Dem Frevel Material liefern

Karl Günther Hufnagels düsteres Sittengemälde

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jedes vortreffliche Kunstwerk, sagt Friedrich Schlegel, von welcher Art es auch sei, weiß mehr, als es sagt und will mehr, als es weiß. Daher löst es, für seinen Urheber oft überraschend, einen unendlichen Prozess der Auslegung in Gang, oder es bleibt, für den Autor kränkend, unverstanden und uninterpretiert. Darüber, wie hoch der Grad der Fremdheit oder Offenheit des Kunstwerks sein darf, damit der Prozess des Verstehens eingeleitet wird, kann man nur mutmaßen. Momentan wohl eher nicht hoch. Derzeit ist leicht Konsumierbares gefragt, ein Oberflächengleiten, das "Glamour-Ding" (Kathrin Röggla), mit dem sich Autoren zu Medienfiguren stilisieren lassen. Das Medium ist eher Pop als Literatur, eher Kitsch als Kunst.

Der Ich-Erzähler in Karl Günther Hufnagels Roman "Geburt eines Dichters im Bürgerkrieg" ist Journalist und arbeitet in einem Milieu, das diese Tendenz seit langem fördert: die Boulevardpresse. Er ist kein Sympathieträger, sondern ein Schmierant, eine Art Franz Josef Wagner des Reportagejournalismus. Dies wird eindrucksvoll deutlich in einer Gefängnisszene, in der der Reporter die Kindsmörderin Klopstock befragt. "Wir bezahlen Ihren Anwalt", lockt er, denn seine Leser gieren nach "authentischen" Geschichten. Als die Klopstock sein Angebot zurückweist, rastet er aus: "Ich werde Sie häuten. Fakten, Frau Klopstock, Sachverhalte sind unkompliziert. Die klären sich von alleine. Ich werde sie aneinanderreihen, bis sie ein brauchbares Bild von Ihnen ergeben. Jeden Ihrer Liebhaber werde ich befragen, und ich bin mir sicher, nichts von Ihrer Anmaßung wird übrigbleiben." Die paar Tatmotive, die sich der Journalist zusammenreimt, ergeben ein Zerrbild aus Eigensucht und Hoffahrt, wie es ganz ähnlich die Sensationspresse im Fall Monika Weimar entworfen hat: "Sie sind eine miese Frauensperson, die außer Männern nichts im Sinn hat. Sie haben Ihre Kinder von Anfang an vernachlässigt, die Nachbarn bestätigen deren Geschrei. Die kalten Augen, die gierigen Hände, die morden können. Ihr Porträt entsteht, die blasse Haut des Gesichts, in der rötliche Flecken die Unrast verraten, die abgekauten Fingernägel, die herausfordernde Haltung des Körpers in der engen Strickjacke mit Ausschnitt, eine Frau, die kriegen will, die auf Genuss lauert."

Aus unzähligen Gerichtsfilmen kennen wir dieses Verfahren, den Angeklagten mit der perfiden Logik 'einfacher Wahrheiten' zu konfrontieren. Deren Basis ist, Hufnagel zufolge, der "Humus der Demokratie", betrifft also die gesamte Gesellschaft. Ihre Komponenten sind 'gesunder Menschenverstand', hausgemachte Psychologie, ein unerschütterliches Weltbild und "braver schlechter Geschmack". Versatzstücke des Trivialen, denen man bei Volksbefragungen ebenso begegnet wie in der Ratgeberliteratur oder im "Literarischen Quartett". Man macht es sich leicht und hat es dadurch leichter.

Hufnagels Hauptfigur ist ein Meister auf diesem Gebiet, und die Welt, in der er agiert und die er für seine Leser erschafft, hält viele Déjà-vu-Erlebnisse für uns bereit, die an die alte Bundesrepublik erinnern: an die siebziger Jahre etwa, als die Rote Armee Fraktion Terroranschläge auf Repräsentanten des Systems verübte, oder die achtziger Jahre, als beim Münchener Oktoberfest eine Bombe hochging und für Jahre den Wiesnfrieden beeinträchtigte. "Geburt eines Dichters im Bürgerkrieg" ist - vom Sujet her - auch nicht weit von Heinrich Bölls Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" (1974) entfernt. Im Unterschied zu Böll jedoch erzählt Hufnagel seinen Roman aus der Perspektive des Reporters, der für ein sittenwidriges Blatt arbeitet und zwar nicht gegen das Recht, aber gegen den Kodex der "tradierten Anständigkeit" verstößt. Seine Arbeit ist Lüge, sein Leben ist Lüge, doch seine Leser glauben an die Wahrheit seiner Kolumnen und die "Unfehlbarkeit" seiner Reportagen.

