Die Frage nach dem Warum
Michael Köhlmeiers Novelle "Der Tag, an dem Emilio Zanetti berühmt war"
Von André Hille
Jedem seine 15 Minuten Berühmtheit, könnte man sagen. Und zu Zeiten, in denen es noch keine Talkshows gab, noch keine Möglichkeit, diese Berühmtheit über die Massenmedien zu erlangen, musste man auf einen Hochspannungsmast klettern und von oben auf die versammelte Meute hinunterblicken, auf dass sie zu einem aufsehe.
Emilio Zanetti schlägt eines Morgens einen Mann namens Vinzenz Manal völlig ohne Grund halb tot, lässt sich widerstandslos verhaften, entflieht jedoch in einem günstigen Augenblick dem Dorfpolizisten und erklimmt, als dieser ihn verfolgt, ebenjenen 60 Meter hohen Mast. Nun stehen unten 200 Gaffer aus dem Dorf und warten darauf, was passiert. Wird er springen? Wird er sich ergeben? Niemand wagt es, zu ihm hinaufzuklettern, da es zum einen sehr hoch ist und der Obensitzende zum anderen jeden, der versucht zu ihm zu gelangen, mit Kleidungsstücken traktiert.
Die ganze Geschichte wird erzählt aus der Perspektive des zehnjährigen Zill, der den Sommer über mit Emilio in einer kleinen Werkstatt zusammengearbeitet hat. So ist es vor allem die Geschichte einer ungleichen Freundschaft, die hier erzählt wird. Zill bewundert Emilio. Für seine Schönheit, seine Ruhe, seine Arbeitsamkeit. Doch Emilios Aktion bringt das Idealbild, das der Junge von dem großen Freund hatte, sukzessive ins Wanken. Am Ende wird sich der Weg der beiden trennen: Der Zehnjährige wird mit Ausklang des Sommers das Gymnasium in Feldkirch besuchen und auf ein Internat gehen. Er steht am Anfang eines neuen Lebensabschnitts und kann sich, während er zu Beginn damit haderte, nun darauf freuen: "Zugleich war ich voll Freude auf mein Leben. Ich war erst zehn Jahre alt, und ich würde noch viel zu sehen bekommen [...]. Die Angst vor dem Herbst und vor dem Heim war restlos dahin, und ich verstand, was Emilio gemeint hatte, als er sagte, es werde viele Möglichkeiten geben." Während der Junge also an einem Anfang steht, ist Emilio am Ende. Er hat diese widersinnige Tat begangen, sitzt oben auf dem Mast und kommt nicht mehr herunter - Symbol für das vorläufige Ende seines Weges, die Sackgasse.
Das niedergeschlagene Opfer bleibt in seiner Charakterisierung blass. Er ist so flüchtig und lieblos beschrieben, dass einem seine Bedeutungslosigkeit innerhalb der Geschichte geradezu aufgezwungen wird: "Herr Vinzenz Manal war Steuerberater oder etwas ähnliches. Vielleicht war er auch Vertreter, man kannte ihn nicht gut." Diese völlige Vernachlässigung der Beschreibung des Opfers bzw. der Täter-Opfer-Beziehung lenkt den Fokus zusätzlich auf das Absurde und Sinnlose der Tat. Keinerlei Erklärungsansätze, keine Deutungen, keine Fragen nach dem Warum. Die Tat steht da - ganz für sich und erinnert in ihrer Unmotiviertheit an den Mord in Camus' "Der Fremde". Doch im Gegensatz zu diesem Meisterwerk spart Köhlmeier komplexe Fragen wie die nach persönlicher Schuld oder nach der Legitimität einer gesellschaftlich bedingten Moral vollkommen aus. Worum geht es denn dann überhaupt, fragt man sich, da der - übrigens auf einer wahren Begebenheit beruhende - Vorfall nur von seiner Wirkung, nicht von seiner Urasche her geschildert wird. Im Grunde liefert diese brutale Tat nur den Anlass, die Innensicht eines zehnjährigen Jungen auf die Ereignisse und die Reaktionen im Dorf zu schildern. Dies allerdings gelingt Köhlmeier meisterhaft. Er ist ein Autor der Zwischentöne, ihm gelingt es, in kurzen Andeutungen Familienverhältnisse oder Strukturen im Dorf abzubilden, mit wenigen Worten Charaktere und deren Intentionen zu umreißen, ohne dabei jemals ins Klischee zu verfallen.
