Text, Kritik und Welt

Edward W. Saids Essaysammlung

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kritik (von griechisch kritein) heißt zunächst einmal "sondern, scheiden", also differenzieren. Wer differenzieren will, muss über Kenntnisse verfügen. In seiner Essaysammlung von 1983, die mit anderthalb Dezennien Verspätung nun auch auf Deutsch erschienen ist, geht der Literaturkritiker und Orientalist Edward W. Said mit der Kritik hart ins Gericht: die heutige Kritik sei provinziell. Sie bestätige nur die Werte der Kultur, statt sie infrage zu stellen. Sie sei bedeutungslos, weil sie die Welt hinter den Texten nicht mehr wahrnehme.

Said ist ein leidenschaftlicher Essayist. Der Essay hat für ihn die Aufgabe, die Literatur sowohl der "allgemeinen Leserschaft" wie auch der akademischen Kritik zu erschließen. Die gängige Praxis, der "künstlerischen Isolation" und "ästhetischen Exklusivität" das Wort zu reden, lehnt er ab. Texte, sagt er, brauchen das öffentliche Forum, benötigen Rezeption, Anerkennung und Widerstand.

Kritik lässt er daher nicht nur der schönen Literatur (von Thomas Mann, Swift, Conrad), sondern auch den Essays und Studien herausragender (Literatur-) Theoretiker (wie Derrida, Foucault, Lukács) angedeihen. Theorie ist für Said ebenso originäre Schöpfung wie Literatur und Kunst - und nicht einfach nur "Wiederholung". Das Gegensatzpaar von Originalität und Epigonalität hat für seinen Textbegriff eine fundamentale Bedeutung, denn es soll zeigen, dass Kritik ohne Geschichte undenkbar ist. Das Kapitel "Über die Wiederholung" beschäftigt sich u. a. mit Giambattista Vico. Für Vico ist Menschheitsgeschichte etwas Erzeugtes, Produziertes und Reproduziertes. Wiederholungen sichern "das Feld des Handelns", verleihen der Wirklichkeit Bedeutung durch Erfahrung, geben ihr Form und Identität. Said formuliert hier, indem er die Verästelungen von Vicos Konzept bis in die Moderne verfolgt, eine "Genealogie des Wissens", die auf seinen kritischen Grundsätzen fußt. "Wiederholung" und "Wandel" bekommen eine neue Bedeutung, wo die Kontinuität der Geschichte infrage steht und wo - mangels Kritik - Provinzen des Geistes entstehen.

Titelbild

Edward W. Said: Die Welt, der Text und der Kritiker. Aus dem Englischen von Brigitte Flickinger.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
312 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3100710061

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