Entstellte Anthropologie

Michael Taussigs neu aufgelegte Geschichte von „Mimesis und Alterität“ ist eine Lektüre wert

Von Björn BertramsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Björn Bertrams

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Taussig, Anthropologe an der Columbia University, nimmt in »Mimesis und Alterität« Walter Benjamins Thesen zum mimetischen Vermögen auf und beschreibt damit Phänomene menschlicher Nachahmung, die er dort antrifft, wo fremde Kulturen miteinander in Kontakt treten. Sein Hauptinteresse gilt solchen Nachahmungen, die das Andere mittels mimetischer Darstellung in die eigene Kultur inkorporieren. Im historischen Gefüge des Kolonialismus dienten derartige indigene Darstellungen des Europäischen im Wesentlichen der magischen ›Unschädlichmachung‹ derjenigen Kultur, die gewaltsam eindringt. Die Überschreitung der eigenen Kultur durch die Nachahmung der Kolonialmacht in ›handhabbaren‹ Artefakten oder Bildern kann eine indigene Identität stabilisieren, indem sie interkulturelle Grenzziehungen intrakulturell vergegenwärtigt. Die momenthafte, partielle Anverwandlung des Anderen führt zu einer bewussteren Konturierung des Selbst.

In verschiedenen ethnografischen Quellen spürt Taussig mimetische Phänomene indigener Kulturen auf und knüpft diese in einer mehr oder weniger losen Folge aneinander. Als Verbindungsglied dient ihm ein extensiver Mimesisbegriff. Diesen stützt Taussig vor allem, indem er eine Ideenverwandtschaft ausleuchtet, die er bei seinen theoretischen Ausgangspunkten der Hochmoderne, namentlich Walter Benjamin, James G. Frazer und Roger Caillois, sieht. Durchaus passend greift diese Begriffsverwendung in die Beschreibung der mimetischen Phänomene, da er eine Begriffsprägung aufnimmt, die historisch zusammenfällt mit dem Kolonialismus, der die mimetischen Bilder hervorbringt, die Taussig betrachtet.

Alterität ist grundsätzlich als Bedingung der Möglichkeit von Mimesis (als Nachahmung) zu begreifen. Nachahmung kann nur dort stattfinden, wo ein Unterschied besteht zwischen Nachahmendem und Nachgeahmtem. Insofern wird Taussigs Unternehmen einer anthropologischen Geschichte (vielleicht sollte man besser sagen: Erzählung) kultureller Mimesis besonders sinnfällig: Er führt die beiden Pole ›Fremd‹ und ›Eigen‹ als Kehrseiten einer Medaille vor. Die beiden Perspektiven der Fremdheit und der Ähnlichkeit verschachteln sich in Taussigs Darstellung zu einem Kaleidoskop, das den westlich-modernen Beobachterstandpunkt ins Wanken bringt.

Taussigs Beispiele für intrakulturelle Nachahmungen fremder Kultur sollen nun nicht im Einzelnen referiert werden. Zur Veranschaulichung seien hier nur drei mimetische Szenarien angeführt, die alle an der ›kulturellen Peripherie‹ der Cuña (in Panama) zu beobachten sind, denen sich Taussig im Verlauf immer wieder annimmt: (1) In einer ethnografischen Abhandlung von Erland Nordenskjøld aus dem Jahr 1938 wird von kleinen Holzfiguren berichtet, die die Cuña zu magischen Heilzwecken herstellen. Überrascht stellt der Ethnograf fest, dass es sich bei diesen Figuren nicht um Darstellungen guter Geister oder anderen ›Stellvertretern‹ der Cuña handelt, sondern eindeutig um exotische Weiße. (2) Auf Fotografien von besonderen Anlässen, die westliche ›Besucher‹ von den Cuña gemacht haben, fällt auf, dass die Männer des Stammes zumeist westliche Kleidung (Hemd mit Krawatte) tragen, während die Frauen in traditionellen molas (kunstvoll genähte Gewänder) gekleidet sind. Im Kulturkontakt mit dem Westen (Fotokamera) stellen sich die Cuñamänner also gerne als das Andere ihrer Kultur dar. (3) Doch auch die Frauen wissen sich mit Emblemen des Westens zu schmücken: Ein häufiges Motiv auf ihren molas ist das Logo der Marke His Master’s Voice, unter der die Gramophone Company ihre Schallplatten seit Anfang des 20. Jahrhunderts vertrieb.

