Vorbemerkungen von Christine Kanz
Für das Wort 'Gender' gibt es im Deutschen einfach keine adäquate Übersetzung. In all seiner Vielschichtigkeit schwingt hier nicht nur immer schon der Konstruktionscharakter von 'Geschlecht' mit, es umfasst nicht nur das 'männliche' sowie das 'weibliche' Geschlecht, sondern es meint zugleich stets auch die Gesamtheit der Geschlechterverhältnisse.
Nach Auffassung der Soziologin Judith Lorber ist gender eine soziale Basis-Institution, die - vergleichbar etwa den Institutionen Familie und Religion - das soziale Leben in allen gesellschaftlichen Bereichen grundlegend strukturiert und prägt (vgl. zu Judith Lorbers Buch "Gender-Paradoxien" die Rezension von Wiebke Cherubim-Wirth).
Dass immer mehr Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen diese Ansicht teilen, zeigt die Flut an theoretischen und anwendungsorientierten Studien über und zu den gender studies, von denen wir in dieser Ausgabe einen sehr geringen Teil präsentieren können.
Ob es um die Dekonstruktion der Dichotomie von sex (biologisches Geschlecht) und gender in den Theorien von Judith Butler und Teresa de Lauretis geht, um das alltägliche doing gender, also die sich perpetuierende Herstellung von Geschlecht durch jedermann und jedefrau, die die internalisierten Frauen- und Männerbilder tagtäglich aufs Neue wiederholt (vgl. dazu die Rezensionen unter den Rubriken "Frauenbilder" und "Männerbilder" in diesem Schwerpunkt), oder ob es sich um Degendering- bzw. Undoing-Gender-Konzepte handelt, die eine Neutralisierung der Geschlechterpositionen anvisieren: 'Gender' ist zu der Basis-Vokabel innerhalb der Kulturwissenschaften geworden. Kaum eine Dissertation oder Habilitation kommt heutzutage mehr ohne die Einbeziehung der Geschlechterkategorie aus.
Nicht immer, vielleicht sogar immer weniger, ist da die Einbindung der Gender-Kategorie noch an geschlechterpolitische, gesellschaftskritische Ziele geknüpft. Das wiederum nährt unter anderem die innerhalb der deutschen Geschlechterforschung derzeit virulente Diskussion um die 'passende' Etikettierung. Soll man sie nun "Gender Studies" nennen oder ist es nicht besser, an Begriffen wie "Feministische Wissenschaft" oder gar "Frauenforschung" festzuhalten? Für viele Wissenschaftlerinnen, vor allem für diejenigen, die bereits in der Frauenforschung der siebziger Jahre mitgewirkt haben, ist es noch heute selbstverständlich, mit dem Adjektiv "feministisch" den politischen Impetus dieser wissenschaftlichen Strömung zu betonen und sie als "eine Form kritischer Theorie" kennzuzeichnen. Sie hegen ein wenig die Befürchtung, dass die gender studies, die sich schließlich aus den women's studies entwickelt haben, in ihrer Einbeziehung auch des männlichen Geschlechts sowie der Differenzkategorien 'Rasse', Klasse und sexuelle Präferenz oder in ihrer Dekonstruktion klassischer Subjektpositionen die mühsam erkämpften und immer noch zu erringenden frauenpolitischen Ziele aus den Augen verlieren könnten.
Andere kritisieren eine (inhaltliche) Beschränkung auf die Frauenforschung vor allem deshalb, weil sie die Gefahr berge, den Opferdiskurs fortzuschreiben. So bemängelt Rebekka Habermas in ihrer Habilitation über die bürgerliche Familie (vgl. Rezension von Thomas Anz), dass ein Teil der Frauenforschung zum Bürgertum das Verhältnis von Frauen zur 'allgemeinen Geschichte' als eines der Unterdrückung begreife. Statt dessen, so ihre Position, die sie mit den wohl meisten Vertreter/inne/n der neueren Geschlechterforschung teilt, sollte 'Geschlecht' als relationale Kategorie gefasst werden, die sich in einem steten Prozess der Veränderung befinde. Mit ihr könne auch das männliche Geschlecht in seiner geschlechtsspezifischen Verfasstheit analysiert, anstatt weiterhin als allgemeine Norm gesetzt zu werden.
