Dekonstruktiver Sozialismus

Nancy Frasers Forderung nach mehr als einer halbierten Gerechtigkeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1991 ist die deutsche Ausgabe von Judith Butlers „Gender Trouble“ erschienen und löst seitdem Kontroversen aus. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung folgte 1993 ein Sammelband mit Beiträgen von vier namhaften US-amerikanischen Feministinnen und Gendertheoretikerinnen zum „Streit um Differenz“. Darunter neben Butler selbst Seyla Benhabib, Drucilla Cornell und die Politologin Nancy Fraser. Sie alle sind mittlerweile mit eigenständigen Publikationen in der vom Suhrkamp Verlag veröffentlichten Reihe „Gender Studies“ vertreten. Von Nancy Fraser liegt nach „Widerspenstige Praktiken“ mit „Die halbierte Gerechtigkeit“ nun bereits der zweite Titel vor. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen, die in den USA im Laufe der 90er Jahre zunächst in verschiedenen Sammelbänden und Periodika publiziert wurden und auch in Deutsch – teilweise jedoch in anderer Übersetzung – bereits seit längerem vorliegen. Für zwei wird dies in einer angehängten „Editorischen Notiz“ ausgewiesen. Bei anderen erfährt man es nur aus Fußnoten innerhalb der jeweiligen Texte. Es fehlt jedoch der Hinweis, dass auch der Text „Falsche Antithesen“ schon seit geraumer Zeit auf Deutsch vorliegt, und zwar in dem bereits erwähnten Band „Der Streit um Differenz“, dort allerdings unter dem Titel „Falsche Gegensätze“. Unklar bleibt ferner, ob die zahlreichen Abweichungen des nunmehr vorliegenden Textes auf eine Überarbeitung zurückzuführen sind oder nur auf die neue Übersetzung. Ein doppeltes Ärgernis.

Doch wenden wir uns dem Inhalt zu: Zum einen erörtert Fraser, eine in New York lehrende Politologin, konkrete politische Fragen, wie etwa die des „Familienlohns“ oder Ereignisse, die Anfang der 90er Jahre die amerikanischen Gemüter nicht zu Unrecht erhitzten, wie das Verfahren wegen sexueller Belästigung gegen den damals auf seine Bestätigung als Bundesrichter hoffenden Clarence Thomas. Des Weiteren befasst sich Fraser mit Iris Marion Youngs „Justice and the Politics of Difference“ und Carole Patemans „The Sexual Contract“. Theoretisch grundlegender geht es in der Erörterung des Habermas’schen Begriffs der Öffentlichkeit zu, den sie für den Feminismus fruchtbar machen möchte, und in ihrer Kritik an Lacans „Spielarten der Diskurstheorie“, mit denen Feministinnen „nichts zu schaffen haben sollten“: Lacans Theoreme seien nicht nur „ahistorisch“, sondern er sehe zudem „die einzige Alternative zur konventionellen Geschlechtsidentität in der Psychose“. Darüber hinaus argumentiere er „zirkulär“.

