Die Brücke über die Droja

Der Roman „Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens“ von Anila Wilms ist ein historischer Balkan-Thriller mit Gegenwartsbezug

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Albanien am Anfang des 20. Jahrhunderts: Der Krise des lange Jahrhunderte herrschenden Osmanischen Reiches folgt in den Balkanprovinzen eine bedrohliche Anarchie, die zu Bestrebungen führt, einen unabhängigen Nationalstaat zu gründen. Der Erste Weltkrieg bringt durch Machtansprüche aller Anrainerstaaten bürgerkriegsähnliche Zustände ins Land. Erst 1920 wird Albanien, durch die Aufnahme in den Völkerbund, als souveräne Macht anerkannt. Nun streiten Großgrundbesitzer, Stammesführer und Kirchenoberhäupter um Einfluss und Regierungsvorsitz. Das instabile, arme Land ohne Infrastruktur und Bildungssystem durchlebt zahlreiche Machtwechsel. Hier beginnt, im April 1924, der Roman von Anila Wilms.

Irgendwo in den Nordalbanischen Bergen, durch die geografischen Gegebenheiten von der Außenwelt abgeschottet, werden auf einer Brücke zwei Amerikaner aus dem Hinterhalt erschossen. Dort, wo der mittelalterliche Ehrenkodex, der Kanun, dessen Säulen Gastfreundschaft und Blutrache sind, bis heute tief im Denken und Handeln der Menschen verwurzelt ist, werden fremde Gäste ihres Lebens beraubt. Ein Skandal mit Folgen.

In der aufstrebenden Stadt Tirana bricht auf den Straßen Panik aus. Gerade hatte die Kunde von großen Ölvorkommen in Albanien großes internationales Interesse geweckt. Sogar Amerika hatte endlich einen Gesandten geschickt. Und jetzt das: ein schwerer Bruch des Kanun. Hatte nicht das Attentat von Sarajevo gezeigt, wohin so etwas führen kann?

Anila Wilms, 1971 in Tirana geboren, studierte dort Geschichte und Philologie und kam 1994 als DAAD-Stipendiatin nach Berlin, wo sie seither als Autorin und Publizistin lebt. Als Historikerin widmet sie ihren Debütroman nicht ihrer eigenen Kindheits- oder Migrationserfahrung, wie viele vor und sicher auch nach ihr, sondern einer historischen Begebenheit in ihrem Herkunftsland.

Albanien in den frühen 1920er-Jahren, geprägt von levantinischen Intrigen, babylonischer Vielfalt, durch die zahlreichen zurückgekehrten Exilalbaner und einem Alltagsleben „wie zu Noahs Zeiten“. Eine Männergesellschaft mit orientalisch-balkanischem Flair, Aberglauben, Flüchen, Gerüchten, Kaffeehausdiplomatie, „gerade mal 37 Seemeilen entfernt von Italiens Küste“. Aus Sicht des amerikanischen Gesandten Grant, seiner neugierig beobachtenden Fremdperspektive, bekommt der Leser Einblick in ein Land, seine Kultur, Geschichte und die Mentalität seiner Bewohner. Durch ihn erlebt man eine Reise in ein unbekanntes Land, er informiert sich zuvor, nutzt allerlei Quellen zur Vorbereitung seines Einsatzes. Er lernt die Mächtigen und nach Macht Strebenden mit ihren Zielen kennen, denn er hat einen Auftrag: Er soll seinem Heimatland die Ölvorkommen sichern.

Vieles erscheint bekannt: die wirtschaftlichen Interessen der Großmächte, die überzogenen, temperamentvollen Reaktionen der Einheimischen. Die „moralische Verwirrung“, das Chaos, das ausbricht, wenn Fremde versuchen, „im Namen des Fortschritts Gott zu spielen, den hiesigen Menschen unsere Ordnung aufzudrängen“, wie es Professor Martignac, mit Sondermission des Völkerbundes in Albanien, Mr. Grant erklärt. Sind es also die Fremden, die Westmächte, die die Schuld tragen?

Anila Wilms Roman ist sicher literarisch nicht mit Ivo Andrićs im Titel angedeuteten Klassiker vergleichbar, aber auch sie schafft es, mit ihren Beschreibungen in die Tiefe zu gehen und Verständnis für den ewig brodelnden Balkan zu erreichen. Die Brennpunkte der Gegenwart: Bosnien-Herzegowina und der Kosovo, stehen in dieser schrecklichen Tradition, auch dort geht es um Macht, Identität, Religionen, Geld und nicht selten wird dem Westen, der aus seiner Sicht glaubt, alles für eine friedliche Lösung zu tun, vorgeworfen, für den Konflikt verantwortlich zu sein. Lebensnah sind die Diskussionen, Bilder und Figuren, auf den Punkt gebracht die kritischen Anmerkungen: „Unter Freiheit versteht es [das Volk] Gesetzlosigkeit“.

Der Mordfall und seine Aufklärung, die politischen Folgen, das diplomatische Taktieren und der Alltag in einem gebeutelten Kleinstaat Südosteuropas – der Autorin ist eine Mischung aus Spannungs- und historischem Roman gelungen. Nicht ohne dem Leser einfühlsam ihr Herkunftsland und seine Kultur nahe zu bringen, ist ein lesenswerter Landeskunde-Thriller für Neugierige oder Balkanfans entstanden.

Titelbild

Alina Wilms: Das albanische Öl oder Mord auf der Straße des Nordens. Roman.
Transit Buchverlag, Berlin 2012.
170 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783887472795

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