Der Banlieue entflohen
Mit dem Roman „Mein Vater ist Putzfrau“ wendet sich Saphia Azzedine an Jugendliche – und Erwachsene
Von Liliane Studer
Die marokkanische Autorin Saphia Azzedine wurde 1979 in Agadir geboren, mit neun Jahren zog sie nach Frankreich. Später studierte sie Soziologie, lebte ein Jahr in Houston, arbeitete als Diamantenschleiferin in Genf und fand dann ihre berufliche Heimat als Journalistin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin. Mit „Mein Vater ist Putzfrau“ ist nun nach „Zorngebete“ auch ihr zweiter Roman auf Deutsch erschienen. „Mein Vater ist Putzfrau“ – mit diesem Satz beginnt der vierzehnjährige Paul, genannt Polo, seine Geschichte. Und er fährt fort: „Nach der Schule greife ich ihm oft unter die Arme. Damit wir früher nach Hause kommen. Und weil er mein Vater ist.“ Paul ist ein aufgeweckter Junge. Denn er putzt nicht nur, sondern er nutzt auch die Möglichkeit, zu lernen. Wenn sein Vater in eine Bibliothek bestellt wird, blättert Paul in den Büchern und lernt jede Woche ein Wort. Transzendent zum Beispiel, oder Widrigkeit. Nicht unbedingt Wörter, die er in seinem Alltag benutzen kann. Doch auch solche lernt er, zum Beispiel wenn er nach Synonymen von putzen sucht – und abstauben findet, das zu den Wörtern gehört, die „wie soll ich sagen? weniger hart sind, die weniger scheuern. Mit einem solchen Wort wird dir der Staub zum Freund.“
Paul ist in einem lästigen Alter. Und weil er ziemlich hässlich ist (und sich anscheinend nicht nur so fühlt), wird das Leben noch viel schwieriger. Er wird schnell verletzend und sagt die Wahrheit geradeheraus, er kann nicht anders. Vor allem gegenüber Mädchen. Doch mit einer Putzfrau als Vater und einer Mutter im Rollstuhl ist bei Mädchen kein Stich zu machen. Erst recht nicht, wenn man auch noch weiß ist, nicht einmal schwarz oder arabisch oder jüdisch. Nichts von alledem trifft auf Paul zu. Nur, dass die Familie kein Geld hat. Und dass er deshalb während der langen Sommerferien in der Pariser Banlieue bleiben muss. Die anderen fahren weg, in die Ferien oder zu den Verwandten in die Heimat – Paul erhält drei Postkarten mit Feriengrüßen. Eine davon ist von Priscilla, seiner geheimen Liebe, die keine Zukunft hat.
Paul ist jedoch auch ein intelligenter Junge: Obwohl er frauenfeindliche Witze reißt, die fast nicht auszuhalten sind, kann er sich ein anderes Leben vorstellen als jenes, das sein Vater führt. Er will nicht in dessen Fußstapfen treten müssen, er will weiterkommen im Leben, deshalb lernt er fleißig. Darüber freut sich sein Vater. Wie schön wäre es für ihn, wenn sein Sohn auf der sozialen Stufenleiter nach oben käme. Und das ist eine der Stellen in diesem Roman, die am meisten berühren: Wenn der Vater mit dem Sohn auf die Bank geht – nachdem Paul erfahren hat, dass er seine Abiturprüfung nicht bestanden hat –, um ihm das zu übergeben, was er während 13 Jahren Schulzeit zusammengespart hat. Paul bringt es nicht übers Herz, dem Vater die Wahrheit zu sagen – und er wird sein Abitur machen, nur so viel sei hier gesagt.
Polo wird seinen Weg gehen, eine gute Frau finden und eine Familie gründen. Das ist sein Glück und ganz und gar nicht kitschig. Und er wird einen ‚richtigen‘ Beruf lernen: Er wird Steward. Als sein Sohn Julo ihn fragt, was denn ein „Stuwart“ mache, antwortet Polo: „Ein Steward macht das Gleiche wie eine Stewardess, man serviert das Essen, kümmert sich um die Passagiere im Flugzeug, man räumt auf, macht die Küche sauber, erinnerst du dich, als wir in Disney World waren, da hast du doch im Flugzeug die anderen Stewards gesehen?“ Und Julo: „Ach ja … Das heißt also, du putzt, nur eben in der Luft, Papa?“
„Mein Vater ist Putzfrau“ ist eine starker Roman, der vom Erwachsenwerden unter widrigen Umständen erzählt, von einer liebevollen Vater-Sohn-Beziehung, die es erlaubt, nach vorne zu schauen und Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. In knappen Sätzen, oft hart im Ton, schreibt Saphia Azzedine einen Entwicklungsroman, den man sich gerne als Klassenlektüre für Jugendliche wünschen würde, die auf der Suche sind, die in und an der Pubertät leiden, unter Minderwertigkeitskomplexen zusammenzubrechen drohen und wenig mit sich anzufangen wissen. „Mein Vater ist Putzfrau“ ist jedoch kein reines Jugendbuch, der Roman richtet sich ebenso an Lehrerinnen und Lehrer, an Eltern und an alle Erwachsenen, die sich interessieren für die Welt der Jugendlichen. Gerade wenn diese eine Welt zu werden droht, die ihnen fremd ist.
![]() | ||
|
||
![]() |