Plötzlich aber wendet sich für ihn das Blatt, wird der Jäger zum Gejagten: Seine déformation professionnelle hat einen jungen Mann auf den Plan gerufen, der sich als eine Art "Reinigungsunternehmer" versteht. Dem ersten Anschlag entkommt der Reporter nur knapp. Unverzüglich macht er sich auf die Suche nach seinem Mörder. Er, dessen Job Selbstaufgabe verlangt, Anbiederung, Erpressung, Gemeinheit, Kitsch, Niedrigkeit, entdeckt plötzlich "einen Rest Eigensinn", Ehrgeiz, Charakter. Er gebiert sich selbst zum Dichter, er schreibt sich eine Geschichte auf den Leib, mit Herzblut und im Wortsinne: "Weil ich kein Papier habe, Papier verabscheue, schreibe ich mir auf den Bauch. [...] Reicht der Platz nicht aus, scheue ich nicht davor zurück, die Oberschenkel zu beschreiben."

Anders als Böll geht es Hufnagel nicht darum, mit seinem Roman allfällige Empörung über die gewissenlosen Praktiken der Medien herbeizuschreiben. Die Zeiten sind längst vorbei. Auch steht ihm nicht der Sinn nach der einfachen Verwandlung eines Saulus zum Paulus, von der Lüge der Journaille zur Wahrheit der Dichtung. Sein Protagonist erntet für die angemaßte Dichterrolle und das "Geniegehabe" keinerlei Anerkennung, nicht einmal von denen, die ihm nahestehen: "Erbärmlich ist deine Billigkeit, deine Groschenphantasie, die Maskerade, die du dir schenkst mit diesem Karel." Karel ist die Hauptfigur seiner Fiktion, sein Alter ego, eine Prometheus-Variante vielleicht, die selbstgenügsam an sich herumknetet, das Nichts zu erschaffen, um die Welt "auf Null" zu bringen.

Den Luxus des Schreibens versteht der zum Dichter geborene Reporter nicht als Ausflucht, aber die dargestellte Welt ist Prostitution, er geht für die Zeitung "anschaffen", er dient seit Jahr und Tag der Gemeinheit und Niedrigkeit - und hat damit seiner Kunst selbst den Boden entzogen. Als Poet muss er unverstanden bleiben, gerade er. Hufnagel hat für diesen permanenten Normverstoß das alte Wort "Frevel" gewählt, dessen religiöse Konnotation hier reichlich Nahrung erhält, weil hinter den Machenschaften der Presse, den zerrütteten sozialen Verhältnissen, den kaputten Familien, dem Reinheitswahn des Terrorismus ein Menschheitsproblem steht, wenn nicht gar ein metaphysisches Problem. Denn wenn ein System gut funktioniert, das von Wirklichkeit nichts versteht, aber mit der Zeitungswirklichkeit zurechtkommt, wenn es wider besseres Wissen mit einfachen Wahrheiten operiert, wenn es sich - durchschaubar und gleichwohl wirksam - immer wieder Opfer selbst darbringt und kathartisch Fakten schafft, dann erscheint Erkenntnis als störendes Moment, dann ist Moralität keine Forderung an die eigene Lebensführung und durch keinen Kategorischen Imperativ einzulösen, dann bewirkt Politik nichts anderes als dem Frevel Material zu liefern. "Wir verhindern den Bürgerkrieg, indem wir ihn anstiften", sagt anmaßend der Chefredakteur des Boulevardblatts, "Wir sind für Unterschiede, für saubere Fronten. Wir bestimmen, was böse ist und was gut. Ohne uns das Chaos."

Das System funktioniert, solange der Leser morgens am Kiosk steht, seine Groschen abzählt und nicht nach Kunst verlangt. Hufnagels Roman wagt hier einen schwierigen Spagat. Seine Fiktion ist anspruchsvoll, schwer durchschaubar und brüchig. Seine Welt ist konsequent hässlich und nicht selten opak, aber sie funktioniert. Der Terror fordert erste Opfer, der Bürgerkrieg herrscht permanent. Charly, ein Berber und Saufkumpan des Erzählers, wird mit Benzin übergossen und angezündet. Auch die 22jährige Fotoreporterin Angelika, Geliebte und "Muse", beginnt "Lügner zu vernichten" und tötet als erstes den eigenen Vater. Sie verführt den Attentäter und Reinheitsfanatiker Bernhard und konfrontiert ihn mit dem Ekel der Sexualität. Der Reporter verendet, wie es scheint, an der Opus-Phantasie, die er dem eigenen Blut abgetrotzt hat. Sein Leben war Exzess, Lüge, Schmutz, aber er hatte seine Fans. Bis zum Schluss.

Titelbild

Karl Günther Hufnagel: Geburt eines Dichters im Bürgerkrieg. Roman.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
176 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3929232022

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