Gedichte, Gedanken, Ströme
Einige Gedanken zu poetologischen Überlegungen Brigitte Oleschinskis
Von Ron Winkler
Das Gedicht ist Gedankenmedium, Gedankenschauplatz, Raum der Verrichtung von Denken. Das Gedicht im Werden ist Pulsstätte des Prä und Proto, wo das Imago der endgültigen Form katalysiert wird. In diesem bodenlosen Labor greifen sich Gedanken (in) Sprache - Roh- und Rauhsprache, bereits angeklungene Sprache oder bereits fertig vermessene Sprache: wieder ergriffene Stimme.
Die Gedanken sondieren, stöbern und stromern auf der Suche nach den Unterflächen zu den Oberflächen. Wörter flanieren mit anderen Wörtern zu Orten einer Mission - der Transmission.
Das Gedicht ist Drehkörper und Gewinde, ist Operationsgebiet eines Denkens, dem es um Finden und Erfinden geht.
Immer wieder von Anfang an sind die Findewege und -mechanismen zu gehen, zu erfahren, zu vollziehen.
"Reizstrom in Aspik" heißt ein Band, der poetisch-poetologische Gedankenzüge versammelt, die die Dichterin Brigitte Oleschinski in den letzten Jahren unternommen hat. Das Poetische mal um mal inspizierend und dabei insistierend auf Schärfung der Mutmassungen, der Beobachtungen, der Kalkulationen.
"Reizstrom", das zeugt von der zerebralen Maschinerie, die angeworfen ist und wird, Poesie zu erzeugen - zeugt von der Energetik im Denkapparat und dem Energischen der Reize, denen dieser ausgesetzt ist. "Aspik" scheint eine Metapher zu sein für jene entzogene Terra cerebralis, welche Adresse der Reize ist, Eingliederer und Emulgator, Opfer und Operator.
Es ist der Ort, "wo Strudel entstehen, wo aus unzähligen Gewittern einzelne Partikel sich bilden, Klümpchen von Kürzeln und Sedimenten, Formeln also wie flüchtig zusammengespülte Inseln, immer weiter durchströmt".
In Oleschinskis Annäherungen an das Gedicht - das "Gedanken"gedicht - kommen einige der Komponenten und Triebfedern zur Lyrik zum Vorschein. Ihre integralen Worte sind "Funken", "Ticken", "Vibrieren", "Ketten und Reihen", "Zyklen", "Treiben", "Waten", "Abraum", "Denksystem" (aufgelassen), "Halbschlaf", "Bücher", "Thesen", "Collagen", "Obsessionen".
Aus dem "Erkenntnisinteresse" des Dichters wird dieser Vielstrom an Anlässen, Teilhaben und Prozessen, wird dieser einflussreiche Derwischtanz in Poesie verwandelt.
"Gedichte sind eigene Entitäten", sagt Oleschinski. In ihnen, kann man folgern, wird Primäres zu Primärem, eine Wirklichkeit zu einer neuen. Dass das Gedicht denkt, wird nicht behauptet - es wird vorausgesetzt. Es geht nicht um das ob, sondern um das wie des Denkens.
Die Antwort kann keine eindeutige sein. Poesie ist Chiffre mit unterschiedlichen Chiffrierungscodes. Ihr Charakter ist apodiktisch nicht definierbar. Deshalb immer wieder Angänge, poetologische Echolote - vom Statement bis zur Ringvorlesung. Wenn überhaupt kleinste gemeinsame Nenner existieren, dann sind sie es nicht absolut, dann sind sie jedem Autor anders gewichtig.
Poetologie zu betreiben heißt, sich in ein nie ausgewogenes Universum von Fragen und Antworten zu begeben. Brigitte Oleschinskis Unterfangen ist ein solches. Nicht alle Texte des Sammelbands führen jedoch wirklich in die Epizentren des Gedichts. Manche bleiben Gedankenserenaden, poetische Wahrnehmungskollektoren ohne poetologische Mündigkeit. Die meisten der Essays aber - wie auch das Gespräch mit Elke Erb - sind Zirkulare, reflektieren die Poesie fein und ausgreifend, und dies vom eigenen Leben aus. Der Bericht vom wie ist Bericht auch vom wodurch und wohin. Er beleuchtet das Innere, wie es mit dem Äußeren korreliert, koexistieren muss.
"Der Impuls zu Gedichten [ist] eine Art zu atmen, eine Art zu gehen, eine Art sich auszusetzen. Er wendet sich allein den Dingen zu, Materialien und Prozessen, die durch die oszillierenden Körpergrenzen in mich einzutreten scheinen, manche durch offene Türen wie höfliche Gäste, die ihren Namen sagen und Geschenke mitbringen, andere wie ungebetene Eindringlinge, als schrille Bilder und Silben, die roh die Fenster einschlagen, verletzliche Häute zerreißen, alle Nerven bloßlegen."
Die Ahnung, die Protofigur, der Vorgedanke des Gedichts kann sich an vielem entzünden: an einem Augenblick, einer Erfahrung, einer Theorie, einem Gedanken usw. Oder aber an einem Wort, das der Einbettung (oder Herausdrängung) ins interne Lexikon harrt. "Monophagie" sei ein solches Wort für sie gewesen, schreibt Oleschinski, ein anderes "Freßlack". Akzente, die auf Verfügung drängen. "Vor"gesprochenes, welches Sprechen fordert und im poetischen Prozess - mit all seiner Assoziation, Logik oder Verschiebung - zu einem ergänzenden, einem neuen, einem "Weiter"sprechen wird.
Doch nicht alles ist kalkulierbar. Es gibt Widerstände und Widerprozesse - Aufhalte. Für Oleschinski Movens und Thema des Schreibens. Ihr gehe es letztlich um die unverfügbaren Bewegungen. "Die Gedichte versuchen immer, in den Text hinein und wieder hinauszugehen im Blick auf dieses Unverfügbare, auf der Suche nach ihm und zugleich in der entsetzlichen Spannung, daß das Unverfügbare tatsächlich unverfügbar ist."
Auch dies ein Motor. Das Unverfügbare kann im (ver-)strebenden poetischen Akt der Dichtung dessen Auftrag sein, der Stein des Sisyphos, den man sich freiwillig aufbürdet. Etwas, das nicht zu tilgen ist, souffliert durch die Poesie. Für sich selbst zieht Brigitte Oleschinski den Schluss: "Die Gedichte sollten nichts als den Blick freigeben auf etwas Gleichzeitiges inmitten aller Bedingtheit, einen immer anwesenden, anderen, gegenläufigen Moment."