Zwischen Traum und Erinnern
Mediale Codierung der Comicrealität
Von Christoph Schmitt-Maaß
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass Comics im zunehmenden Maße vom Computer beherrscht werden. Nun macht aber ein Comic erstmalig nicht nur inhaltlich, sondern auch auf visueller Ebene die neue Präsentations- und Produktionstechnik zum Thema. Schon der Blick auf das Cover verrät: Hier wird multimedial gearbeitet. Unter der URL www.xxhimmel.de findet sich jedoch nur eine leidlich gut gemachte Werbeseite des Carlsen-Verlages zu Yslaires neuestem Comic nebst einem Gespräch mit dem Autor.
Ursprünglich als "Comic-Roman" für das Internet konzipiert, erschien eine erste Version des "XX. Himmels" bei Delcourt. Nun legt Yslaire eine vollständige Neubearbeitung vor, die weniger die Geschichte als ihre Protagonisten im Blickfeld hat. Und so rückt die 98-jährige Psychiaterin Eva Stern in den Mittelpunkt des Erzählens. Rätselhafte E-Mails, die eine Fülle computerverfremdeter Bilder des 20. Jahrhunderts enthalten, werden dieser letzten Schülerin Freuds zugeschickt. An ihnen entfaltet sich die Geschichte des letzten Jahrhunderts: Holocaust, Flowerpower, Vietnam und Mondlandung bilden einen assoziativ-kulturgeschichtlichen Hintergrund, der zur Darstellung von Evas Lebensweg herangezogen wird. Dieser zentriert sich um den seit dem Ersten Weltkrieg verschwundenen Bruder Frank, der als Soldat, aber auch als Fotograf kämpfte. Eva, die nie an seinen Tod glaubte, vermutet ihn hinter dem rätselhaften @nonymous, der ihr die bildgewaltige elektronische Post zukommen lässt. Das Rätsel löst sich nicht auf, hier mögen die beiden geplanten Folgebände Aufklärung leisten.
Yslaires Erzählen ist der Visualistik und der visuellen Gestik verhaftet. Brillante, realitätsnahe Bilder sind seine Stärke; dagegen fällt der Text erschreckend ab. Das anfängliche Bemühen, ausschließlich bildtextuell zu erzählen, wird zugunsten unbefriedigender, teilweise plumper Dialoge aufgegeben. Die herkömmliche Bildordnung wird vernachlässigt, an ihre Stelle tritt um so bewusster die mediale Wahrnehmung in Form einer Kumulation von Schnappschüssen, die das Bild unserer Zeit einfangen, stellvertretend für größere Zusammenhänge stehen und die Medialität unserer Wahrnehmung erkennbar machen.
Yslaire treibt ein bewusstes und vieldeutiges Spiel mit Farben und Hintergründen. Die Auflösung einzelner Panels und ihre diachrone Anordnung findet ihren inhaltlich-punktuellen Ausdruck in der Hervorhebung einzelner Details. Indem jede Erklärung verweigert wird, werden Leser und Protagonistin auf demselben Stand der (Un-)Kenntnis gehalten. Eva Sterns Versuch einer Lektüre deckt sich mit dem Versuch des Lesers. Dadurch erhalten die Bilder eine politische Brisanz, ohne zu vereinnahmen. Allerdings mag man die Reaktionen einzelner Figuren als etwas theatralisch betrachten.
Die Präsentation vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Zum einen ist da die reine Handlungsebene: Eva Stern versucht mit Hilfe ihrer vietnamesischen Praktikantin hinter den Sinn der Bilder zu kommen. Die zweite Ebene ist eine computerähnliche Benutzeroberfläche, die Bild an Bild reiht, ohne Erklärungen zu versuchen. Die letzte Ebene schließlich ist die Erinnerung der 98-Jährigen, die die beiden anderen Ebenen zusammenführen und entschlüsseln will. Der Stern, Name der Hauptperson, wird zum Leitmotiv und verknüpft Nähe mit Ferne und hebt Zeit- und Raumrelationen auf. Eine zusammenfassende Erklärung liefert Yslaire nur an einer Stelle - und bleibt ebenso unangreifbar wie oberflächenverhaftet, wenn er die Psychologin fragen lässt: "Was ist Realität... wenn nicht eine Geschichte, die man selbst erfährt?" Man darf auf die Fortsetzung gespannt sein, die die Fehler des ersten Bandes hoffentlich ausgleichen und zur bildhaften Oberfläche zurückfinden wird - die wahre Stärke Yslaires.