Tristan und Isolde im Fahrstuhl

Jürg Acklins Roman "Defekt"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Alptraum wird für zwei Personen zur Realität. Sie sitzen als Gefangene in einem defekten Fahrstuhl, Paul Dujardin - aus der Bahn geratener Psychoanalytiker - und seine Therapeutin Julia Beer. Diese Eingangskonstellation erinnert an den Kinofilm "Abwärts" mit Götz George aus dem Jahr 1984, doch Jürg Acklins Blick geht viel weiter, reicht in die Untiefen der Seele, in die Sphäre des Unterbewussten und Verdrängten.

In Paul erwacht angesichts der prekären Lage schnell der männliche Beschützerinstinkt. Er schiebt alles auf einen technischen Defekt, beruhigt seine innerlich aufgebrachte Therapeutin, die dadurch noch aggressiver und schließlich sogar handgreiflich wird, weil sie die von ihr propagierte Abstinenz (die Distanz zwischen Therapeut und Patient) plötzlich gefährdet sieht. Abrupte Stimmungswechsel prägen die Zweisamkeit auf engem Raum, Hoffen und Bangen, Angst und kaum zu erklärender Überschwang wechseln einander ab. Wahrscheinlich wird all das dadurch ausgelöst, dass sich der Fahrstuhl immer wieder in Bewegung setzt, mal hoch, mal runter fährt und sich zwischen den Etagen auch wie von Geisterhand die Türen öffnen.

Der Glaube an einen technischen Defekt schwindet relativ rasch. Stattdessen hegt Paul den Verdacht, dass sein ehemaliger Patient Felix Berger hinter der Sache stecken könnte, ein junger, hochintelligenter Informatiker mit einem diffizilen psychischen Defekt. Dieser Patient hatte Paul Dujardin an den Rand der Verzweiflung, zur vorübergehenden Aufgabe seiner Praxis, zur "Verwahrlosung aus Notwehr" und schließlich in Julias Behandlung getrieben.

Je tiefer man in Acklins Text eindringt, um so stärker wird der Eindruck, dass es von Defekten psychischer Art nur so wimmelt. Wie anders ist es zu erklären, dass es im Fahrstuhl plötzlich zu heftigem Sex kommt? Peu à peu liefert Acklin kleine Mosaike, die sich der Leser zu einem Gesamtbild zusammenpuzzeln muss. Paul öffnet sich Julia schonungslos, bricht seine Schweigepflicht und erzählt ihr von seiner Begegnung mit Felix Berger. Zwischendurch schläft die Therapeutin ein und Paul schweift in seinen Erinnerungen weit zurück, versucht sich zu vergegenwärtigen, was ihn aus der Bahn geworfen hat.

Der Tod seines Vaters, eine von Acklins stärksten Passagen dieses Buches, die auf der retrospektiven Ebene eingeflochten ist, könnte eine Zäsur im Leben bewirkt haben, oder war es doch einzig die Begegnung mit dem Patienten Berger, der ihn mit vorgehaltener Waffe zum Rollentausch zwang, ihn erniedrigte und später per Post mit Sexartikeln belästigte?

Ganz nach Henrik Ibsens Motto "Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten" liest sich dieses Buch, das vom Verlag als Roman annonciert wurde, aber alle klassischen Merkmale einer Novelle präsentiert. So vielschichtig wie die menschliche Seele lässt sich auch Acklins "Defekt" deuten. Es gibt keine vordergründigen Wahrheiten, der Reiz liegt im Verborgenen, denn der Psychoanalytiker Acklin gewährte dem Schriftsteller Acklin wichtige Hilfestellungen. Der Leser wird hin- und hergerissen zwischen verschiedenen Erzählebenen, zwischen der bedrückenden Enge im Fahrstuhl, den halbtherapeutischen Dialogen der beiden Analytiker, die sich immer stärker gegenseitig offenbaren und den Erinnerungen, die als Synthese aus Realität und traumatischem Wahn daher kommen. Hat Paul Dujardin wirklich auf seinen Patienten Berger geschossen? Oder war es nur ein Wunschtraum, sich dieser personifizierten Obsession zu entledigen?

Schon relativ früh mehren sich beim Leser Zweifel an der Identität Felix Bergers, denn Dujardins diesbezügliche Nachforschungen werden alle negativ beschieden. Statt dessen wächst in Julia die innere Anspannung, je mehr Details sie aus der Vita des vermeintlichen Berger erfährt. Sie steigert sich geradezu in eine Hysterie, als aus den Lautsprechern des Aufzugs immer wieder "Tristan und Isolde" erschallt.

Wie bei Richard Wagner gibt es auch bei Jürg Acklin ein tödliches Ende, und hier wie dort ist die leidenschaftliche sexuelle Begierde das zentrale Motiv. Irgendwann bleibt der Fahrstuhl stehen, die Tür öffnet sich, von draußen fällt ein Schuss, später ein weiterer, und eine der drei Personen verlässt den Schauplatz und befindet: "Die Welt ist wieder in Ordnung." Um die Spannung zu erhalten, dürfen weitergehende inhaltliche Details nicht verraten werden.

Wie gut, dass das Gewicht literarischer Werke nicht auf der Waage entschieden wird. Dieses Büchlein von nicht einmal 130 großzügig bedruckten Seiten wirft nämlich mehr Fragen auf, stellt größere Herausforderungen und gewährt tiefere Einblicke in die menschliche Psyche als so mancher opulente Roman. Jürg Acklin ist auf der literarischen Kurzstrecke ein großer Wurf gelungen.

Titelbild

Jürg Acklin: Defekt.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2002.
128 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3312002907

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