Schicksal oder Zufall?

Silvio Blatters Novelle "Die Glückszahl”

Von André HilleRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Hille

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Rasanz steigt Blatter in sein Sujet ein. Hastig umreißt er zu Beginn Hauptfigur, Handlungsort und -situation: Philip, ein Kunstrestaurator Anfang 30, fliegt nach London, um dort ein altes Meisterwerk für das Züricher Museum zu ersteigern. Er erhält den Auftrag, es zu restaurieren. Da er den Rest des Tages frei hat, bummelt er durch die Züricher Innenstadt und trifft zufällig kurz hintereinander zwei alte Bekannte: seinen alten Freund, den Künstler (dessen Rolle während der gesamten Erzählung etwas dubios bleibt), und Jodie, die große Liebe seiner Jugend. Nur flüchtig begegnen sich die Blicke der beiden auf der Rolltreppe eines Kaufhauses. Doch dieser Moment reicht aus, um Philips Erinnerung an einen intensiv erlebten Sommer vor zehn Jahren aufleben zu lassen. Nach dieser kurzen Exposition beginnt die eigentliche Erzählung: die Rekapitulation einer Kette von Ereignissen, die anfangs noch paradiesisch, später jedoch tragisch anmutet.

Es lässt sich nicht verhehlen: die ersten 20, 30 Seiten sind voller Phrasen, Klischees und unerträglicher Simplifizierungen: "Nichts im Leben ist wirklich aufregend und wirklich wichtig." "Der Zufall führte uns zusammen, das Schicksal zwang uns auseinander." Unvermittelt treten stereotype Sätze auf wie diese: "Mann und Frau treiben durch parallele Welten, ob sie nebeneinander oder miteinander schlafen. Die Vereinigung ist Illusion, und nichts ist unzertrennlich."

Mit dem Wechsel von der erzählerischen Gegenwart in die zehn Jahre zurückliegende Vergangenheit gewinnt die Erzählung jedoch an Ruhe und Stringenz. Umgehend wird ihr Gestus angenehmer, geschmeidiger. Es scheint, als würde Blatter erst hier zu seiner Erzählung finden: Im Tennisclub lernt der 23-jährige Philip Jodie kennen, die zwar zunächst nicht die Frau seines Begehrens ist, bald jedoch eine starke Faszination auf den Jugendlichen ausübt. Sie wird "die Liebe dieses Sommers." Bald verfallen die beiden auf die Idee, Philips alleinstehenden Vater und Jodies alleinstehende Mutter zu verkuppeln. Als dies gelingt, ist das "gemischte Doppel" perfekt.

Ausnahmslos verbleibt Blatter nun bis zum Schluss in der Vergangenheit. Die Geschichte beginnt zu fesseln, die Figuren gewinnen an Plastizität. Wirklich lebendig wird die Erzählung jedoch erst in der Schilderung des ambivalenten Verhältnisses Philips zu seinem Vater Markus, das von gegenseitiger Abgrenzung und wechselseitiger Zuneigung geprägt ist. Markus, der seinen Sohn allein großgezogen hat, steckt in einer Art Midlife-Crisis und erlebt mit der Liebe zu Jodies Mutter einen zweiten Frühling. Der Leser richtet sich, bei all der Harmonie und Verliebtheit, schon auf ein gemütliches Happy End ein, bis, ja bis Philip die Glückszahl zieht und eine Reise nach Mailand gewinnt. "Was als Idylle oder Romanze geplant war, sollte an Härte gewinnen, mehr Schärfe und Drive bekommen zum Abgrund. Ein Drama musste es werden." Von Zeit zu Zeit durchbricht der Erzähler die Fiktion der Geschichte und ihrer Entstehung: "Ich bin nicht der Regisseur. Ich sehe lediglich einen Film. Ein Drehbuch, das vielleicht gegen den Wunsch des Autors und auf Befehl des Produzenten (des Schicksals, des Zufalls) umgeschrieben wurde."

Immer wieder wird die Frage aufgeworfen: Warum so und nicht anders? Schicksal und Zufall sind zentrale Begriffe bei Blatter. Warum treffen sich zwei Menschen? Warum entwickelt sich alles so, wie es sich entwickelt hat? "Schmiedet ein Wille die Ereigniskette, steckt eine Idee dahinter? [...] Gewissermaßen ein Konzept, eine höhere Macht?"

Unter diesem Aspekt wird letztlich auch der Titel der Erzählung ironisiert: Die Glückszahl, die zum Gewinn der Reise führte, entpuppt sich als wahre 'Pechzahl'. Glück und Unglück, Schicksal und Zufall, Lebensfreude und Tragödie liegen bei Blatter dicht beisammen: "Ein unbedeutender Vorfall gilt als Zufall", erst das "Gewicht macht ein Ereignis zum Schicksal." Diese starke Beschäftigung mit dem Schicksalsbegriff trägt beinahe schon religiösen Charakter. Aber die Frage 'Schicksal oder Zufall?' lässt sich, und sei sie noch so oft gestellt, nicht beantworten.

Titelbild

Silvio Blatter: Die Glückszahl.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2001.
192 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 362700082X

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