Panoptikum des Wahns
Michael Schödlbauers Paranoia-Studie erschüttert das Fundament der Vernunft
Von Bernd Nitzschke
„Er ist ein Mann, in dessen Körper eine banderilla steckt, ein vergifteter Pfeil, etwas, wovon er sich nicht freimachen kann.“ Dieses Bild hat Anaïs Nin von Henry Miller gezeichnet. Dessen (zweite) Ehefrau – June Edith Schmerdt alias June Mansfield alias June Smith – charakterisierte sie folgendermaßen: „Gewisse Städte des Orients wurden so gebaut, daß sie den Feind durch ein Knäuel ineinander verschlungener Straßen verwirrten. Für jene, die sich im Labyrinth verbargen, bedeuteten die Irrwege ein gewisses Maß an Sicherheit; für den Eindringling waren sie ein furchtbares Mysterium.“ Anaïs Nin brachte so die nichtalltäglichen Beziehungserfahrungen, die sie mit den beiden gemacht hatte (Henry, June und ich. Intimes Tagebuch, 1931-1932), in bildhafter Sprache zum Ausdruck. Das wissen wir an Schriftstellern zu schätzen, deren Sprachbilder psychische Realitäten offenbaren: Sie eröffnen uns damit einen Zugang zu unseren eigenen inneren Welten. Was aber, wenn ein ganz gewöhnlicher Mensch über außergewöhnliche Erlebnisse berichtet? Was will er uns denn sagen, wenn er sagt, er müsse sich vor „Feinden“ in Acht nehmen, die mit „vergifteten Pfeilen“ auf ihn zielen, und habe sich deshalb in einem „Labyrinth“ versteckt? Er versteht den Sinn seiner Rede selbst nicht, solange er die Grenze missachtet, die innere und äußere Realitäten trennt. Also müssen wir die Metaphern, die er benutzt, deuten, damit wir seine Rede verstehen – und sie ihm dann verständlich machen können. Die Welt als Mitteilung und Interpretation: ja, das ist die menschliche Welt.
Die Welten, in denen der Wahnkranke lebt, sind nicht alltäglich – doch sie stehen allnächtlich jedermann offen: im Traum. Bei Schopenhauer (Über das Geistersehn und was damit zusammenhängt) heißt es dazu trefflich: „Was das träumende Bewußtsein vom wachen hauptsächlich unterscheidet, ist der Mangel an Gedächtniß, oder vielmehr an zusammenhängender, besonnener Rückerinnerung. Wir träumen uns in wunderliche, ja unmögliche Lagen und Verhältnisse […]. Von diesem Gesichtspunkt aus läßt sich daher der Traum als ein kurzer Wahnsinn, der Wahnsinn als ein langer Traum bezeichnen.“
Selbst dann, wenn man sich den Wunsch, für den „Napoleon“ als Metapher steht, nicht im Traum, sondern im Wachen – im Tagtraum, in der Phantasie – erfüllt, ist man noch nicht verrückt. Die Vernunft ist erst verloren, wenn der Wunsch die Grenze zwischen Traum und Wachen endgültig niedergerissen hat. Dann treffen die drei Kriterien zu, mit denen Karl Jaspers den Wahn kennzeichnete: „subjektive Gewissheit“; „Unmöglichkeit des Inhalts“; „Unkorrigierbarkeit durch Erfahrungen oder zwingende logische Argumente“. Es wäre demnach ganz und gar unvernünftig, wenn man einen Menschen, der davon überzeugt ist, Napoleon zu sein, mit dem rationalen Argument, Napoleon sei doch bereits vor zweihundert Jahren gestorben, davon überzeugen wollte, dass er unmöglich Napoleon sein könne.