Im Gegensatz zu den oftmals in historisch-anthropologischen Studien wiederbeschworenen Szenen des first contact, sind Taussigs Beispiele interkultureller Mimesis als Auswirkungen eines anhaltenden Kulturkontakts aufzufassen, als sinnliche und sinnhafte Verbildlichungen des second contact. Am Übergang vom kolonialen zum postkolonialen Zeitalter können solche kulturellen Fremddarstellungen indigener Völker auf die bisherige asymmetrische Festschreibung reagieren und dem Westen einen anamorphotischen, irritierenden Spiegel vorhalten. »[W]ir gelangen [so] in ein Grenzgebiet, in dem ›wir‹ und ›sie‹ ihre Polarität verloren haben und der Brennpunkt unscharf ist«. Die indigenen Repräsentationen des kolonialen Gegenübers als ›Fetische‹ besitzen das Potenzial, die Grenzziehungen zu verunsichern, die einst der Westen sich mit seinen Bildern des Wilden und Primitiven von seinem Anderen gemacht hat. Taussig bezeichnet die wechselseitige Perpetuierung fremdkultureller Darstellungen als »mimetischen Exzeß«, der jegliche kulturell konstruierte Grenzen durch die Aufmerksamkeit, die ihnen gewidmet wird, zu einem einzigen globalen »Grenzland« ausdehnt, in dem »das Ich und der Andere an den gespenstischen Wunschvorstellungen des jeweils Anderen von der eigenen Macht kratzen«.

Gewiss bleibt zu diskutieren, inwiefern einzelnen indigenen Einverleibungen des kulturellen Gegenübers durch mimetische Praktiken ein postkolonial-subversives Potenzial zugesprochen werden kann. Taussig beschreibt diese Praktiken als durchaus ambivalente, vor allem in politischer Hinsicht. Anregender als eine an Einzelaspekten sich abarbeitende (darum nicht minder notwendige) ethnologische Kritik erscheint es, das Augenmerk auf das methodologische Anliegen Michael Taussigs zu legen.

Sein Interesse an der anthropologischen Beschreibung mimetischer Phänomene richtet sich im Ganzen danach, »Aussichten für ein sinnliches Wissen in unserer Zeit zu sondieren«. Dazu absorbiert er Benjamins Überlegungen zum mimetischen Vermögen und wendet sich damit sowohl gegen einen theoretisch naiven Realismus als auch gegen den zeitgenössischen Poststrukturalismus und Konstruktivismus. Mit einem rhetorischen Kniff präsentiert er die These der soziokulturellen Konstruktion von Geschlecht, Rasse, Nation usw. als erkenntnisarmes, eindimensionales Ergebnis poststrukturalistischer Theorie, das er vielmehr als Ausgangspunkt und »Einladung« für seine Annäherung an die Mimesis begreifen will. Der Panoramablick auf Mimesis als omnipräsentes Phänomen und anthropologische Konstante, erlaubt Taussig die Aussage, dass »Mimesis […] das Wirkliche mit dem wirklich Gemachten [verschweißt] – anders gibt es keine Gesellschaft«. Damit ein alltägliches menschliches Miteinander überhaupt funktionieren kann, müsse die Konstruiertheit sozialer Ordnungsbildungen immer wieder in Vergessenheit geraten.

