„Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben.“
In „Ringelblums Vermächtnis“ zeichnet Samuel D. Kassow nicht nur das Leben des jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum nach
Von Jens Zwernemann
Dass es immer wieder gelte, gegen das Vergessen gerade der dunklen Kapitel der Geschichte anzuschreiben, um diese dadurch der Nachwelt überliefern zu können, ist eine Vorstellung, die jeder schon so oft gehört haben dürfte, dass sie einem mittlerweile zunächst fast wie eine Platitüde erscheinen mag. Welch schier unvorstellbare Anstrengungen und Risiken Männer und Frauen aber tatsächlich auf sich genommen haben, um ihre Schicksale zu dokumentieren, davon legen nicht zuletzt die zahlreichen zeitgenössischen Versuche, die Gräuel der Shoah aufzuzeichnen, ein erschütterndes Zeugnis ab: So verfasste etwa Gusta Davidson Draenger, die Insassin einer Todeszelle im Krakauer Gefängnis, ein Tagebuch auf Toilettenpapier, und Zalman Gradowski, Mitglied eines „Sonderkommandos“ im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, notierte Gespräche, die er im Vorraum der Gaskammern mit den Opfern geführt hatte, und vergrub seine Notizen anschließend auf dem Lagergelände.
Dabei, so konstatiert Samuel D. Kassow in seinem Band „Ringelblums Vermächtnis“, sei es den Schreibenden zum einen darum gegangen, sich ihrer eigenen Identität und Individualität zu versichern und diese auch anderen zu kommunizieren; zum anderen zielte dieses Schreiben in einer für die einzelnen ausweglosen Situation aber auch auf zukünftige Entwicklungen: „Schreiben hieß, die Niederlage der Mörder zu vollenden, indem man sicherstellt, dass künftige Historiker unter Berufung auf die Schreie der Opfer die Welt verändern.“
Kaum einer dieser Versuche, die Stimmen der Opfer zu bewahren, war jedoch so großangelegt und geplant wie das „Oyneg-Shabes-Archiv“, das unter der Ägide des jüdischen Historikers Emanuel Ringelblum zwischen Ende 1939 und 1942 im Warschauer Ghetto entstand. Ringelblum hatte sich bereits vor der nationalsozialistischen Okkupation mit der Sozialgeschichte der polnischen Juden beschäftigt und dabei versucht, anhand unterschiedlichster Dokumente und Überlieferungen, insbesondere das Alltagsleben zu dokumentieren.
Dieses „Rohmaterial“ sollte von so genannten „zamlers“ beschafft werden, die sowohl religiöse als auch säkulare Zeugnisse jüdischen Lebens in Polen sammeln sollten. Dieses Prinzip wurde auch zur Grundlage des „Oyneg-Shabes-Archivs“, das seinen Namen (wörtlich: ‚die Freude des Sabbats‘) dem Umstand verdankte, dass sich Ringelblum und seine zeitweilig rund 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen lediglich drei den Holocaust überlebten, gewöhnlich an Samstagnachmittagen trafen.
Gesammelt und archiviert wurden Aufsätze und Berichte über das Leben im Ghetto ebenso wie Tagebücher und Briefe, aber später zunehmend auch Testamente. Ging es den Historikern zunächst darum, so Kassow, „eine ‚verwertbare Erinnerung‘ für ein lebendes Volk zu erstellen“, so verschob sich mit der wachsenden Gewissheit der baldigen Ermordung die Motivation zur Fortführung der Arbeit: „Ringelblum führte die Arbeit an dem Archiv selbst dann weiter, als alles verloren schien, und zwar aus einem zusätzlichen Beweggrund: sein unauslöschliches Vertrauen darauf, dass nichts unbedeutend war. Die endgültige Kapitulation hätte geheißen, daran zu scheitern, das zu beobachten und aufzuzeichnen, was sich abspielte.“
Als er die kostbaren Dokumente im Juni 1942, kurz vor der sogenannten „Großen Aussiedlung“ des Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka, in Blechkisten und Milchkannen verstecken und vergraben ließ, war es daher auch Ringelblums größte Sorge, dass das Archiv vielleicht nie mehr gefunden und somit von der Nachwelt auch nicht zur Kenntnis genommen werden könnte: „Wenn keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben.“
In seinem, im Original unter dem Titel „Who Will Write Our History? Emanuel Ringelblum, the Warsaw Ghetto, and the Oyneg Shabes Archive“ erschienenen Band schildert Samuel D. Kassow nicht nur das Leben des eponymen Historikers; der Methode Ringelblums nicht unähnlich, versammelt der Autor eine Vielzahl unterschiedlicher Zeugnisse zur Geschichte des Archivs, des Warschauer Ghettos, der Geschichte des polnischen Judentums ebenso wie zur Vita, den politischen Überzeugungen und der Arbeit Emanuel Ringelblums. Das Resultat ist ein facettenreiches, in der Fülle der präsentierten Informationen die Leserinnen und Leser durchaus zuweilen auch forderndes Buch, dessen Lektüre allen Geschichtsinteressierten unbedingt angeraten sei.
![]() | ||
|
||
![]() |