Dennoch bestreiten solche Positionen keineswegs die Bedeutung derjenigen Projekte, die sich um die immer noch notwendige Rekonstruktion einer weiblichen Kulturgeschichte bemühen. Denn diese Aufarbeitung der sogenannten herstory bleibt so lange notwendig, bis die jahrtausendelang ausschließlich an männlichen Leistungen und Errungenschaften orientierte Kulturhistorie um die Leistungen und Anteile der Frauen ergänzt, also revidiert worden ist (vgl. dazu die Rezension von Geret Luhr über Wolfgang Beutins Mystikerinnen-Studie sowie die beiden Rezensionen von Mirja Stöcker über weibliche Persönlichkeiten der Kulturgeschichte und über Schweizer Schriftstellerinnen).
Tendenziell aber wird das Adjektiv "feministisch" innerhalb der neueren Gender-Theorien zunehmend aus dem Vokabular gestrichen, da es immer auch auf 'Ausschluss bzw. 'Ausgrenzung' zielt, während die Gender-Kategorie eben offeriert, sich auch mit der Konstruiertheit männlicher Identitäten auseinanderzusetzen.
Dass sich auch immer mehr Männer für die Geschlechterforschung zu interessieren beginnen und hier verständlicherweise allererst einmal über die notwendige Neukonzeption des eigenen Geschlechts nachsinnen wollen, hat es mit sich gebracht, dass es inzwischen eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Ansätze (von Männern wie Frauen!) innerhalb der sich auch in Deutschland gerade etablierenden men's studies gibt (vgl. dazu die Rezensionen von Rolf Löchel über eine Studie von Stephanie Grimm und von Felix Respondek über ein Buch von James Hollis).
In bestimmten gesellschaftlichen Milieus ist das Wort 'feministisch' schon länger zu einer regelrechten Reizvokabel mutiert. Als Schimpfwort insbesondere für erfolgreiche und durchsetzungsfähige Frauen macht es in reaktionären Kreisen - im Zuge des sogenannten back lashs - die alltägliche (Talk-)Runde. Rolf Löchel geht dem neuen alten Antifeminismus in seinen Rezensionen über die "Repräsentation von Männlichkeit in Punk und Rap" und über den Antifeminismus in den Printmedien - Stichwort: "Freiheit oder Feminismus" - nach (vgl. zu den Frauenbildern in den Medien auch die Rezension von Ulrike Kaiser).
Erstes Fazit: Das neutral alle möglichen Geschlechter umfassende Wort 'gender' ist von geringerer Brisanz als das Reizwort 'feministisch' - und es haftet ihm in all seiner Komplexität zudem ein akademischerer 'touch' an. Aus der Sicht mancher ist das auch eine Umschreibung für 'theoretische Abgehobenheit' oder 'mangelnden Realitätsbezug'. Pragmatischere Sichtweisen werden eingeklagt, Vermittlungsversuche geschaltet.
Wenn eine neue "Einführung in die feministische Theorie" (s. Rezension der Verfasserin über neuere Einführungen) vor allem danach fragt, in welchem Verhältnis Analysen der sozialen Differenzen zwischen Männern und Frauen zu Analysen stehen, die sich auf die sozialen Differenzen unter Frauen konzentrieren, dann spiegelt sie zugleich, dass und wie die Feministische Wisssenschaft sich derzeit darum bemüht, Leitfragen der gender studies zu integrieren, ohne dabei alte Ansprüche und Ansätze ganz und gar aufzugeben.
Das ist nicht selten eine Gratwanderung. Die in allen Disziplinen und Ländern debattierten Positionen von Judith Butler und Donna Haraway oder Judith Lorber können nicht ignoriert werden. Im Gegenteil: Die neueren Facetten der Sex-Gender-Debatte, insbesondere die dekonstruktiven Argumente Judith Butlers, ihre philosophisch-erkenntniskritische Pespektive und ihr sprachtheoretischer Bezugshorizont lassen es notwendig erscheinen, das Verhältnis von Natur und Kultur, sex und gender neu zu formulieren. Dass es hier vor allem um die Auseinandersetzung mit sprachlich-diskursiven Formen und Verfahren geht, die die Geschlechter und ihre Beziehungen als kulturelle Konstrukte erscheinen lassen, bringt es mit sich, dass hier zuallererst einmal die Kulturwissenschaften gefragt sind, die auch immer neue Versuche der Anknüpfung oder Weiterführung produzieren (vgl. die Rezensionen unter der Rubrik "Feministischen Philosophie und Gender Theorien" u.a. von Antje Gimmler über Helga Nagl-Docekal oder Rolf Löchel über Carmen Gransee).
