Die asketische Revolutionärin
Liliana Kern beschreibt in ihrem Buch „Die Zarenmörderin“ den Lebensweg Sofja Perowskajas
Von Jörg Auberg
„Die Bombe, die am 1. März 1881 den Selbstherrscher aller Reußen, den Zaren Alexander II. von Rußland zerriß, wirkte in ganz Europa wie ein Signal“, konstatierte Hans Magnus Enzensberger in seiner Essaysammlung „Politik und Verbrechen“ (1964). Die Attentäter wurden zu Legenden in den Erinnerungen der nachgeborenen Revolutionäre, aber Sofja Perowskaja überragte sie alle. Sie war die organisatorische Supervisorin des Attentats, die in der revolutionären Mythologie des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts zur märtyrerhaften Heldin der Freiheit verklärt wurde, die dazu beitrug, die Welt von einem Tyrannen zu befreien. Für Alexander Berkman, der 1892 während eines erbitterten Streiks in Pennsylvania „im altmodischen russischen Stil“ (wie Paul Berman in der Manier eines missgelaunten Geschichtskritikers monierte) den „Räuberbaron“ Henry Clay Frick mit einem Revolver niederstreckte und dafür vierzehn Jahre hinter Gittern verbrachte, gehörte Perowskaja zu den „perfekten Genossinnen“, die zuweilen innerhalb der revolutionären Zirkel stärker als die Männer gewesen seien, wie er in seinen „Gefängniserinnerungen eines Anarchisten“ (1912) schrieb.
Sofja Perowskaja, die „asketische Revolutionärin“ (wie sie ihre Genossin Vera Figner charakterisierte), wurde vor allem deshalb als heroische Kämpferin für die soziale Revolution verehrt, weil sie als erste weibliche Aktivistin ihre Aufopferung gegen das zaristische Regime mit dem Tod durch Erhängen bezahlte. Jenseits der Glorifizierung beschreibt die Journalistin Liliana Kern in ihrem Buch „Die Zarenmörderin“ den Lebensweg Sofja Perowskajas, wobei sie sich nicht allein auf das Biografische beschränkt, sondern auch die politischen und historischen Hintergründe im Blick hat.
Im Jahre 1853 wurde Perowskaja in eine russische Adelsfamilie geboren. Ihr Vater war zeitweilig Generalgouverneur von St. Petersburg, doch fiel er später in Ungnade des Zaren, als er im Anti-Terror-Kampf versagte, und allmählich löste sich die Familie im Zerfall auf. Im Alter von 16 Jahren besuchte Perowskaja „Frauenkurse“, wobei sie in Kontakt mit revolutionären Ideen und Zirkeln kam. Die Folge war der Bruch mit dem Vater, den sie für das Scheitern der Familie verantwortlich machte. 1874 wurde sie wegen konspirativer Tätigkeiten festgenommen, und vier Jahre später schloss sie sich der populistischen Partei „Land und Freiheit“ an. Nach einer weiteren Verhaftung gelang ihr die Flucht, und als „Illegale“ kümmerte sie sich um politische Häftlinge. Im Jahre 1879 spaltete sich die Partei „Land und Freiheit“ in einen „legalistischen“, reformerischen und einen klandestinen, terroristischen Flügel, der unter dem Namen „Narodnaja Wolja“ („Wille des Volkes“) firmierte. Diese Gruppe organisierte schließlich auch nach zwei Fehlversuchen das erfolgreiche Attentat gegen Alexander II., wobei Perowskaja die logistische Leitung übernahm, nachdem andere Führungskader (wie etwa Andrej Scheljabow) bereits im Vorfeld der Aktion verhaftet worden waren.
Die Stärke des Buches liegt in der Beschreibung der Aktivitäten der „Narodniki“, die als Keimzelle eines gut meinenden Revolutionarismus galten und als Urbild eines revolutionären Messianismus fungierten. Junge Aktivisten und Aktivistinnen, die häufig der privilegierten Klasse entstammten, wollten die Bauern vom Joch des Zaren befreien, doch die Unterdrückten wehrten sich oft gegen die Emanzipation und denunzierten die Revolutionäre. Zum anderen rekonstruiert Kern aufschlussreich die Rivalitäten der Revolutionäre im Kampf um die Vorherrschaft in der revolutionären Partei, die den Konflikt um Macht und Gewalt späterer revolutionärer Organisationen antizipiert.
Leider gelingt es Kern nicht, den historischen Stoff politisch zu durchdringen. Bereits in den Zirkeln der „Narodniki“ etablierte sich der Typus des Berufsrevolutionärs, der durch Manipulation seine Interessen durchzusetzen versuchte und vor allem daran interessiert war, als Racket zu triumphieren. Die Fragwürdigkeiten des klandestinen Rackets sind Kern nicht bewusst, da sie das Geschehen vor allem aus der biografischen Perspektive beschreibt und die Figuren wie in einem Theaterstück aus dem 19. Jahrhundert mit eindeutigen Klassifikationen auftreten lässt. Einblicke in die widersprüchlichen Strukturen des russischen Anarchismus fehlen ihr. So taucht Sergej Netschajew nur als „Bakunins ,großartiger Fanatiker, gottloser Gläubiger‘“ auf, ohne dass sie die Konfliktlinien zwischen diesen beiden berücksichtigt.
Stattdessen verliert sich Kern in einer fragwürdigen Psychologisierung ihrer Protagonistin. „Die Liebe zu einem Terroristen brachte Sofja Perowskaja an den Galgen“ heißt es im Umschlagstext, der den Inhalt des Buches – Perewoskaja rebellierte gegen die russische Gesellschaft seit ihrem 16. Lebensjahr – konterkariert. Den politischen Inhalt negiert Kern selbst mit dem fragwürdigen Resümee, dass Perowskaja „letztendlich den patriarchalischen Russen der absolutistischen Ära, den despotischen Mann“ (verkörpert durch den Zaren, den Vater und ihren Geliebten Scheljabow) töten wollte, „dessen Symbolfigur par exellence Alexander II. verkörperte“. Diese Interpretation negiert nicht allein den politischen Charakter der Revolte Perowskajas, sondern wird am Ende der Erzählung vollkommen unschlüssig vor dem Leser ausgebreitet. So endet das Buch wie ein schlechter Kriminalroman.
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