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In „Der Einfall des Lebens: Theorie als geheime Autobiographie“ zeigen die Autoren den Zusammenhang von Lebenslauf und Gedankengang anhand von 25 verschiedenen Denkern

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ausklammerung aller persönlichen und subjektiven Umstände und Befindlichkeiten war lange Zeit unbedingte Grundvoraussetzung für Wissenschaft und Theorie. Es galt das eherne Gesetz der theoretischen Anonymität. Seit Ende des 19. Jahrhunderts haben immer mehr Philosophen diese Regel gebrochen und explizit das eigene Leben zum Gegenstand ihrer Betrachtungen gemacht.

Am Beispiel von 25 großen und einflussreichen Denkern untersuchen Dieter Thomä, Ulrich Schmid und Vincent Kaufmann (alle drei sind Professoren an der Universität von St. Gallen) in „Der Einfall des Lebens: Theorie als geheime Autobiographie“ die Frage, wie sich Theorie und Autobiographie wechselseitig erhellen. In kurzen, essayistischen Skizzen nähern sie sich den Werken und Leben von Ludwig Wittgenstein, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und vielen anderen.

Beispiel Wittgenstein: Die Grundzüge seines Tractatus logico-philosophicus entwarf der Österreicher als Kämpfer im Ersten Weltkrieg. Seine persönlichen Erfahrungen dagegen, die er täglich im Krieg sammelte, schrieb er – sauber getrennt von seinen theoretischen Überlegungen – in ein separates Tagebuch. Hinter dieser Methode steckte der vom Zeitgeist geforderte Versuch, die Philosophie in reine Logik zu verwandeln, die alle Unreinheit des Lebens abstreift. Eine unmöglich dauerhaft zu trennende Verfahrensweise, die Wittgenstein bewegt haben dürften, dieses Theoriemodell später zu verwerfen. Er verabschiedete sich von der Idee eines kristallinen Denkens und löste den Gegensatz von Theorie und Autobiographie. Thomä, Schmid und Kaufmann sehen darin den Übergang vom frühen zum späten Wittgenstein.

Eindrücklich ist auch das Kapitel über Susan Sontag. Ihr literarisches Werk ist nahezu vollständig frei von Autobiographischem. Obwohl die Schriftstellerin ihren Vater wegen der Erkrankung an Tuberkulose verlor und selbst an Krebs erkrankte, ist sie sogar in Texten wie etwa Alice im Bett oder Krankheit als Metapher ausdrücklich darauf erpicht, nicht von sich zu sprechen. Doch es gibt eine Ambivalenz in ihrem Werk. Der strikten Verweigerung gegen alles Selbstreferentielle in ihren Texten steht eine exzessive Selbstpräsentation im Medium der Fotografie gegenüber. Die Autoren zeigen, wie Susan Sontags Theorie und Praxis der (Anti-)Autobiographie schließlich in der Annäherung zwischen Schreiben und Orgasmus gipfeln.

Und so schärfen die Autoren in jedem Kapitel den Blick für die existenzielle Spannung in den Werken der Denker. Ihre Idee, einen autobiographischen Zugang zu den Arbeiten zu suchen, funktioniert, und schafft einen empathischen Zugang zu den Theorien. Die Unbeholfenheit eines Walter Benjamin (dem schon eine harmlose Fahrradfahrt lebensgefährlich erschien), der ewige Kampf gegen Widerstände bei Michail Bachtin (der wegen Mitgliedschaft in einem angeblich konterrevolutionären Zirkel verhaftet und zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt wurde), Adornos Erschrockenheit beim Schütteln einer Eisenklaue (die ein Partygast anstelle seiner im Krieg verlorenen Hand trug), die Abstinenz des Vaters bei Roland Barthes (der bei der Marine im Krieg sein Leben ließ) – all das sind kleine Schlüsselmomente, die die Theorien entscheidend mitgeprägt haben.

Titelbild

Dieter Thomä / Ulrich Schmid / Vincent Kaufmann: Der Einfall des Lebens. Theorie als geheime Autobiographie.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
416 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446249141

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