Vertreter der Vernunft, die den Wahn nur von außen beurteilen, haben Angst, den eigenen Verstand zu verlieren, wenn sie in die Welt eintreten, in der sich der Verrückte versteckt hat. So bleibt ihnen der Kern der Wahrheit verborgen, der im Wahn zu finden ist. „Ich glaube nicht, daß diese Auffassung des Wahns vollkommen neu ist, aber sie betont doch einen Gesichtspunkt, der für gewöhnlich nicht in den Vordergrund gerückt wird. Wesentlich an ihr ist die Behauptung, daß der Wahnsinn nicht nur Methode hat, wie schon der Dichter erkannte, sondern daß auch ein Stück historischer Wahrheit in ihm enthalten ist, und es liegt uns nahe anzunehmen, daß der zwanghafte Glaube, den der Wahn findet, gerade aus solch infantiler Quelle seine Stärke bezieht. […] Es würde wahrscheinlich die Mühe lohnen, wenn man versuchte, entsprechende Krankheitsfälle nach den hier entwickelten Voraussetzungen zu studieren […]. Man würde die vergebliche Bemühung aufgeben, den Kranken von dem Irrsinn seines Wahns, von seinem Widerspruch zur Realität, zu überzeugen, und vielmehr in der Anerkennung des Wahrheitskerns einen gemeinsamen Boden finden, auf dem sich die therapeutische Arbeit entwickeln kann.“ Soweit Sigmund Freud (Konstruktionen in der Analyse, 1937), der dem gesunden-allzugesunden Menschenverstand nicht nur an dieser Stelle die Leviten gelesen hat.
Das wollte Daniel Paul Schreber, der Wiedergänger Hiobs, der 1893 zum Senatspräsidenten am Königlichen Oberlandesgericht in Dresden ernannt wurde, das Amt aber nicht antreten konnte, weil er psychisch erkrankte, auch. Er wollte die Menschen zur göttlichen Vernunft bringen. Schreber war ein genialer Sprachbildner und Wortschöpfer, der seine auf den ersten Blick absurd erscheinenden subjektiven Gewissheiten mit messerscharfem Verstand zu einem kohärenten System verdichten konnte. Man dankte ihm diese Mühe nicht. Man hielt ihn für verrückt, entmündigte ihn und sperrte ihn in der Anstalt Sonnenstein bei Pirna (Sachsen) ein.
Schreber veröffentlichte 1903 die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, ein Buch, das bis heute in immer neuen Auflagen und Übersetzungen (deutsch, englisch, französisch, spanisch, italienisch usw.) erscheint. Es gilt als das in der psychiatrisch-psychoanalytischen Fachliteratur am häufigsten zitierte und interpretierte Selbstzeugnis eines an Wahnvorstellungen leidenden Menschen. Von wegen Wahnvorstellungen. So wollte Schreber nicht verstanden werden! Er hatte doch schon im Titel seines Buches kundgegeben, dass er sich nicht als geisteskrank, sondern als nervenkrank betrachtete. Seine Beschwerden hatte er anfangs als Folge von Arbeitsüberlastung aufgefasst. Heutzutage würde ein leitender Beamter in diesem Zusammenhang den Euphemismus Burnout benutzen. Schreber begab sich in die Obhut des Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Leipzig. Professor Paul Emil Flechsig konnte ihm helfen und so behielt Schreber ihn als guten Arzt in Erinnerung. Als dann erneut Beschwerden auftraten, suchte Schreber diese „Nerven-Klinik“ wieder auf. Hier wurde er während der stationären Behandlung „täglich“ von seiner Frau besucht. Als sie dann aber „eine viertägige Reise nach Berlin zu ihrem Vater“ antreten musste, verlor Schreber jeden Halt. Nun begann die „grausige Zeit“, in der aus Flechsig, dem Helfer, Flechsig, der Verfolger wurde.