Der zentrale und wichtigste Aufsatz steht jedoch gleich zu Beginn des Bandes. Er ist es auch, der den Titel des Buches rechtfertigt, indem er die „Dilemmata der Gerechtigkeit in ‚postsozialistischer‘ Zeit“ aufzeigt und zu lösen versucht. Nun wurde bekanntlich spätestens seit Gilligans Kritik an Kohlberg Gerechtigkeit von feministischer Seite nahezu unisono als männlicher Wert kritisiert, der durch eine weibliche Fürsorgeethik zu ersetzen sei. Doch seit einigen Jahren werden zunehmend feministische Stimmen laut, die sich für die Tugend der Gerechtigkeit und für gerechte Verhältnisse einsetzen. Zu ihnen zählt in Deutschland etwa Eva-Maria Schwickert mit ihrem kürzlich veröffentlichten Buch zum Verhältnis von „Feminismus und Gerechtigkeit“. (Vgl. literaturkritik.de 6/2001) Fraser steht also nicht alleine da, wenn sie sich für gerechte Verhältnisse stark macht. Die von ihr propagierte Gerechtigkeit fußt auf zwei Bedingungen: materieller Umverteilung und Anerkennung der Differenzen. Beide Forderungen stehen allerdings mitunter in einem nur schwer zu überwindenden Spannungsverhältnis, das die Autorin an den vier „Differenzierungsformen“ Klasse, ‚Rasse‘, Gender und Sexualität deutlich macht. Während Klasse das eine Ende des begrifflichen Spektrums einnimmt und Sexualität das andere, so Fraser, handelt es sich bei Gender und ‚Rasse‘ um „dilemmatische Differenzierungsformen von Großgruppen“. Bei den beiden einwertigen ‚Identitäten‘ Klasse und Sexualität liegen die Dinge einfach: Für die ‚ausgebeutete Klasse‘ des ‚Proletariats‘ steht die Frage der Umverteilung ebenso eindeutig im Zentrum wie für die verachtete Sexualität die Frage der Anerkennung. Für beide wären jeweils systemimmanente und systemtransformierende Lösungsmöglichkeiten denkbar. Im Falle der ausgebeuteten Klassen stehen hierfür einerseits der Unterprivilegierung und Elend nur kompensierende und somit systemimmanente „liberale Wohlfahrtsstaat“ und der systemtransformierende „Sozialismus“ andererseits. Für die verachteten Sexualitäten entsprechend der „übliche Multikulturalismus“ mit seiner „oberflächlichen Neuzuteilung von Respekt an bestehende Identitäten existierender Gruppen“ oder aber die Dekonstruktion mit der „gründlichen Umstrukturierung von Anerkennungsverhältnissen“, die zu „destabilisierten Gruppendifferenzierungen“ führt.

Wo Frasers Präferenzen liegen, ist keine Frage. Entsprechende systemimmanente und systemtransformierende Alternativen gibt es auch hinsichtlich der „dilemmatischen Differenzierungsformen“ Gender und ‚Rasse‘. Bei ihnen kompliziert sich die Sache jedoch. Denn beide sind sie „zweiwertig“, worunter Fraser versteht, dass sie „sowohl in die Politik der Umverteilung als auch in die Politik der Anerkennung verwickelt“ sind. Denn Menschen, so Fraser, die sowohl unter kultureller als auch unter ökonomischer Ungerechtigkeit leiden, „benötigen Anerkennung ebenso sehr wie Umverteilung“. Sie müssen also „einerseits ihre Besonderheit geltend machen und sie andererseits verleugnen“. Hierfür hat die Autorin den treffenden Begriff „Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemma“ gefunden. Beide Arten der Ungerechtigkeit, so die Autorin weiter, bestehen nun nicht schlicht nebeneinander. Vielmehr verstärken sie sich „auf dialektische Weise“ gegenseitig. Dementsprechend sieht Fraser einen erfolgversprechenden Weg zur Verringerung oder gar Beseitigung von ökonomischer und kultureller Ungerechtigkeit in der Verknüpfung von „transformativer Umverteilung mit transformativer Anerkennung“, also der Kombination der „sozioökonomischen Politik eines sozialistischen Feminismus“ mit der „kulturalistischen Politik eines dekonstruktiven Feminismus“. So könne die „Kleinarbeitung“ des Umverteilungs-Anerkennungs-Dilemmas erreicht werden. Das Dilemma auflösen zu wollen, scheint ihr hingegen zu optimistisch.

Mit Hilfe des von ihr propagierten dekonstruktiven Sozialismus lässt sie am Horizont die Utopie einer Kultur aufscheinen, „in der laufend neue Konstruktionen von Identität und Differenz frei gebildet und rasch wieder dekonstruiert werden“. In ihr hofft sie, ein „glaubwürdiges, überwölbendes emanzipatorisches Projekt“ gefunden zu haben, dessen Absenz sie in der Einleitung beklagt. Doch leider belässt Fraser es bei dem „utopischen Bild“ in der Ferne, ohne zumindest erste Schritte auf dem Weg dorthin konkreter ins Auge zu fassen. Sicher hätte dieses Unternehmen leicht den Rahmen eines Aufsatzes sprengen und ein ganzes Buch füllen können. Doch hätten es die Lesenden vermutlich gerne in Kauf genommen, hierfür eventuell auf die Wiederveröffentlichung der folgenden Texte verzichten zu müssen.

Titelbild

Nancy Fraser: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaates.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
339 Seiten, 12,20 EUR.
ISBN-10: 3518117432

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