Impulse zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen
Das Hamburger Institut für Sozialforschung würdigt in dem Band „NMT – Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung“ die Bedeutung der Nürnberger Prozesse
Von H.-Georg Lützenkirchen
Wenn vom „Nürnberger Prozess“ die Rede ist, dann ist jenes Verfahren gemeint, das vom November 1945 bis Oktober 1946 gegen führende Repräsentanten des NS-Regimes durchgeführt wurde. Vor dem International Military Tribunal (IMT) mussten sich 24 „Hauptkriegsverbrecher“ verantworten. Die Angeklagten repräsentierten den zentralen Machtapparat des Naziregimes, so wie er sich den damaligen Erkenntnisse offenbarte. Auf der Anklagebank saßen Vertreter der NS-Führung, des Militärs, der Wirtschaft und Propaganda, des Reichssicherheitshauptamts und der Terroreinrichtungen in den kriegsbesetzten Gebieten. Die eigentlichen Hauptangeklagten Adolf Hitler, Propagandachef Joseph Goebbels und SS-Chef Heinrich Himmler hatten sich durch Selbstmord der Verantwortung entzogen. Als höchster Repräsentant des Regimes saß daher Hermann Göring auf der Anklagebank.
Weitgehend unbekannt ist, dass das Nürnberger Verfahren vor dem IMT am Beginn einer Reihe von Prozessen stand, die in der Zeit von Dezember 1946 bis April 1949 in Nürnberg durchgeführt wurden. In dieser Zeit wurden vor dem Nuernberg Military Tribunal (NMT) elf „Fälle“ verhandelt. Zwei Prozesse betrafen die Medizin: der „Medizin-Prozess“ und der nach dem Hauptangeklagten Erhard Milch benannte „Milch-Prozess“. Ein Prozess galt der Justiz. Zur rassistischen Vernichtungspolitik wurden drei Prozesse geführt, darunter der „Einsatzgruppen-Prozess“ gegen ehemalige SS-Führer, die als Kommandeure der Einsatzgruppen angeklagt waren. Ebenfalls in drei Prozessen wurde der Komplex Wirtschaft behandelt (der „Flick-Prozess“, der „I. G. Farben-Prozess“ und der „Krupp-Prozess“). Der militärische Komplex wurde in zwei Prozessen verhandelt. Im „Wilhelmstraßen-Prozess“ (Fall 11) wurde gegen führende Vertreter des Auswärtigen Amts und weiterer Ministerien (unter ihnen Ernst von Weizsäcker, der Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker) verhandelt. Eine besondere Rolle spielt der „Fall 13“, das in Rastatt bei Baden-Baden von den Franzosen durchgeführte „Röchling-Verfahren“ gegen Hermann Röchling und Managern des saarländischen Röchling-Konzerns. So umfassen die „Nürnberger Prozesse“ insgesamt also dreizehn Verfahren: das Verfahren vor dem IMT, elf Verfahren vor den NMT und ein Verfahren nach amerikanischen Vorbild in französischer Verantwortung.
In einem umfangreichen Band des Hamburger Instituts für Sozialforschung widmen sich nun 25 internationale HistorikerInnen den NMT-Verfahren: „NMT – Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung“. Die beiden Herausgeberinnen Kim C. Priemel und Alexa Stiller erläutern in ihrem Einführungsbeitrag, dass die Nürnberger Militärtribunale keinesfalls nur als „Appendix des IMT“ zu sehen sind. Vielmehr sind sie als eine eigene Anstrengung der Amerikaner zu verstehen, „die vom ,Hauptkriegsverbrecherprozess‘ nicht oder nur unbefriedigend behandelten Themen detailliert aufzurollen.“ Die Herausgeberinnen sprechen zutreffenderweise von einem „immensen intellektuellen Anspruch“ hinter den Verfahren: Neben dem Anspruch, die Schuldigen juristisch zur Verantwortung zu ziehen, stand auch der Ehrgeiz, grundsätzliche Erkenntnisse zum Wesen und zum Funktionieren der NS-Herrschaft zu gewinnen und mit diesen Erkenntnissen auf die Gestaltung einer zukünftig besseren Welt einzuwirken. Dass dieses idealistische Anliegen am Ende die Verfahren überforderte, mag aus heutiger Sicht vorhersehbar gewesen sein, doch, so möchte man den Herausgeberinnen zustimmen, es „klingt schal“. Denn bis heute wirken die Prozesse nach. In ihrem Bemühen, monströse Verbrechen wie Genozid, Massenmord, massenhafte Gewaltverbrechen schuld- und strafbar zu machen, legten sie Grundlagen für die heutigen internationalen Strafgerichtshöfe.
Die insgesamt 23 Beiträge des Bandes folgen einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse. Zunächst werden die konzeptionellen Grundlagen der Prozesse erörtert. Dazu gehört beispielsweise auch, nach welchen Kriterien die Angeklagten ausgewählt und vor Gericht gestellt wurden. Des weiteren werden die Prozessbeteiligten vorgestellt und ihre „Strategien und Taktiken“ in den Verfahren betrachtet. Um diese umzusetzen, brauchten sowohl die Ankläger wie auch die Verteidiger Unterstützung aus dem öffentlichen Raum. Deshalb fragen die Beiträge auch nach den Netzwerken im „außergerichtlichen Raum“ in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Schließlich gilt es zu fragen, welche „diskursiven Muster und historischen Narrative (west-)deutscher und anderer ,Geschichtspolitiken‘ auf die NMT-Prozesse zurückgingen.“ Von Interesse ist dann folglich auch, wie diese „den Weg in das Repertoire der Zeithistoriker fanden und wie sie dort verarbeitet wurden“.
Die Beiträge orientieren sich allesamt an diesem von den Herausgeberinnen erläuterten Erkenntnisinteresse und ergeben in ihrer Gesamtheit ein sehr umfangreiches Bild von den Tribunalen. In einem ersten Teil werden in 14 Beiträgen „Planung, Verfahren, Wirkung“ sämtlicher Prozesse dargestellt. Im zweiten Teil widmen sich neun Beiträge den Hintergründen: „Akteure, Recht, Rezeption“. Der dritte Teil ist den „Fakten“ gewidmet: Er dokumentiert „Personen, Daten, Ergebnisse“ der Prozesse. Ein Anhang mit „Quellenverzeichnis und einer Gesamtbibliografie“ vervollständigt diesen lobenswert ehrgeizigen Band.
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