Als Schreber seine Frau wieder sah, hatte sich die Welt – sprich: Schrebers Wahrnehmung der Welt – grundstürzend verändert. Sie war aus allen Fugen geraten. Schreber schreibt, es seien zwischenzeitlich „so wichtige Veränderungen in meiner Umgebung und in mir selbst vorgegangen, daß ich in ihr [Schrebers Frau] nicht mehr ein lebendes Wesen, sondern nur eine hingewunderte Menschengestalt […] zu erblicken glaubte“. In Schrebers Leben war die Hölle los. „[S]ogenannte ‚kleine Männer’“ schickten sich an sein „Rückenmark auszupumpen“. Dann wieder wurde „ein größerer oder geringerer Theil meiner Rippenknochen […] zerschmettert“. Gott sei Dank, die Knochen ließen sich wieder zusammensetzen. Schließlich verschwand auch noch der Magen! „Die genossenen Speisen und Getränke ergossen sich dann ohne Weiteres in die Bauchhöhle und die Oberschenkel […]. Bei jedem anderen Menschen hätten natürlich Eiterungszustände mit unfehlbarem tödtlichen Ausgange sich ergeben müssen; mir aber konnte die Verbreitung des Speisebreis in beliebigen Körpertheilen Nichts schaden, weil alle unreinen Stoffe in meinem Körper durch Strahlen wieder aufgesogen wurden.“ Der „Wunder“ größtes war nun aber dieses: Die „(äußeren) männlichen Geschlechtswerkzeuge (Hodensack und männliches Glied) [wurden] in den Leib zurückgezogen und unter gleichzeitiger Umgestaltung der inneren Geschlechtswerkzeuge in die entsprechenden weiblichen Geschlechtsorgane verwandelt“. Das ist der Dreh- und Angelpunkt des Buches, in dem Schreber erklärt, warum er die Menschheit nur als Frau erretten konnte.
Die behandelnden Ärzte diagnostizierten eine Paranoia. Doch Schreber war bei Verstand und nutzte ihn in eigener Sache, denn er war ja auch noch Jurist. Also schrieb er einen Antrag, mit dem er gegen seine Entmündigung Einspruch erhob. Der psychiatrische Gutachter konnte dem Gericht zwar begründet darlegen, dass Schreber ein von „von Wahnideen beherrscht[er]“ Mensch sei, doch die Richter lehnten die daraus gezogene Schlussfolgerung ab, Schreber müsse in der Anstalt verbleiben, da er unzurechnungsfähig sei. Die Richter meinten, es gebe „zahlreiche Paranoiker, die trotz schwerer seelischer Störungen […] ihre Geschäfte ordnungsgemäß erledigen“ könnten. Man halte solche Menschen zwar „für Sonderlinge, erklärt sie für schrullenhaft und mit fixen Ideen behaftet, denkt aber in der Regel gar nicht daran, sie unter Entmündigung zu stellen“. Schreber kam frei. Und das war auch gut so. Wie sähe die Welt denn aus, wenn man alle Verrückten einsperren würde? Sie wäre menschenleer.
Michael Schödlbauer, der am Universitätsklinikum in Hamburg-Eppendorf Patienten behandelt, denen psychiatrische Diagnosen zugeschrieben werden, hat ein Buch mit dem Titel Wahnbegegnungen. Zugänge zur Paranoia vorgelegt, in dem er alles gesammelt hat, was er über den Wahn im Allgemeinen und über Schrebers Wahn im Besonderen in Erfahrung bringen konnte. Er führt den Leser mit sicherer Hand durch das Spiegelkabinett der Vernunft, in dem Wahrheiten zu finden sind, von denen normale Menschen nur träumen können.
Abstammungswahn. Beeinträchtigungswahn, Eifersuchtswahn, Erfinderwahn, Plagiatswahn, hypochondrischer Wahn, Liebeswahn, politischer Wahn, religiöser Wahn, Schuldwahn, Verfolgungswahn, Weltuntergangswahn: Der Wahn kennt keine Grenzen, doch die Welt des Wahnkranken ist eng begrenzt. Schödlbauer schreibt: „In akuten Psychosen kann die sogenannte Realität immer mehr durch eine psychotische Eigen- und Parallelwelt ersetzt werden“. Zwar bietet dieser Rückzug von der Außenwelt zunächst Schutz und Sicherheit; doch isoliert von der mit anderen Menschen geteilten Welt verliert sich der Wahnkranke am Ende selbst.