Mit seinen Referenzautoren der Frankfurter Schule und der klassischen Ethnologie betrachtet Taussig kulturelle Repräsentationen als historisch nachzeichenbares Naturphänomen. Mantraähnlich taucht immer wieder die Formulierung auf von der »Natur, die die Kultur benutzt, um eine zweite Natur zu schaffen«. Im Mimesisbegriff verschachtelt sich hier Kultur in Natur, wird mit ihr eins. Eine der wenigen Thesen, die Taussig explizit formuliert, ist die »einer zweispurigen Straße, auf der Natur und Geschichte, in diesem Fall mimetisches Vermögen und Kolonialgeschichten, hin- und herfahren«. So entwickelt Taussig seinen Gegenstand der interkulturellen Repräsentation als ein »Benjaminsches ›dialektisches Bild‹«. Die Verwendung des Mimesisbegriffs, wo andere von Repräsentation sprechen, und das Beharren auf der Sinnlichkeit, die systematisch analysierenden Studien völlig abgeht, führen Taussig und den Leser seines Werks zu einer nahezu distanzlosen Betrachtung der als mimetisch benannten Phänomene. Damit steht noch die Theoriesprache seiner Darstellung dem Ansinnen derselben entgegen, der mimetischen Kultur und ihrer Magie ›auf Augenhöhe‹ zu begegnen. Taussigs anthropologisches Problem bleibt, es möglich zu machen, ein okkultes Wissen aus der Versenkung zu heben, ohne dabei dessen wesentlich sinnliche Qualität durch allzu forcierte Sinngebung zu zersetzen. Im wissenschaftlichen Rahmen gelingt es ihm mindestens ansatzweise, »das Schreiben sich selbst [zu] entfremden« und sich der Kolonialgeschichte der Mimesis durch kommentierende Nach-Erzählung zu nähern, sich also in der Darstellungsweise dem Gegenstand der nachahmenden Darstellung anzupassen bzw. anzugleichen. 

Vor dem Deutungshorizont seiner theoretischen Referenzpunkte und ethnografischen Quellen weitet sich der Begriff der Mimesis bei Taussig zu einer dynamischen, indefiniten Idee aus, die von Kapitel zu Kapitel an Aspekten gewinnt und gleichzeitig immer unförmiger wird. Es sieht so aus, als würde Taussigs Text, den er auch explizit nicht als ›Studie‹ bezeichnet wissen will, sich durch seine Begriffsverwendung der klassisch-modernen Vorstellungswelt und ihrer ›Neuentdeckung der Alterität‹ derart anverwandeln, dass man ihn kaum noch auf einer im streng wissenschaftlichen Sinn analytischen Ebene verorten kann. Wie die Hypotexte Benjamins und Caillois‘ ist Taussigs Text vor allem da, wo er keine ethnografische Erzählung zweiter Stufe darstellt, denn auch als Essay zu bewerten, der von sämtlichen Freiheiten lebt, die diese Textgattung ausmacht, und weniger unter dem Maßstab rein logischer Stringenz. Zu fragen bleibt dann allerdings, welchen Wert Taussigs »eigenwillige« anthropologische Geschichte interkultureller Ähnlichkeiten hat und ob eine akademische Wissenschaft diesen Wert sozusagen aus ihrem diskursiven Anderen überhaupt ziehen kann. (Leichter akademisch verwertbar erscheinen da vergleichbare Arbeiten des deutschen Ethnologen Fritz W. Kramer aus den 1980er Jahren zu Fremddarstellungen in afrikanischen Kulturen.)

Taussigs Anthropologie ist eine entstellte Anthropologie, die, nimmt man sie ernst, zurückführt zu einem möglichst unmittelbaren, vorwissenschaftlichen Erleben von kultureller Andersheit, welches in eine nachwissenschaftliche Diskursform gegossen wird. Angesichts postkolonialer Verschmelzungen kultureller Identitäten und der damit einhergehenden Integration verschiedener Beobachterstandpunkte kann die Ethnologie nicht mehr als Einbahnstraße gefahren werden. Der Transfer des Benjaminschen Mimesiskonzepts aus der primitivistischen Moderne in die postkoloniale Anthropologie soll dabei in einer dialektischen Helixdrehung den heute notwendigen Reflexionsgewinn bringen. Fraglich ist dabei, ob Taussig mit seiner ›Zurück-in-die-Zukunft-Masche‹ nicht die Distanz aufgibt, die jegliche Kritik, sowohl auf eigener Seite in Bezug auf die mimetische Kultur, die er in den Blick nimmt, als auch von der Seite seiner Rezipienten, ermöglicht.

Offen gelassen, ob es den Standpunkt einer adäquaten Kritik an diesem Werk geben kann, leistet Taussigs diskursives Experiment in jedem Fall etwas, das den meisten Texten im Wissenschaftsalltag fehlt: Es macht auf die Form wissenschaftlicher Darstellung aufmerksam und stellt ebendiese zur Debatte, anstatt auf die Autorität akademischer Tradition zu setzen. Wie gut, dass »Mimesis und Alterität« nun im hiesigen Raum ankommt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Michael Taussig: Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Regina Mundel und Christoph Schirner.
Konstanz University Press, Konstanz 2014.
388 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783862530588

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