-Angehörigen ihr Verhalten gleichsam reflexartig orientierten, liefert Karin Orth einen zentralen Schlüssel zum Verständnis der Konzentrationslager-SS.

Während es einem erheblichen Teil der NS-Eliten gelang, sich relativ ungefährdet und ohne einen gravierenden sozialen Abstieg in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu etablieren, wurde die Mehrheit der Führungsgruppe der Konzentrationslager-SS für ihre Verbrechen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen, galt sie doch in hohem Maße als Symbol für die Greueltaten des Nationalsozialismus. Nach dem Zusammenbruch des Gewaltregimes und vor Gericht mit ihren Verbrechen konfrontiert, versuchten die meisten Delinquenten ihre "Anständigkeit" und ihr "tadelloses Auftreten" immer wieder herauszustellen. Indem sie sich auf diese Weise als ideale SS-Führer stilisierten, vermochten sie immerhin zu behaupten, sie würden sich nicht als gewissenlose Mörder, sondern als treue und vaterlandsliebende Soldaten fühlen, die nur Befehlen gehorcht hätten. Wie brüchig diese Lebenslüge im einzelnen auch immer gewesen sein mag, zieht sie sich doch wie ein roter Faden durch die Selbstwahrnehmung der Gruppe nach 1945. Vor Galgen und Gefängnis hat diese Exkulpationsstrategie die meisten Angehörigen der Lager-SS nicht bewahrt, wie Karin Orth abschließend darlegt, die mit ihrer ebenso gut lesbaren wie sehr kenntnisreichen Studie einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des SS-States geleistet hat.

Titelbild

Karin Orth: Die Konzentrationslager-SS. Sozialstrukturelle Analysen und biographische Studien.
Wallstein Verlag, Göttingen 2000.
336 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3892443807

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