Schödlbauer begreift den Wahn als „Beziehungsphänomen, und das in mehrfacher Hinsicht“. Er veranschaulicht diese These anhand von Fallvignetten, die er seiner Praxis entnommen hat. Da ist zum Beispiel die vereinsamte Frau, Ende dreißig, die bei Wind und Wetter vor der Tür steht und auf den Umzugswagen wartet, der heute oder morgen kommen wird, denn ihr vormaliger Chef hat ihn ja längst bestellt. Sie konnte die Botschaften, die aus seinen Augen zu ihr sprachen, entschlüsseln: als sie noch als Sekretärin bei ihm arbeitete. Er war in sie verliebt, auch wenn er sich ihr gegenüber abweisend verhielt, weil er seine Liebe zu ihr vor den anderen Mitarbeitern der Kanzlei geheim halten musste. Schödlbauer kommentiert: „Ein Liebeswahn ist Ausdruck des verzweifelten Wunsches nach Beziehung. Was der Behandler seinerseits anzubieten hat, ist: nichts als Beziehung!“ Gut und schön, doch wie kann die Realitätswahrnehmung des Patienten korrigiert werden? „Das Wahnhafte erkennt nicht der, der dem Wahn verhaftet ist. Der Wahn wird von anderen zugeschrieben […].“ Bevor korrigierende emotionale Erfahrungen wirksam werden können, müssen die leidvollen Erfahrungen verstanden und akzeptiert werden, die dem Wahn zugrunde liegen. Es waren unerfüllte Wünsche, Enttäuschungen, die der Betroffene nicht bewältigen konnte. Vor der Erinnerung oder gar dem Wiedererleben dieser Enttäuschungen hat er sich durch die Errichtung eines Gedankengebirges geschützt, das allen anderen Menschen unüberwindbar erscheint.
Es bedürfte der Kraft eines neuen Wunsches, durch die dieser vor dem Leid aufgetürmte Sperrriegel beiseite geschafft werden könnte. Das wäre, sollte Freud Recht haben, der (Übertragungs-)Wunsch nach Beziehung. Dessen Erfüllung ist paradoxerweise ebenso illusionär wie es die im Wahn imaginierte Wunscherfüllung ist. Und doch soll die Übertragung therapeutisch wirksam sein? Die „Übertragung ist ambivalent, sie umfasst positive, zärtliche, wie negative, feindselige Einstellungen gegen den Analytiker […]. Solange sie positiv ist, leistet sie uns die besten Dienste. Sie verändert die ganze analytische Situation […]. Sie wird die eigentliche Triebfeder der Mitarbeit des Patienten, das schwache Ich wird stark, unter ihrem Einfluss bringt er Leistungen zustande, die ihm sonst unmöglich wären, stellt seine Symptome ein, wird anscheinend gesund, nur dem Analytiker zu Liebe“ (Freud in Abriß der Psychoanalyse, 1940). Die „Leistung“, um die es geht, besteht in der Einsicht, dass die infantilen Wünsche zwar berechtigt, hier und jetzt aber nicht mehr so zu befriedigen sind, wie der Betroffene es sich bislang vorgestellt hat. Weniger ist mehr: so ist Friede zu finden.
Schödlbauer diskutiert den „Fall“ Schreber unter der Überschrift Logik des Wahns. Der Wahnkranke lässt schließlich keinen Zufall gelten. Alles hat Bedeutung. Alles, was geschieht, macht Sinn. Alles findet Platz in einem System. Schreber hatte zunächst zwar Mühe, die Torturen, die er erdulden musste, zu verstehen; als er deren Sinn dann aber erkannt hatte, ließ er alle Welt an seinem Selbstverständnis teilhaben. Man schenkte ihm keinen Glauben. Vielmehr begann alsbald alle Welt Schrebers Visionen mit Sinn-Deutungen zu überziehen.