Die Sozialwissenschaften hingegen sind natürlicherweise tendenziell weniger an Fragen nach Symbolisierung oder Repräsentation von Geschlechterdifferenz interessiert als an gegenstandsbezogenen Fragestellungen (vgl. dazu etwa die Rezension von Matthias Kraus über einen Aufsatzband zur Psychoanalyse des spätmodernen Geschlecherverhältnisses und die Rezension von Rolf Löchel über "Die Bildung der Geschlechter"). Vor allem die sozialwissenschaftlich orientierten gender studies kritisieren an den kulturkonstruktivistischen Ansätzen, dass diese die Frage nach dem psychophysischen 'Frausein' oder 'Mannsein' vernachlässigen. Die sozialen Ungleichheitslagen im Geschlechterverhältnis werden auf diese Weise ausgeblendet, so befürchten sie.
Insgesamt sind es jedoch auch zahlreiche Missverständnisse, die zu einer nicht selten unproduktiven Kritik an Butler geführt haben. Gerne übersehen wird z. B. nicht nur die Kontextgebundenheit ihrer Theorien im angloamerikanischen Raum, und hier in den schwul-lesbischen Emanzipationsbewegungen, sondern vor allem die Tatsache, dass Judith Butler Diskurstheoretikerin ist, der es um "Sprechakte und Repräsentation in der Sprache" geht.
Zweites Fazit: Die Hoffnung der Philosophin Waltraud Ernst, dass "feministische Wissenschaft zum Paradigma für alle Wissenschaften" werden solle (vgl. Rezension von Rolf Löchel), ist - insgesamt gesehen - sicherlich realistischer als manch einer derzeit noch wahrhaben möchte. Im Sinne des Plädoyers der Literaturwissenschaftlerin Inge Stephan für eine größtmögliche Toleranz innerhalb der gender studies aber sollte man sich nicht länger um Etikettierungen streiten, um Abgrenzungen bemühen, sondern die immer breiter werdende Akzeptanz der gender studies innerhalb der akademischen Landschaft zum Anlass nehmen, alte und neue Ansätze zu verknüpfen, sich weiter zu informieren und dabei größtmögliche Offenheit walten zu lassen. Angesichts all der heterogenen Ansätze, Richtungen und Konzepte, die sich derzeit unter dem Dach 'gender studies' tummeln, sollte man stets versuchen, die eigene Position selbstreflexiv und präzise deutlich zu machen und dabei tolerant zu bleiben gegenüber Vorschlägen und Ansätzen, die von den eigenen abweichen. Alles andere würde einer Selbstdestruktion der gender studies den Boden bereiten.
Im übrigen birgt gerade das spielerische Element, das Judith Butler mit ihrem gender trouble-Konzept propagierte, kreatives Potential (Stichwort: Utopie!). Dieses sollten Gendertheoretikerinnen nicht aus den Augen verlieren (positives Vorbild: die Marburger Erziehungswissenschaftlerin Christina Schachtner, mit der Matthias Franke ein Mail-Interview über Geschlechterdifferenz & Internet geführt hat). Apropos Spiel: Dass sich das 'männliche Geschlecht' derzeit in einer Krise befindet, in der traditionelle männliche Identitäten hinterfragt und neue konzipiert werden müssen, führt übrigens - neben den zahlreichen ernsthaften theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der men's studies - vermehrt zu Produkten, die der Unterhaltungsindustrie geschuldet sind. Neben literarischen Ironisisierungsversuchen und produktiven Auseinandersetzungen wie Thomas Meineckes "Tomboy" mit dem Gender-Trubel, kommt es gegenwärtig vermehrt auch zu Neuerscheinungen wie Rainer Moritz' FrauenMännerUnterscheidungsbuch (vgl. unsere Doppelrezension aus männlicher und weiblicher Perspektive). Sie wollen vor allem eines vermitteln: viel Spaß am gender trouble!