Erinnerung und Identität

Annette Pehnts Debütroman "Ich muß los"

Von André HilleRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Hille

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Als Kind sagte Dorst die Wahrheit." Dorsts Omi fragte oft: "und hast du denn deine Omi lieb, Spätzchen. Omi hatte eine laute Stimme, jammerte über Wasser in den Beinen und küßte Dorst zum Abschied gern auf die Lippen. Nein, sagte Dorst, nicht so doll. Omi tat so, als hätte sie nicht verstanden, und legte den Kopf schräg. Nein, sagte Dorst laut und deutlich."

Der Beginn des Romans erinnert an Ingeborg Bachmanns Kurzgeschichte "Ein Wildermuth". Wenn auch nicht mit der gleichen Eindringlichkeit, so nimmt doch die 'Wahrheit' bzw. der subjektive Begriff von 'Wahrheit' in Pehnts Roman eine zentrale Position ein. Der kindliche Dorst eckt mit dem kompromisslosen Aussprechen der Wahrheit überall an. Daraufhin beschließt er, nie wieder die Wahrheit zu sagen. Seitdem knackt sein Kiefergelenk. Und es knackt oft.

Die Erzählung changiert zwischen den Kindheits- und Jugenderinnerungen der Hauptfigur Dorst sowie einer erzählerischen Gegenwart, in der die Beziehung zu Elner, einer jungen, engagierten Lehrerin im Mittelpunkt steht. Eine Beziehung, die sich zu Beginn nicht recht zu entfalten scheint und doch voll angedeuteter Zärtlichkeit ist. Die Diskussionen zwischen dem Paar werden von einem Thema beherrscht: Warum weigert sich Dorst vehement, Elner in seine Wohnung zu lassen: "Als klar wurde, dass sie ihn nicht zu Hause besuchen durfte, hatte es Kämpfe gegeben. Das hab ich ja wohl noch nie gehört, sagte sie. Schämst du dich für deine Wohnung. Er schüttelte den Kopf. Hast du eine Frau zu Hause. Er schüttelte den Kopf. Willst du mich fernhalten. Er schüttelte den Kopf. Ich finde es hier schöner, sagte er."

Hier setzt sich das zu Beginn etablierte Motiv der Selbstverleugnung fort. In der Semantisierung wird Dorsts Wohnung zum Zentrum eines Geheimnisses, einer verborgenen Wahrheit: der identitätskonstituierende Raum bleibt unbesetzt. Dorst schweigt gegenüber Elner beharrlich, wenn es um seine Wohnung oder seine Vergangenheit geht. So entstehen innerhalb des Romans gegenläufige Bewegungen: Die Identität, die Dorst - und mit ihm der Leser - in seinen Erinnerungen erfährt, verweigert er gegenüber Elner. Der Wissensvorsprung, den der Leser gegenüber Elner hat, begründet die subtile Spannung des Textes: Wie wird sich die Beziehung zwischen dem schweigsamen Dorst und der lebenslustigen Elner weiterentwickeln? Worin besteht das Geheimnis Dorsts?

Dorst, ein Außenseiter von Kindheit an, ist von Unruhe erfüllt. Er ist ständig unterwegs, sei es mit der Straßenbahn, in die er sich von Zeit zu Zeit setzt und ziellos herumfährt, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. So ist dann auch der Titel des Romans programmatisch für die Hauptfigur: "Ich muß [dann] los", sagt er oft zu Elner.

Seit dem qualvollen Tod seines Vaters scheint der Held permanent an einem undefinierbaren Abgrund entlangzulaufen, der manchmal an Suizidalität denken lässt. Er ist anders als seine gleichaltrigen Schulfreunde. Sein Verhalten trägt masochistische Züge, physische Pein scheint ihm nichts auszumachen: Er setzt sich stundenlang dem Regen oder der Kälte aus, er hungert oder meidet, wo es nur geht, Kontakte zu Gleichaltrigen.

Erst in dem 5-jährigen Nachbarsjungen Ruben trifft Dorst auf ein kindliches Alter Ego. Ruben, von seinen arbeitenden Eltern allein gelassen, spielt tagtäglich im Sandkasten. Zwischen den beiden entwickelt sich eine ungleiche Beziehung mit tragisch-komischen Elementen. Sie fangen zusammen Regenwürmer, Dorst bringt Ruben das Angeln bei oder spendiert ihm ein Eis. Als Dorsts Fragen nach Rubens Eltern immer hartnäckiger werden, präsentiert der Junge am nächsten Tag ein nagelneues Polizeiauto. Ansatzweise übt der Roman hier Sozialkritik: die mangelnde Liebe und Zuwendung der Eltern wird mit hochwertigen Geschenken kompensiert.

Stilistisch dominieren knappe, teils elliptische Dialoge, die sich häufig an der Alltagssprache orientieren: "Er wollte ihr etwas Heiteres erzählen, eine Geschichte aus seinem Leben. Also wenn du so lange nachdenken mußt, sagte Elner. Einmal bin ich mit einem Freund durch die Lande gefahren, sagte Dorst [...]. Es war schon fast Abend, die Sonne war niedrig und mild. Der Himmel war irgendwie komisch. Wie irgendwie, fragte Elner. Irgendwie schummrig, sagte Dorst, neblig, ein bißchen dunstig." Überhaupt lebt die Erzählung überwiegend von den zum Teil amüsant dargestellten Alltäglichkeiten. Etwa wenn Elner und Dorst Scrabble spielen und regelmäßig darüber in Streit geraten: "Mykatalog, legte Elner mit einer großzügigen Handbewegung. Elner, sagte Dorst mahnend. Elner murmelte etwas und legte Maykotalg. Mayko-Talg, den hat meine Mutter immer gegen Verbrennungen benutzt, sagte sie entschlossen." Ebenso die folgende Episode: Als Dorst im McDonalds auf ein junges Mädchen trifft, fragt er sie, was denn hier besonders gut sei: "Also das Menu ist geil, mit Apfeltasche und so, sagte sie. Aha, sagte Dorst [...]. Das Mädchen musterte ihn. Find ich jedenfalls, sagte sie knapp. Darf ich dich einladen, sagte Dorst plötzlich, selbst überrascht. Nee danke, sagte sie [...]. Doch wirklich, sagte Dorst und drängte ihr nach. Nee, echt, sagte das Mädchen."

Wo z. B. bei Bachmann der Prozess des Erinnerns kraftvoll ist, das Aufarbeiten der Vergangenheit zur Demontage der althergebrachten Mythen und Konventionen und somit einer neuen Bewusstseinsstufe führt, belässt es Pehnt bei bloßer Deskription. Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart und somit eine Katharsis oder ein Reifungsprozess aus.

Von Zeit zu Zeit erscheinen die Rückblicke ein wenig überdehnt, wird die erzählerische Gegenwart zum Vorwand, um an ihr die chronologisch erzählte Erinnerung aufzuhängen. So bleibt die Figur der Elner - der die eigentliche Sympathie der Autorin gilt, zu merken an der leichten Idealisierung - insgesamt etwas indifferent. In der dominanten Introspektive der Hauptfigur verliert der Roman phasenweise seine Lebendigkeit, insbesondere wenn die Erzählung in der zweiten Hälfte kaum zu der Beziehung zu Elner zurückfindet.

Titelbild

Annette Pehnt: Ich muß los. Roman.
Piper Verlag, München / Zürich 2001.
128 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3492043267

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