William G. Niederland (Der Fall Schreber. Das psychoanalytische Profil einer paranoiden Persönlichkeit, 1978) und Morton Schatzman (Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Eine Analyse am Fall Schreber, 1978) interpretierten Schrebers Leiden als Spätfolgen der Erziehungsmethoden seines Vaters Daniel Gottlob Moritz Schreber. Dieser Namenspatron der Schrebergärten war Arzt. Er publizierte 1855 Die ärztliche Zimmergymnastik, ein Buch, das der Ertüchtigung von Leib und Seele dienen sollte. Seinerzeit war es ein Beststeller, heute gilt es als Exempel der „Schwarzen Pädagogik“. Schödlbauer resümiert: „Niederland meint, aus den Lehren Moritz Schrebers lasse sich vermuten, dass dieser seine Kinder schon in sehr frühem Alter traumatisiert hat, schon vor dem dritten Lebensjahr, denn Erziehung beginne nach Dr. Moritz Schreber schon in der Säuglingszeit, wo das Stillen die Form ist, in der Ordnung eingeführt werden soll.“ Vater Schreber kämpfte gegen die Verweichlichung des Körpers an – Sohn Schreber fand Erlösung in der Verweiblichung des Körpers. Sollte der Sohn aus Angst vor dem Vater Zuflucht bei der Mutter gesucht haben? Hatte der sadistische Vater seinen Sohn in den Wahnsinn getrieben? Dieser These hat Zvi Lothane begründet widersprochen. Warum Schödlbaur dessen Buch Seelenmord und Psychiatrie. Zur Rehabilitierung Schrebers (2004), das zur Standard(sekundär)literatur im „Fall“ Schreber gehört, nicht erwähnt, bleibt unerfindlich.
Im Literaturverzeichnis fehlen auch Werke, die Schödlbauer im Text zitiert (so etwa Schrebers Zimmergymnastik). Dass es in diesem umfangreichen Buch weder ein Stichwort- noch ein Personenverzeichnis gibt, ist gleichfalls irritierend. Auf der Habenseite können sich hingegen Leser fühlen, die Lacan und Heidegger zu schätzen wissen, denn Schödlbauer ist ein ausgewiesener Kenner der Werke der beiden Autoren. Im „Fall“ Schreber folgt er zunächst auf weiten Strecken Freud, den er schließlich mit Lacan so überholt: „Es ist also keine homosexuelle Strömung im landläufigen Sinn, die verursachend für Schrebers Psychose ist. Bei Schreber sind es Bedeutungen rund um die Frage seines eigenen Geschlechts, seiner sexuellen Identifizierung; die Bisexualität, die ‚verworfen’ ist, kehrt dann als ‚psychotische Invasion’ wieder […]. Der Schwund an Männlichkeit, der Umbau zur Frau, gilt Lacan als Folge der Verwerfung des Namens-des-Vaters, also als Folge davon, dass die Primäridentifizierung mit dem ‚Vater der persönlichen Vorzeit’ (Freud) nicht gelingen konnte.“
Lacan und Heidegger kannten sich auch persönlich: Ostern 1955 hatte Lacan Heidegger in Freiburg besucht; ein halbes Jahr später machte Heidegger auf Lacans Landsitz La Prévôté Station. Er war auf dem Weg nach Cerisy-la-salle, wo er Antwort auf die Frage Was ist das – Die Philosophie? gab. Und was ist das – Der Wahn? Im Hinblick auf das Verlangen nach Wahrheit erscheinen der Philosoph und der Wahnkranke als Zwillingsbrüder. Denn was für Faust gilt, das gilt auch für Schreber: Auf der Suche nach Wahrheit geraten beide in Teufels Küche – und am Ende werden beide durch das „Ewigweibliche“ erlöst. Das folgende Selbstzeugnis könnte daher auch von Schreber stammen: „Da steh ich nun, ich armer Tor / Und bin so klug als wie zuvor; / […] / Drum hab ich mich der Magie ergeben, Ob mir durch Geistes Kraft und Mund Nicht manch Geheimnis würde kund; / Daß ich nicht mehr mit saurem Schweiß / Zu sagen brauche, was ich nicht weiß; /Daß ich erkenne, was die Welt /Im Innersten zusammenhält,/Schau alle Wirkenskraft und Samen, /Und tu nicht mehr in Worten kramen.“
Auf die Frage nach dem Wahn gibt Schödlbauer, philosophisch gerüstet, folgende Antwort: Der Wahn „imponiert als Akt der Schöpfung […]. Die darin beschlossene erkenntnistheoretische Problematik – was ist real, was ist ‚wirklich’ – führt uns zum interdisziplinären Interesse am Wahn.“ Schödlbauer verweist auf Descartes und führt, um zu veranschaulichen, wie schwer es fällt, Wahn und Wahrheit zu unterscheiden, den „philosophische[n] Satz ‚cogito ergo sum’“ an. Dieser die moderne Philosophie (sprich: die aufgeklärte Suche nach Wahrheit) einleitende Satz „entstammt selbst einer wahnhaften Idee: Schließlich arbeitet sich Descartes in seinem Denken an der letztlich psychotischen Idee des ‚Gemachten’ ab (die Außenwelt ist womöglich gar nicht ‚materiell’ da, sondern pures Traumbild, gemacht von einem betrügerischem Gott). Im Fortgang seiner Meditationen findet Descartes dann als (vermeintliches) Fundament der Gewissheit und des Wissens sein ‚cogito ergo sum’, mit dem er letztlich die Ausflucht aus dem ‚Psychotischen’ sucht.“ Mit Descartes beginnt die Reihe der Philosophen, die Gold suchten und schließlich die Grammatik fanden.