"Der Tag an dem Emilio Zanetti berühmt war" ist zugleich eine sehr sinnliche Erzählung, voller Schilderungen von Gerüchen, ersten Eindrücken und einer poetischen Beschreibung der Landschaft: Der Alte Rhein, die Alpen, der Bodensee - man merkt dem Autor die Liebe zu dieser Gegend an, in der mehrere seiner Geschichten angesiedelt sind. Die Heimat spricht aus jedem Wort dieser Novelle des aus dem Vorarlberg stammenden Autors.
Das literarische Motiv der anfänglichen Verhaftung erinnert an Kafka und Frisch, der Name der Hauptfigur an Elias Canetti und die ,Tat', wie gesagt, an Camus. So bewegt sich die Geschichte in einem Netz aus Andeutungen, ohne in dieser Hinsicht jedoch explizit zu werden. Allein auf die Weltsicht des zehnjährigen Jungen ist diese Geschichte zugeschnitten. Allerdings bleibt die Erzählstimme etwas indifferent, zerrissen zwischen Sprache und Beobachtungsniveau eines Zehnjährigen und dem Reflektionsvermögen sowie Bewusstseinszustand eines Erwachsenen.
Bleibt immer noch die Frage nach dem Warum? Hat Emilio eine persönliche Rechnung mit dem Opfer offen? Ist er geisteskrank? Der Titel suggeriert - völlig ohne Rückhalt im Text und von daher vielleicht etwas unglücklich gewählt -, dass es die kurze Berühmtheit sein könnte, auf die es die Titelfigur mit seiner Tat angelegt hat. Doch man sollte nicht nach Spuren suchen, wo keine gelegt sind. Vielleicht hat es der Autor ja auch genau darauf abgesehen: Dem Leser diesen unausrottbaren Zwang, nach Gründen zu fragen, zu spiegeln. Sei es durch die verinnerlichte Konvention der Kriminalstory, die immer aufgelöst wird oder das im menschlichen Wesen verankerte Kausalitätsdenken: Man kann nicht anders, als ständig nach Ursachen für diese brutale Tat zu suchen.
Am Ende sagt Emilio zu dem Jungen, der es als einziger bis ganz nach oben auf den Mast geschafft hat: "Das Böse ist, das man nie etwas glauben kann. Weil es unmöglich ist, dass der Mensch unter den massenhaft Gedanken in der einen Zehntelsekunde, in der er zu reden anfängt, genau den herausfindet, der wahr ist. [...] Du sagst etwas und das ist dann gesagt. Und was ist passiert? Nichts. Das ist der Anfang vom Bösen. Und dann sagst du das nächste und das muss mit dem, was du gerade gesagt hast, zusammenpassen, sonst würde ja jeder denken, du bist ein Depp. Aber beim ersten Satz hast du schon unter tausend Sätzen nur irgendeinen genommen, weil du gar keine Zeit gehabt hast, zu prüfen, was die Wahrheit ist und was nicht, [...] und wenn du eine ganze Rede hältst, dann zählen sich die Lügen zusammen."
So ist also ein Satz, der erste Satz, der Anfang alles Bösen und aller Lügen. Das Böse und das Sprechen korrelieren miteinander. Mit dem ersten Wort zwischen zwei Menschen wurde die Ursünde begangen. Seitdem wohnen ihm die Lüge und das Böse inne. Jeder Satz ist eine Lüge und jeder darauf folgende Satz eine noch viel größere. Die Frage nach dem Warum kann und soll nicht beantwortet werden: "Niemand wusste, warum er das getan hatte. Man fand hundert Antworten. Nichts Sicheres blieb am Ende."
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