Babel und Fabel
Gerold Späth demonstriert die Lust des Fabulierens
Von Lutz Hagestedt
Wozu nimmt eine kleine Gesellschaft in einer Nussschale - Skipper, Schiffskoch, Maschinist - noch eine Landratte mit an Bord? Bloß weil sie lesen kann? Und warum heuert dieser Neuling namens James Keller auf der White Queen an, einem völlig heruntergewirtschafteten Raddampfer? Nur weil er sonst nirgends Arbeit findet? Und was bewegt Mascha, das schönste Mädchen der Welt, ihm auf die 'Galeere' nachzuspringen? Wo sie noch kaum ein Wort miteinander gewechselt haben? Und wo soll's hingehen mit diesem verkommenen Müll- und Kehrichtschiff, dieser schwimmenden Rostlaube aus der Gründerzeit? Rauf in die Sümpfe am oberen Flusslauf, um James an die Kannibalen zu verfüttern? Und weshalb möchte der Kapitän, dieser Kaloschengoschier, die Reise via Big Bay zum Katarakt hinauf haarklein dokumentiert haben, wenn er doch paranoid ist und Protokolle fürchtet wie der Teufel das Weihwasser?
Tscha-tscha-tscha machen die Schaufelräder, doch zum Tanz bleibt keine Zeit: Alle Naslang braucht die Maschine (die Domäne von Mister Sumner) eine 'Rutsche', weil Seine Admiralität das Geld für die Kohle verspielt haben. Eine Rutsche ist eine Slide stinkenden Abfalls, und die hält nie lange vor. So schuftet also James Keller-Gallagher (James wie Jim wie Shem the Penman und Gallagher wie Henighan und Flanagan oder Finnegan) in der Gluthitze, damit der Salondampfer nicht an Fahrt verliert. Und muss zwischendurch Kapitän Roald Mandersson Rede und Antwort stehen, Mascha bedienen und sich in der Kombüse (der Domäne des chinesischen Kuli, genannt Tipu) ruinöse Schachereien gefallen lassen.
Statt Komfort, Ruhe, Freundlichkeit also Schufterei bis zum Abwinken. Zum Hauptgeschäft, dem Logbuch, kommt er indes nicht: "Und kühl beflügelt gibt der Schreiberling freimütig zu, bis anhin noch nicht viel, eigentlich gar nichts, genaugenommen keine einzige Zeile, da dauernd Slide um Slide und so weiter und drum sozusagen nie richtig Zeit, wirklich schlicht nicht."
Ein verfluchter Beschiss, das alles, jeder unzufrieden und an der Grenze zur Meuterei: Maschinist Sumner ist sauer, weil der Kapitän die White Queen immer tiefer in den Ruin fährt, Schiffskoch Tipu, weil die diversen Irrsinnsverträge, die er dem scheint's so unbedarften James (alias Shem oder Shaun usw.) aufnötigt, platzen wie ungedeckte Schecks, und Madame Mascha schließlich, weil sie - heiß und eng wie ihr Kleiner Salon - zusehen muss, wie ihr "Stahlstößel" unter der Mühsal des Jobs zur "schlappen Gurke" degeneriert.
Die White Queen ist ein Lebenszeit-Diebstahlsschiff: Sie schippert tagein, tagaus auf einem "ewigtrüben Spiegel", flussauf und flussab, "nichts zu sehen und ringsum noch mal nichts", während die Wochen und Monate wie Minuten und Sekunden verfliegen. Dreimal öffnet Gerold Späth seinen wundersamen Erzählfächer, um uns zu zeigen, wie ein Leben im ereignislosen Raum verlaufen kann: Die "Kurze Vita des genialen Linsenschleifers Bloomfeldt" besteht aus Wiederholungen mit geringfügigen Variationen; der Knabe, der einem weißbärtigen Waldmenschen ewig und drei Tage aus alten Schwarten vorlesen muss, ist für immer im Dschungel gefangen; und der feiste Mechaniker, der die Liebe und eine Schar Kinder kommen und gehen sah, hat schon seit "langen rostigen Jahren" keine Perspektive mehr. Doch dieser Mechaniker ist "Vorgeschichte" nur zu unserer Geschichte: Auch er war einmal ein junger Kerl mit einer schönen Frau, auch er träumt schwer vom stampfenden Tscha-tscha-tscha des Raddampfers, auch er heißt Keller und hat, potzblitz, eine junge, schlanke, wunderschöne Tochter!
Wer da die Nachtigall nicht trapsen hört, der ist für die Literatur verloren. Eine Literatur, die aus der Literatur kommt und in sie zurückführt, die Maskenspiel ist, Mythos und Märchen - Sisyphos, der Froschkönig und "Zwerg Rumpelstilz" werden bemüht. Zugleich aber liest sich Gerold Späth diesmal wie der mittlere Joyce (um nicht "der späte" zu sagen), komisch, bizarr, wortverliebt - Seggenstrünk, Schlawickel, Hundsfurz -, jedoch unangestrengter, beiläufiger, schlanker auch, wie eine Kombination quasi von Avantgarde und Genremalerei, wobei 'Avantgarde' die moderne Registertechnik meint, mit der Späth arbeitet, das erzählte Erzählen und das virtuose Spiel mit einem zyklischen Geschichtsmodell, und 'Genre' die Geburt des Ereignisses aus der Tradition, dem Sujet.
Wir sagen nicht "Moby Dick" oder "Lord Jim", denn wir wissen es nicht genau. Das Textbegehren jedenfalls, das vom Kapitän an den Bordsekretär ergeht, die Forderung nach einem präzisen Fahrtbericht, "buchstabengenau" bis zum "letzten Punkt!", ist auch eine Forderung des Erzählers an sich selbst, ein Verlangen höchster Autorität sozusagen. Und diese Autorität steht weit über der des Kapitäns, der ohnehin laufend zur lächerlichen Figur herunterstilisiert wird. Kapitän Mandersssons ist zwar auch der erster Kritiker unseres Erzählers und wird die erste Version seines zu farbig geratenen Berichts in Fetzen reißen, aber er wird nicht das letzte Wort haben in dieser Geschichte, in der es darum geht, dem "Schwindelsystem" an Bord der White Queen ein Ende zu bereiten und stattdessen ein Schwindelsystem höherer Ordnung zu etablieren. "Wir brauchen eine erstklassige Hand", sagt James Keller, als er das Ruder übernimmt, um den Raddampfer wieder "in Schuss" zu bringen. Auf geht's zu neuen Ufern mit einem richtigen Könner - und das ist auch gut so!
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