Kaum hatte Descartes das Fundament gegossen, das ihm Halt und letzte Gewissheit geben sollte, wurde es schon wieder untergraben. Georg Christoph Lichtenberg (Aphorismen) widersprach mit diesen Worten: „Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt.“ Ludwig Feuerbach (Wider den Dualismus von Leib und Seele, Fleisch und Geist) griff den Einwand auf und setzte hinzu: „[…] du sagst: Ich denke. Hat aber nicht auch Lichtenberg recht, wenn er behauptet: ‚Man sollte eigentlich nicht sagen: Ich denke, sondern: Es denkt’? […] Woher kommt es denn, […] daß uns nicht die Gedanken nach Belieben zu Gebote stehen […]?“ Die Antwort auf diese Frage gab Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse): Er meinte, es sei „eine Fälschung des Thatbestandes“, wenn man sage, „das Subjekt ‚ich’ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke’. Es denkt: aber dass dies ‚es’ gerade jenes alte berühmte ‚Ich’ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine ‚unmittelbare Gewissheit’. Zuletzt ist schon mit diesem ‚es denkt’ zu viel gethan: schon dies ‚es’ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit ‚Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich –’ […]“: Ich ist – ich bin – nicht Herr im eigenen Haus! (Vgl. Bernd Nitzschke: Ich denke, also bin ich: Es. Kurze Beschreibung des langen Wegs von Descartes zu Freud, 2007).
Mit Hilfe der Methode der freien Assoziation transferierte Freud den über Jahrhunderte hinweg geführten philosophischen Diskurs in die (psychoanalytische) Praxis. Er ließ „es“ auf der Couch denken. Damit legte er das Fundament des Gedankengebäudes frei, in dem sich der „normale“ Mensch zuhause fühlt. Letzte Gewissheiten fand aber auch Freud nicht. Es gibt sie nicht, außer im Irrenhaus. Oder in einem der Gotteshäuser, in denen fundamentale Wahrheiten gepredigt werden.
Das Kapitel Wahn und Religion ist daher in Schödlbauers Buch von zentraler Bedeutung. Hier vergleicht er „Erlebnisweisen“, die sich „im Verlauf psychotischer Erkrankungen“ entwickeln, mit Geschehnissen, die „im Rahmen religiöser Erlebnisse geschildert werden: Eingebung, Inspiration, Erweckung, Bekehrung“. Den Feststellungen des Psychiaters Klaus Conrad (Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse, 2002) stellt Schödlbauer die Aussagen des Religionswissenschaftlers Rudolf Otto (Das Heilige: über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 1979) gegenüber. Hier wie dort versetzt der Glaube Berge. „Eine Linie möglicher Unterscheidungen zwischen Wahn und religiösem Glauben kann man darin sehen, ob die Glaubensinhalte, die mit Gewissheit vertreten werden, in einem Kollektiv, einer Gemeinschaft des Glaubens aufgehoben sind oder singuläre Überzeugungen bleiben.“ Den Angehörigen einer Religionsgemeinschaft mag das trösten, doch für den, der die Weltgeschichte kennt, ist das kein Trost.
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